„Wie bist du gestorben?", fragte er, wie er es schon in der Grabstätte getan hatte.
„Ich weiß es nicht", antwortete sie nachdrücklich. Sie wollte es im Grunde auch gar nicht wissen. Wer wollte sich schon an seinen Tod erinnern? Für ein Medium war es vielleicht eine der wichtigsten Fragen, doch für einen Geist war es ein unangenehmes Ereignis.
„Kannst du dich an etwas anderes aus deinem Leben erinnern?"
Sie horchte in sich hinein, aber ihr antwortete nur Leere.
Es schien tatsächlich nicht viel von der Frau, die sie einst gewesen war, übrig geblieben zu sein und sie fragte sich, ob alles verloren oder nur verschüttet war. Der Gedanke löste nicht mehr als Gleichgültigkeit in ihr aus.
Ob es bei allen Geistern so war, die nicht von Wut angetrieben wurden?
Es war die Wut gewesen, die sie sich hatte lebendig fühlen lassen, als sie noch in der Grabstätte gewesen war. Ihre einzige Verbindung zum Leben. Doch selbst das war verschwunden.
Sie horchte tiefer in sich hinein und schenkte den Worten des Mannes keine Beachtung mehr.
Mildred glaubte eine Art Wut gefunden zu haben, doch sie war anders als jene, die sie in der Grabstätte gefühlt hatte. Schwächer und eher aus Angst geboren. Der Wald und der Mann vor ihr verschwammen vor ihren Augen.
Mildred schaute auf die Frau die neben ihr am Bett saß und glaubte innerlich zu verbrennen. Ihre Gedanken waren verworren und es dauerte mehrere Augenblicke, bis Mildred sie zuordnen konnte.
Selena saß bei ihr, ihre Schwiegermutter.
Für einen Moment hatte sie gehofft, fast geglaubt, dass ihre Mutter bei ihr war und sich um sie kümmerte.
Doch ihre Mutter war weit fort und sie hatte sie seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gesehen.
Selena gegenüber verspürte sie ein tiefes Misstrauen und Verärgerung. Zwar kümmerte ihre Schwiegermutter sich um sie, legte ihr einen feuchten Lappen auf die Stirn, doch sie wusste, dass sie es nicht aus Mitgefühl tat. Selena stand niemals hinter ihr und hatte sich eine andere Ehefrau für ihren Sohn gewünscht. Mildred wurde geduldet, da sie die Abmachung zwischen den Familien nicht mehr hatte rückgängig machen konnten.
„Schlaf jetzt", sagte sie mit fast schon sanfter Stimme. „Du musst dich schonen."
Mildreds Misstrauen war zu groß, als dass sie dieser Aufforderung nachkommen konnte. Sie fürchtete zudem die Dunkelheit, der sie alleine nichts entgegen zu setzen hatte.
Nach einigen Momenten tauchte ein andere Gesicht über auf. Ein Mann, mit schmalen, dunklen Augen schaute auf sie herab. Seine langen Haare hatte er zu einem Zopf zusammen gebunden. Er sah müde aus und seinem Gesicht spiegelte sich Sorge um sie.
„Wie geht es ihr?", fragte er mit sanfter Stimme, ohne den Blick von ihr zu wenden.
„Sie ist unruhig. Sajan, du solltest nicht so nahe bei ihr sein. Du könntest sonst ebenfalls bald betroffen sein", sagte Selena mit ehrlicher Sorge in ihrer Stimme.
„Mutter, du kümmerst dich doch auch um sie. Du brauchst eine Pause, ich werde eine Weile bei ihr bleiben."
Seine Stimme klang freundlich, aber er würde keinen Widerspruch dulden. Sie war in seinem Haus.
Kurz danach strich er ihr über den Kopf und mit verschleiertem Blick schaute sie zu ihm auf.
„Es wird alles gut", sagte er beruhigend. „Ruh' dich etwas aus, in Ordnung? Ayoka geht es gut, sie spielt mit ihren Freunden."
Er nahm sie in die Arme und begann leise zu summen. Endlich schloss Mildred die Augen. Ihrer Tochter ging es gut. Sie war beschützt und würde sie hoffentlich niemals so sehen.
Ayoka.
Sie hörte noch lange Sajans Summen, während sich langsam Dunkelheit um sie herum ausbreitete. Doch sie hatte keine Angst mehr, er war an ihrer Seite.
Mildred blinzelte ein, zwei mal und schaute in das Gesicht des Sprechers.
Sajan.
Der Name löste eine chaotische Flut an Erinnerungen und Gefühlen aus, die sie für einen Moment überwältigten.
Er war derjenige, dem sie vertrauen konnte. Der Gedanke an ihn ließ sie fast lächeln. Doch ebenso schnell wie es gekommen war, war es auch schon wieder vorbei.
War das gerade ihr Tod gewesen? Ihre letzte Erinnerung?
Es fühlte sich unvollständig an.
Sie versuchte noch einmal nach der Erinnerung zu greifen, herauszufinden was genau sie gefühlt hatte, doch sie verblasste bereits wieder. Die Personen, die sie vor ihrem inneren Augen sah, waren Fremde, ebenso wie sie selbst.
„Ich hatte einen Mann, Sajan. Und ich war krank. Ich denke ich hatte Fieber." Selbst in ihren Ohren klang sie gleichgültig.
Egal wie sehr sie versuchte die Leere mit Gefühlen zu füllen, es wollte ihr nicht gelingen. Sie konnte keine emotionale Verbindung zu ihrer schwindenden Erinnerung aufbauen.
War es das, was der andere mit „Echo" gemeint hatte?
„Warum bin ich hier?", fragte sie erneut, erwartete aber keine Antwort von ihm.
„Vielleicht hast du noch etwas zu erledigen? Nicht jeder Geist ist auf Rache aus."
„Ich hatte eine Tochter, Ayoka", stellte sie fest. Hatte sie ihre Tochter im Stich gelassen und das war es, was sie wiedergutmachen musste?
„Ich möchte zurück!", sagte sie bestimmt und wies auf den Ring.
Das dunkle Nichts, mit seiner Zeitlosigkeit und den langsamen, verschwommenen Gedanken war der verwirrenden Welt der Lebenden vorzuziehen.
________________________________________________________________________________
Edit: Wieder ein paar Namen, für diejenigen, die es interessiert.
Sajan: Der Liebevolle, der Glückliche
Ayoka: die, die allen Freude bringt
Selena: Der Mond/die Mondgöttin, das Licht
DU LIEST GERADE
Das letzte Echo
FantasyEine menschenfeindliche Welt, voller Schatten und Dämonen. Ein Geist ohne Erinnerung, mit zerstörerischer und unkontrollierbarer Magie. Und zwei Krieger, in einem ewigen Kampf gegen die Dunkelheit. Auf der Suche nach ihrer Erlösung und ihrer Vergang...