Kapitel 1: Das erste Licht

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Mit der Zeit hatten ihre Gedanken an Klarheit gewonnen. Ihre Vergangenheit blieb zwar immer noch hinter einem dichten Schleier verborgen, sie wusste nicht wer sie war, dennoch fühlte sie sich nicht mehr so verloren, wie direkt nach ihrem Erwachen.

Mildred hatte akzeptiert, dass sie ihre Erinnerungen verloren hatte und konnte damit gut leben.

Ihre Umgebung war ihr ein Zuhause geworden, sie kannte jeden Winkel hier und hatte nicht lange gebraucht um zu verstehen, wo sie nun lebte.

In den größeren Räumen reihte sich ein Marmorsarg neben dem anderen. Nischen beherbergten verzierte Urnen mit der Asche ihrer Vorfahren.

Verstaubt standen Gefäße mit Sand und Überresten von Räucherstäbchen und Harzen vor einer riesigen Götterstatue, deren Namen sie nicht mehr kannte.

In ihren ruhigeren Momenten rief ihre Umgebung ein Gefühl der Vertrautheit hervor. Der Geruch von Weihrauch und Rosmarin, Trauer, Einsamkeit, eine respektvolle Stille und Ehrfurcht. Die stärksten Gefühle in dieser Gruft waren allerdings Verlust und Angst.

Sie konnte sich vorstellen oft hier gewesen zu sein, um die Toten zu beerdigen, für ihr Wohlergehen im Jenseits zu beten, sie für Gespräche zu besuchen.

Dennoch nagten oft Zweifel an ihr. War dies tatsächlich ihre Familiengruft? Mildred hatte jeden Namen auf den Särgen und den Metallplatten an den Nischen gelesen, doch keiner war ihr bekannt vorgekommen, hatte Erinnerungen in ihr wach gerufen. Es waren Fremde.

Vielleicht war es aber auch für ihr neues Leben notwendig gewesen, einen Teil der Leere mit sich zu nehmen und das was sie einst gewesen war zurück zu lassen. Ein Tauschgeschäft.

Seit die Grabräuber sie geweckt hatten, hatte sie kaum mehr Kontakt mit anderen Menschen gehabt. Niemand war gekommen, um das Wohlergehen der Geister im Jenseits sicherzustellen, sie zu besänftigen. Weder wurden Opfer dargebracht, noch wurden Kräuter und Harze verbrannt, damit die Verstorbenen das Jenseits nicht wieder verließen und die Lebenden heimsuchten.

Mildred konnte keine dieser Aufgaben erfüllen, etwas fehlte ihr.

Der Gott schaute ohnehin gleichgültig auf die Särge und auch auf sie hinunter. Er ließ sich nicht zu einer einzigen Antwort auf ihre vielen Fragen herab. Es erschien ihr auch absurd, dass er gerade sie beachten sollte. Warum sollte ein solch mächtiger Gott sich um eine einzelne Person kümmern? Warum gerade ihr, Mildred, Fragen beantworten?

Sie war zu dem Schluss gelangt, dass sie vor ihrem Erinnerungsverlust wohl keinem Glauben angehört hatte. Vielleicht antwortete ihr der Gott aus diesem Grund nicht. Er wusste, dass sie genauso wenig von ihm hielt, wie er offenbar von ihr und dieses Arrangement schien für beide akzeptabel zu sein.

Nichtsdestotrotz hatte sie eine Aufgabe für sich hier unten gefunden. Es kamen vielleicht keine Verwandte mehr, um der Toten zu gedenken, doch von Zeit zu Zeit drangen Grabräuber in diese Grabstätte ein. In der Verteidigung dieser Anlage hatte sie ihre Bestimmung gefunden.

Der Zorn schien jedes Mal die Kontrolle über ihr Wesen zu übernehmen und zuerst hatte sie dies beunruhigt. Doch sie hatte schnell die Vorteile erkannt und sich mit der Zeit daran gewöhnt. Eine latente Wut war ihr ständiger Begleiter, ihr zweites Ich geworden. Wer auch immer sie vorher gewesen war, nun war sie die Hüterin der Gruft. Ein wenig rechtschaffener Zorn wäre da sicher nicht unangemessen.

Doch Mildred war die meiste Zeit für sich alleine und hatte dies genutzt um ihr neues Zuhause besser kennen zu lernen.

Erst vor wenigen Tagen - oder waren es Wochen gewesen? - hatte sie einen Weg an die Oberfläche gefunden.

Das letzte EchoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt