Kapitel 22

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Nach einer Weile wurde mir klar, wo er mich hinbrachte.

"Wieso gehen wir in dein Zimmer?", wollte ich von ihm wissen, doch bekam keine Antwort. Als er die Tür aufschloss, zögerte ich.

Vincent sah mich an. "Ich möchte mich einfach nur da mit dir unterhalten. Wenn du das nicht möchtest, dann sag es."

Ich stand einfach dort und wusste nicht, ob ich es wagen sollte, dort hinein zu gehen. Aber Ängste waren da, um sie zu überwinden. Also trat ich hinter Vincent ein, vorsichtig und langsam, als wenn mich gleich einer Überfallen könnte. Vor Angst hatte ich bereits eine Gänsehaut, versuchte aber, mir nichts anmerken zu lassen. Es sah alles noch so aus, wie in der letzten Nacht, als ich in diesem Zimmer gewesen war.

"Du kannst dich setzen, wo du willst", sagte er und deutete auf alle möglichen Plätze. Ich wählte einen kleinen Sessel, der vor einem Sofatisch stand. Er war erstaunlich bequem, obwohl er nicht so aussah. Der Stil des Raumes war eher modern und alles war in Weiß- oder Schwarztönen gehalten. Vincent ging zu einer Art Bar, die in der Ecke des Zimmers war. "Möchtest du etwas trinken?" Ich verneinte. Man musste ja nicht alles wiederholen, was in dieser einen Nacht geschehen war. Es war schon genug, dass wir zusammen in einem Zimmer waren. Vincent füllte sich Vodka und Cola in ein Glas, dass ziemlich teuer aussah, und setzte sich auf einen Sessel gegenüber von mir. "Spielen wir jetzt Wahrheit oder Wahrheit?"

"Was soll das sein?", lachte ich.

"Naja, genau das gleiche, wie Wahrheit oder Pflicht, nur dass es keine Pflicht gibt", bekam ich als Antwort.

Ich war kurz davor, mir die Hand gegen den Kopf zu hauen. Auf die Idee hätte ich auch selbst kommen können, aber ich war wohl zu blöd gewesen. "Ähm, okay...", sagte ich nur. Die Antwort bereute ich sofort danach, denn ich wusste, dass man dazu verpflichtet war, auch wirklich die Wahrheit zu sagen. Er könnte mich alles fragen und ich müsste ehrlich sein.

"Gut, du fängst an zu fragen", lächelte er und nahm einen Schluck von seinem Getränk. Er trank es, als wäre es Wasser. Nicht einmal sein Gesicht verzog er, so wie ich es getan hätte. Vodka schmeckte einfach nicht, genauso wie jeder andere Alkohol auch.

Ich brauchte lange, um mir eine geeignete Frage zu überlegen. Ich wollte nicht zu persönlich werden, denn dann würde er es mir nachtun. "Was ist deine Lieblingsfarbe?"

Er grinste. "Eine bessere Frage gibt es nicht?"

"Das ist nun mal die Frage, also antworte bitte", sagte ich streng. Wenn er spielen wollte, dann auch richtig.

"Rot. Es erinnert mich an den Teufel."

Ein Schauer lief mir über den Rücken. "Okay, du bist dran", versuchte ich unbeeindruckt zu sagen. Dann strich ich mir mit der Hand eine Strähne aus meinem Gesicht.

Vincent nahm wieder einen Schluck, um die Zeit zu überbrücken, in der er nachdachte. "Wie groß bist du?" Mein Plan schien geklappt zu haben, denn er ging nicht auf meine Vergangenheit ein.

"165 Zentimeter", lachte ich.

"Wow, du bist fast ein Zwerg. Aber das ist mir vorher auch schon aufgefallen", sagte er und grinste. "So, dann bist du an der Reihe."

Ich hatte schon seit der letzten Frage überlegt, was ich nun fragen würde. Es brachte nichts, nicht auf die wichtigen Dinge einzugehen. Ich wollte doch auch unbedingt wissen, wieso er so war, wie er war. Ich wollte auch, dass er mir Dinge anvertraute, die sonst niemand wusste. "Wo bekommst du deine Drogen her?", erkundigte ich mich also ganz mutig.

Seine Miene verzog sich und es kam ein Ausdruck zustande, den ich nicht deuten konnte. "Wieso möchtest du das wissen? Willst du auch welche nehmen."

"Nein", gab ich zurück. "Aber du sollst antworten und keine Gegenfragen stellen."

Er verdrehte die Augen. "Vielleicht war das hier doch keine gute Idee."

"Jetzt willst du wegen einer Frage abbrechen? Du hast das hier doch vorgeschlagen", sagte ich wütend. Ich stand auf und wollte gehen. Es war mies von ihm. Ich hatte überlegt, mich ihm anzuvertrauen und er kann nicht mal eine Frage beantworten, obwohl er sich denken konnte, dass es dazu kommen würde. Vincent war ein Idiot. Ich hätte wissen müssen, dass es ihm nur um seine Bedürfnisse ging.

Ich stand schon an der Tür, als ich ihn hörte, wie er anfing zu murmeln. "Ich bekomme sie von einem anderen Dealer, um sie dann weiterzuverkaufen. Statt Geld springen für mich Drogen dabei raus. Und ganz ganz selten bin ich auch an dem Ort, an dem sie produziert werden."

Ich erstarrte. Er dealte? Damit hatte ich nicht gerechnet. Er musste doch genug Geld haben, um sich einfach welche zu kaufen. Aber so machte er sich doch strafbarer als er müsste.

"Wieso bist du von Zuhause weggegangen?"

Ich war immer noch erstarrt, aber ich hörte, wie er sich auf seinem Sessel zu mir drehte. Meine Lippen bebten, als ich meinen Mund öffnen wollte. Er hat etwas gesagt, jetzt musst du etwas sagen, flüsterte die Stimme in meinem Kopf. "Ich", fing ich an. Ich konnte ihm dabei nicht in die Augen sehen. Komm schon, es ist wie ein Pflaster abreißen. Es ist nicht so schmerzvoll, wenn du es schnell machst. "Ich wurde vergewaltigt."

Danach herrschte Totenstille im Raum. Vincent wusste anscheinend nicht, was er sagen sollte. Ich wollte mich immer noch nicht zu ihm umdrehen. "Ich habe mir schon gedacht, dass es so etwas gewesen sein wird, aber ich wollte es nicht wahrhaben", sagte er ganz leise, so dass ich es gerade noch hören konnte. "Es tut mir so unglaublich leid für dich", fügte er einfühlsam hinzu.

"Es braucht dir nicht leid zu tun", sagte ich und schluchzte. Mal wieder hatten Tränen meine Augen gefüllt und kullerten nacheinander über meine Wangen, um dann auf den Boden zu tropfen.

"Ich möchte dir einfach zeigen, dass nicht jeder Mensch so ist wie der, der dir das angetan hat", sagte Vincent. "Aber dazu musst du mir wirklich vertrauen und jeden Schritt mit mir gehen, auch wenn es dir mal nicht gefällt... Nur ich weiß nicht, ob es meine Welt ist, in der du Leben willst." Noch immer starrte ich nur gegen die Tür und lauschte. "Ich nehme Drogen, weil mein Vater mich nicht genug beachtet. Er soll sehen, dass es mir nicht gut geht, dass gebe ich zu. Aber Drogen machen eine Menge Probleme. Sie haben nicht nur Nebenwirkungen wie den Rausch, sondern auch schlechte Freunde. Und ich will nicht so egoistisch sein und dich damit reinziehen, obwohl du es nicht willst. Es wäre nicht deine Welt, Sofia. Allerdings kann ich dich, seitdem du hier bist, nicht aus den Augen lassen. Seit du das erste Mal morgens in mein Auto gestiegen bist, hat sich ein Beschützerinstinkt bei mir gebildet. Ich will, dass du bei mir bist. Aber die Entscheidung liegt ganz bei dir."

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