Wilde Rose- Kapitel 26

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„Gawain, steh auf! Ich erwarte dich in fünf Minuten kampfbereit auf dem Hof. Wollen wir mal sehen, was du das letzte Jahr gelernt hast."

Als Gawain seine Augen aufschlug, sah er direkt in die seines Vaters, der erwartungsvoll auf ihn herabblickte. „Fünf Minuten", wiederholte er eindringlich, bevor er sich abwandte und das Zimmer wieder verließ.

Gawain sprang aus seinem Bett und suchte in Windeseile seine Kleidung zusammen. Es war eine Tradition zwischen ihm und seinem Vater, am ersten Ferientag am Lehrjahresende einen Kampf auszuüben, sodass Lott seinen Fortschritt beurteilen konnte.

Der König war ein herausragender Kämpfer. Als er noch jung gewesen war, war er bei vielen Turnieren angetreten und erlangte immer einen Platz an der Spitze. Gawain hatte von klein auf zu ihm aufgesehen. Eines Tages würde er genauso gut sein wie sein Vater. Wenn nicht ... sogar besser!

Als Gawain fertig angezogen die Treppe zum Hof hinunterstürmte und vor seinem Vater zum Stehen kam, beäugte ihn dieser von oben bis unten. Sein Sohn hatte kräftig zugelegt. Seine Schultern waren in die Breite gewachsen und auch seine Arme schienen muskulöser. Er hatte des Königs eigene Größe fast erreicht und sein Gesicht hatte im vergangenen Jahr an Kindlichkeit verloren.

Er konnte sich ein zufriedenes Grinsen nicht verkneifen. Vor ein paar Wochen hatte er seinen Sohn schon für tot gehalten und heute stand er vor ihm und trotzte nur so vor Kraft. Diesmal, da war sich der König sicher, würde er seinen seinen Erben nicht so einfach besiegen.

Königin Juna stand am Fenster von ihrem und Lotts Schlafzimmer und blickte auf das Geschehen im Hof hinab. Ihre beiden Jungs standen sich dieses Jahr zum dritten Mal gegenüber. Sie war gespannt, doch zugleich besorgt über den Ausgang des Kampfes und dass vor allem ihr Sohn heile aus ihm herauskam.

Lott zog schließlich sein Schwert und ging mit lautem Gebrüll in den Angriff über. Gawain festigte seinen Stand und wartete, bis sein Vater ihn erreicht hatte. Der erste Hieb kam von oben und Gawain wehrte ihn gekonnt ab. Er lenkte das Schwert seines Vaters nach links, wodurch dieser gezwungen war, sich flink um die eigene Achse zu drehen und den nächsten Angriff von rechts zu starten. Vorhersehbar. Auch dieser Hieb wurde erfolgreich abgewehrt.

Lott begann zu grinsen und in seinen Augen blitzte die pure Entschlossenheit auf, seinen Sohn bis an sein Limit zu bringen. Er zog die Geschwindigkeit an und schlug von allen Seiten auf Gawain ein. Links. Rechts. Oben. Der Junge verlor seinen festen Stand und wich zurück. Die Hiebe seines Vaters waren nicht dieselben wie die seiner Kameraden auf Camelot. Immer, wenn ihre Schwerter aufeinandertrafen, durchfuhr die Vibration seinen ganzen Körper. In seinem Gesicht zeichnete sich die pure Verzweiflung ab. Er war zu schwach. Sein Herz fing an zu rasen, doch nicht aufgrund des Kampfes an sich. Es war die pure Angst. Die Angst, zu versagen.

„Wer Angst hat, verliert. Das ist unsere Devise!" Diese Sätze gingen ihm immer wieder durch den Kopf. Die beiden Sätze, die ihm sein Vater von klein auf eingebrannt hatte. Er atmete tief durch, als er schon die Kälte der Mauer in seinem Rücken spürte.

Er sammelte all seine Kraft zusammen und holte aus. Als die Schwerter diesmal aufeinanderprallten, war es an Lott, die Wucht des Schlages auszugleichen. Er verlor kurzfristig die Kontrolle über sein Schwert.

Gawain nutzte die gewonnene Chance und startete einen Gegenangriff. Sein Vater blickte überrascht drein, als es nun er war, der zurückweichen musste. Er blickte ins angestrengte Gesicht seines Sohnes, in dessen Augen dieselbe Flamme loderte wie in den seinen. Das war sein Sohn: Ein starker Krieger Orkaniens und zukünftiger König seiner Inseln. Doch so leicht wollte er es ihm nicht machen. Gawain war stark, jedoch unerfahren. Er wartete auf den richtigen Moment und wirbelte schnell um Gawain herum.

Überrascht von den flinken Bewegungen, reagierte Gawain erst spät. Zu spät. Lott kannte seine Schwachstelle. Er holte aus und trat seinem Sohn gezielt in die linke Kniekehle. Dieser schrie auf, als die Kraft des noch angeschlagenen Knies nachgab und es zu Boden sank, was den Schmerz durch sein gesamtes Bein ziehen ließ.

Triumphierend hielt Lott sein Schwert an Gawains Hals. „Ich habe gesiegt, lass dein Schwert fallen!"

Schwer atmend gehorchte Gawain und ließ sein Schwert sinken. Er musste seine Zähne ordentlich zusammenbeißen. Das war zu viel für sein Knie gewesen.

„Steh auf!", befahl der König. Gawain gehorchte wieder und hievte sich schwerfällig auf die wackligen Beine. Er drehte sich zu seinem Vater um und sah direkt in dessen triumphierendes Gesicht. Er versuchte, den Blicken seines Vaters auszuweichen. Er hatte versagt.

„Gawain, sieh mich an. Du bist stark geworden. Gut gekämpft mein Sohn", grinste der taffe König und legte eine Hand auf Gawains Schulter. Dann wandte er sich ab und lief zurück zum Schloss.

Gawain überfiel eine Welle von Stolz. Er hatte den Kampf zwar verloren, doch dafür das Ansehen seines Vaters gewonnen. Er ließ sich an der kalten Mauer nieder und gab seinem Knie die Chance, sich zu beruhigen.

Die Sonne schien auf sein Gesicht herab. Es war warm, aber nicht heiß. Das wurde es auf Orkanien nie. Die Inselgruppe war rau und trüb. Doch es gab Naturphänomene und Tiere, von denen seine Freunde nur träumen konnten. Selbst Sagramor hatte die Inseln ins Herz geschlossen, obwohl er sich auf Camelot immer über das Wetter beschwerte.

Er war sich sicher, dass es Morgan auch gefallen würde. Er würde sie gerne Mal mitnehmen und ihr sein Zuhause, den Ort, an dem er aufgewachsen ist, zeigen. Dazu müsste er seinen Eltern jedoch erzählen, dass er sich verliebt hatte. In eine Tintagel. Er würde lieber noch etwas warten, bevor er diesen Schritt wagen konnte.

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