"Sofia, jetzt warte doch mal", rief Josh mir hinterher, als ich immer noch rannte.
Es waren erst ein paar Sekunden vergangen, seitdem ich Vincent eine Backpfeife verpasst hatte und ich spürte die Schmerzen an meiner Hand immer noch. Auf Joshs Aufforderung hin blieb ich stehen. Das erste was ich tat, war meine gerötete Hand betrachten. Ich war so eine Idiotin. Ich hatte ihn mir zum Feind gemacht.
"Hey, was war das denn eben?", wollte er nun von mir wissen, als er nur noch ein paar Schritte von mir entfernt war. Sein Gesichtsausdruck schien besorgt. Normale Menschen würden wahrscheinlich erst einmal fragen, ob es mir gut ginge, doch mir ging es offensichtlich nicht gut. Trotzdem weinte ich zu meiner eigenen Überraschung nicht.
"Ich habe keine Ahnung, was Vincent für Probleme hat. Er wollte mich wohl einfach provozieren", gab ich zur Antwort und blickte Josh in die Augen. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie aus einem leuchtenden Grün bestanden, welches einen fast magisch anzog.
Dann riss er mich wieder in die Realität. "Darf ich wissen, was er meinte?"
Ich verneinte und begann zu gehen. "Komm mit", forderte ich ihn auf und betrat mit ihm die leere Lobby, von wo aus wir in den Außenbereich traten.
Mit einer kleinen Geste bat ich ihn, auf einer Liege am Pool platz zu nehmen. Der Pool war nachts abgesperrt, damit ja keiner auf die Idee kam, ohne von einem Bademeister, der jetzt Vincent zu sein schien, beobachtet zu werden, schwimmen ging. Kurz fragte ich mich, wie es dazu kam, dass Vincent nun Bademeister war, aber die Frage verflog auch schnell wieder.
"Es ist schön, wie der Mond das Wasser zum glitzern bringt, findest du nicht?", fragte mich Josh und flüsterte dabei fast, um die Stille nicht zu unterbrechen.
Ich hatte mich auf der Liege ihm gegenüber niedergelassen und konnte nur zustimmen. "Ja. Genau aus dem Grund bin ich nachts öfters draußen. Es beruhigt mich irgendwie." Noch nie hatte ich mit einem Jungen über so etwas geredet. Es war schon ein komisches Thema, aber ich ließ mich einfach darauf ein.
Er nickte verständnisvoll. "Kannst du nachts nicht schlafen, oder wieso gehst du raus?"
"Es kommt selten vor, aber manchmal kann ich es wirklich nicht. Aber lesen ist im Moment nicht so mein Ding, deswegen gehe ich raus", erzählte ich. "Das ist aber auch erst so, seitdem ich hergezogen bin. Vorher war ich meistens bei Freunden und habe deswegen nicht wirklich einen Fuß nach draußen gesetzt. Es wäre immerhin komisch gewesen, wenn sie aufwachen und ich auf einmal verschwunden bin."
Josh blickte schließlich mit seinen grünen Augen auf die silberne Armbanduhr, die er trug, und machte den Mund auf, um etwas zu sagen. Dann entschied er sich aber doch, den Satz anders zu beginnen. "Tut mir wirklich leid, aber ich denke, ich muss aufs Zimmer, zu meinen Eltern. Du weißt bestimmt, wie das ist, wenn die sich zu viel um einen Sorgen", murmelte er und sah mir noch einmal in die Augen.
Ich wusste zu gut, wie es war, wenn sich die Mutter um einen sorgte. Von meinem Vater hatte ich das nie erfahren.
"Ist gut", sagte ich. Dann bekam ich das Gefühl, ich müsse noch mehr sagen, aber da zog er schon einen Schnipsel Papier aus seiner Hose, auf der ein paar Zahlen standen. Er musste diesen extra vorbereitet haben.
"Schreib mir." Josh lächelte mich an, als ich den Schnipsel entgegennahm.
Als er jedoch nicht aufstand und auf irgendetwas zu warten schien, sagte ich schnell: "Ich schaffe es allein zurück."
"Aber lass dich nicht von dem Idioten aufhalten", merkte er an.
"Ganz sicher nicht."
Dann stand er auf, wandte sich von mir ab und verschwand nach einigen Schritten wieder in der Lobby und ging in den Westflügel.
Ich saß noch eine ganze Zeit dort, auf der Liege. Meine Gedanken schwirrten nur so umher und ich spürte die Schmerzen meiner Hand umso mehr, da ich keine Ablenkung mehr hatte. Ich fand nicht die Kraft, aufzustehen und die Zeit lief und lief. Meine Mutter wartete wahrscheinlich schon ungeduldig, doch ich konnte mich wirklich nicht aufrappeln. Meine Gedanken waren hauptsächlich beim heutigen Abend. Camille war so ein unfreundlicher Mensch und die Schlauste war sie auch nicht. Wahrscheinlich hatte Vincent mit mir genau darüber reden wollen, dass ich sie "beleidigt" hatte, aber genau das hatte sie mir gegenüber doch auch getan. Und dann mit meinen Geheimnissen anzufangen, nur um mich dazu zu bewegen, still zu sein, war extrem frech von ihm.
Ferner fiel mich auch wieder die Geschichte ein, die ich über Vincent erzählen wollte. Sie handelte von einer Nacht im September, ungefähr einen Monat nachdem ich hergezogen war. Damals kannten Vincent und ich uns nur flüchtig, da ich zu dieser Zeit noch von meiner Mutter zur Schule gefahren wurde. Es war wieder eine Nacht, in der ich kein Auge zubekam und hinaus ging, um frische Luft zu schnappen. Ich war am Pool entlangspaziert, auf dem Weg zum Meer. Der Pool hatte ungefähr so geglitzert, wie er es jetzt gerade tat. Es waren bestimmt noch zwanzig Grad Außentemperatur gewesen und es war absolut windstill. Aber bis zum Meer kam ich gar nicht. Ich war am Pool gewesen, als ich ein leises stöhnen hören konnte. Der Mond war nicht so hell, dass ich die Person auf der anderen Seite hätte erkennen können. Ich hatte einige Augenblicke gezögert, dann war ich vorsichtig hinüber gegangen. Immer auf der Hut, kam ich der Person näher. Immerhin hätte es sonst jemand gewesen sein können. Beim näherkommen erkannt ich jedoch Vincents verwuschelte Haare. Ich machte die Taschenlampe meines Handys an und sprach ihn an. Von dem Licht schien er sich geblendet zu fühlen, denn er hielt reflexartig die Hände vor die Augen. In diesem kurzen Moment konnte ich jedoch seinen geröteten Augen sehen. Da er mir nicht antwortete, aber auch nicht nach Alkohol roch, war mir klar, er hatte Drogen genommen. Ich wusste nicht was für welche, so gut kannte ich mich mit dem Zeug nicht aus. Dann ging ich an den Pool heran, schlüpfte unter der Absperrung hindurch und formte meine Hände zu einer Schale, um sie dann in das kalte Wasser zu senken. Als ich Vincent dieses über sein Gesicht goss, war ich auf alles gefasst, aber er stöhnte nur benommen. Der nächste Schritt hatte mich einige Überwindung gekostet. Schon lange hatte ich keinen Jungen mehr angefasst, doch dieses Mal war es notwendig. Ich zog an seinem Arm, um ihn aufzusetzen. Ich weiß noch genau, dass ich ihm gesagt hatte, er müsse jetzt ein wenig mithelfen und genau das tat er. Er schaffte es schließlich, sich selbst hinzustellen, wenn auch wackelig, und seinen Arm über meine Schulter zu legen. Dann schaffte ich es irgendwie, ihn bis zu seinem Zimmer zu hieven. Bei meinen Erkundungstouren durch das Hotel hatte ich ihn des Öfteren dort hingehen sehen und war mir ziemlich sicher, dass es seines war. Die Schlüsselkarte, die ich mühsam aus seiner Hosentasche gekramt hatte, bestätigte dies, indem sie mit einem klicken die Tür öffnete. Ich hievte Vincent zu seinem Bett, dass in einem anderen Raum stand. Zeit, seine Suite zu bewundern, ließ ich mir nicht. Ich legte ihn also auf sein Bett, zog ihm noch die Schuhe aus und platzierte die Karte auf seinem Nachtschrank. Dann löschte ich das Licht und zog die Tür hinter mir zu.
Bis heute bezweifle ich, dass er sich erinnern kann. Auch nicht, nachdem ich es vorhin angedeutet hatte. Natürlich wird er sich gefragt haben, wie er in sein Bett gekommen war, aber wahrscheinlich hatte er sich ausgemalt, er hätte es alleine geschafft.
Langsam schaffte ich es doch, mich aufzurappeln und mich auf den Weg in mein Zimmer zu machen. Ich öffnete die Tür leise und sah schon, dass meine Mutter auf dem Sofa eingeschlafen war. Genauso leise wie ich sie geöffnet hatte, schloss ich die Tür. Dann tapste ich in mein Zimmer und ließ die Tür auf, damit meine Mutter sehen konnte, dass ich Zuhause war. Das war sonst eigentlich nicht der Fall. Ohne mir einen Schlafanzug anzuziehen, legte ich mich in mein Bett und schlief nach wenigen Augenblicken ein.

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Why
RomanceSofia Castillo hat in ihrer Vergangenheit schreckliches erlebt. Aufgrund dessen ist sie leicht zu verängstigen und bekommt schnell Panikattacken. Sie versucht dies in den Griff zu bekommen, doch immer wieder kommt ihr Vincent in den Weg, der versuch...