„Wann können wir endlich zu ihr?", frage ich den Polizisten ungeduldig. Wir haben nicht einmal die Gelegenheit gehabt uns nach Cassandra zu erkundigen, als die Polizei das Krankenhaus betrat und auf die Erlaubnis des Arztes Cassandras Zimmer betraten. Es gibt viele Fragen zu klären, in ihren Augen. Für uns alle ist die Antwort ziemlich simple und schockierend; Cassandras Vater ist aufgetaucht, beide geritten in einen Streit und ihr Vater schoss auf sie. Ihr gelang es an die Pistole zu kommen und ihren Vater zu töten. Selbstverteidigung. Bei der sie beinahe ums Leben gekommen ist. Von dem Arzt zu hören, dass es ihr soweit gut geht, hat unsere Laune nicht verbessert, aber um Welten erleichtert.
„Sie können gleich zu ihr. Geben sie meinen Kollegen noch ein paar Momente Zeit!"
„Ein paar Momente?", frage ich fassungslos. „Sie sind schon seit vielen Minuten da drin! Wir wollen unsere Freundin sehen."
Ich will meine Freundin sehen. Ich will ihr sagen, wie leid es mir tut, sie in meine Arme nehmen und ihr sagen, dass ich sie liebe. Und dann irgendwo mit ihr hin verschwinden, weit weg von diesem Chaos.„Jim, du solltest den Polizisten nicht anschreien", lehrt mich Milo und zieht mich beiseite zu den anderen.
„Sie ist beinahe in meinen Armen gestorben! Denkst du, da bleibe ich ruhig?"
Vorsichtig drückt mich Milo auf den Stuhl und setzt sich neben mich. Mit den Augen blickt er zu Boden.
„Ich verstehe dich, Jim! Aber diesen Mann anzuschreien, wird das nicht rückgängig machen", erwidert Milo ruhig und blickt zu mir auf. „Das was geschehen ist, war schrecklich, aber Cassandra lebt und sie wird wieder fit. Mach dir keine Sorgen, Kleiner!"
Mit einem Mal höre ich schwere Schritte und zwei Polizisten kommen in unsere Richtung.„Wir haben alle Informationen, die wir benötigen!"
Sofort stehe ich auf und eile zu den Polizisten.
„Können wir nun zu ihr?"
Der eine Polizist dreht sich zu mir. Kurz betrachtet er mich, bevor er mit den Kopf schüttelt.
„Ich fürchte, das wird nicht möglich sein!"Stirnrunzelnd rätsle ich über die Bedeutung der Worte.
„Was bedeutet das?", hakt Lola neben mir nach. Auch sie scheint sichtlich verwirrt zu sein. Der Polizist kratzt sich am Kopf, schaut flüchtig zu seinem Kollegen, bevor er uns antwortet.
„Sie hat sich vor wenigen Minuten entgegen des Arztes Rates aus dem Krankenhaus entlassen und ist mit ihrem Bruder gegangen", erklärt der Polizist, bevor er mir einen Umschlag reicht.„Das ist für sie, wenn sie Jimmy Parker sind."
Keuchend wende ich mich von dem Polizisten ab. Schmerzhaft zieht sich mein Herz zusammen, schlägt mir bis zum Hals. Jeder Atemzug geht rasselnd.
„Jim!"
Lolas Hände halten mich fest, führen mich langsam zu den Stühlen. Zitternd lasse ich mich auf den einen nieder. Ich habe das Gefühl zu ersticken. Immer wieder schüttle ich mit dem Kopf, versuche die heißen Tränen davonzublinzeln. Ich muss den Umschlag nicht ansehen, um zu wissen, dass sie gegangen ist.
„Jim!"Vor mir kniet Milo. In seinen Händen hält der den Umschlag des Polizisten.
„Du solltest ihn lesen, bevor deine Gedanken außer Kontrolle geraten."
Schweigend starre ich auf den Umschlag. Sie hat uns, mir, nicht einmal die Gelegenheit gegeben, sie zu sehen. Bei der ersten Gelegenheit ist sie gegangen. Was soll in diesem Umschlag stehen, was nun von Bedeutung wäre.
„Tue es für uns", flüstert Milo und reicht mir den Umschlag. Mit zittrigen Fingern nehme ich ihn.Beim Öffnen des Briefes rinnt mir eine Träne über die Wange. Egal, was darinstehen wird, ändert nichts daran, dass sie weg ist. Und ich fühle, dass sie nicht plant zurückzukommen. An diesem Tag habe ich nicht nur meinen Freund Mason, sondern auch Cassandra verloren. Zweimal, aber einmal entgültig.
Jim,
ich habe so lange überlegt, was ich schreiben soll. Kein Wort und kein Satz, kann mein Verschwinden rechtfertigen. Aber ich will dir trotzdem eine Nachricht zukommen lassen, denn ich schulde es nicht nur Milo, Lola, Lou und Kelly, sondern vor allem dir. Seit unserer Schicksalhaften Begegnung mit dem Kaffee, gehörst du zu meinen Gedanken. Ich hätte niemals gedacht, dass ich mich in Brighton verlieben könnte, bis ich dich traf. Meine graue und triste Welt bekam endlich bunte Farbflecken, gefüllt von Freude, Lachen, Liebe, Glück und Freundschaft. Brighton und ihr, seit das Beste was mir jemals passiert ist und nichts wird das ändern.Heute aber ist mir etwas Entscheidendes klargeworden. Ich dachte, ich hätte meine Ängste, mein Kindheitstrauma besiegt. Doch als ich den Lauf der Pistole geblickt habe, wusste ich, dass die Angst noch da ist. Deine Liebe hat mir geholfen, mich weniger zu fürchten, aber Liebe allein reicht nicht aus, um dieses Trauma zu bekämpfen. Auch wenn mein Vater Tod ist, fühlt es sich an, als wäre er noch da. Im Krankenhaus habe ich begriffen, dass ich endlich aufhören muss davonzurennen.
Ich muss mir Hilfe suchen und endlich anfangen zu reden. Ich wollte Abschied nehmen von euch, aber ihr hättet mich nicht gehen lassen. Ich wollte es so schmerzlos und schnell wie möglich machen. Noch weiß ich nicht, wohin mein Bruder und ich gehen, aber ich weiß, dass ich in eine Zukunft schreite, in der zwar ein neues Leben beginne, aber ihr ein Teil von mir bleiben werdet. Du wirst ein Teil von mir bleiben.
Erinnerst du dich noch an die Frage, die du mir zu Weihnachten gestellt hast? „Welchen Tag würdest du erneut leben wollen, ohne etwas zu ändern, nur um zuzusehen?"
Damals hatte ich keine Antwort. Heute bin ich mir sicher, dass es der Tag war, als ich dich traf. In diesem Moment hat sich mein gesamtes Leben geändert. Ich bin so dankbar für unsere gemeinsame Zeit und ich werde keinen Augenblick vergessen.
Ich will, dass du mir nicht hinterhertrauerst, denn ich weiß unsere Wege werden sich erneut schneiden. Das Schicksal wird dafür sorgen. Erfüll in der Zwischenzeit deine Träume. Mach das worauf du Lust hast und schaff dir dein Leben, welches unvergesslich ist. Du hast jeden dieser Tage verdient, also nutze sie in jeder Minute, in jeder noch so winzigen Sekunde aus.
Eigentlich wollte ich dir nur schreiben, dass ich dich liebe, Jimmy Parker. Ich liebe dich, Jim.
Deine Cassandra.Langsam lasse ich den Brief sinken. Eine Träne tropft auf das Papier. Bevor weitere Tränen das Blatt benetzen, zieht es Milo vorsichtig beiseite und steckt es zurück in den Umschlag. Fest schließt er mich in seine Arme. Wie auch Lola, Lou und Kelly es tun.
Gemeinsam sitzen wir da, während wir uns einander halten.Vor ein paar Wochen habe ich niemals gedacht, dass sich unser Leben so ändern wird. Das wir nicht nur Mason, sondern auch Cassandra verlieren und all das was wir erlebt haben, zu einer fernen Erinnerung wird. Alles hat sich schlagartig geändert. Vor uns steht eine Zukunft, die so ungewiss ist, wie ein leeres Blatt Papier. Genau das macht mir Angst. Doch ich glaube an Cassandras Worte. Ich werde meinen Träumen folgen, wie ich es hätte schon vor vielen Jahren machen sollen.
Vielleicht sehe ich sie irgendwann wieder. Das Schicksal hat uns schon einmal zusammengeführt. Bis dahin müssen wir alle einen eigenen Weg finden, der uns zu unserem Glück führt.
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𝓐𝓵𝓼 𝓲𝓬𝓱 𝓭𝓲𝓬𝓱 𝓽𝓻𝓪𝓯
RomanceCassandra flüchtet vor den Monstern ihrer Vergangenheit. Auf ihrer Suche nach einem neuen Zuhause landet sie in dem verschlafenem Ort Brighton. Durch ein Missgeschick trifft sie auf Jim Parker, der sich ungewollt in ihrem Herzen breit macht. Doch au...