11 ☾ ER

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»Mister Hagen?«

Pscht ... Ich will noch etwas schlafen ... Somit drehe ich mich noch einmal um. Das ist aber ungemütlich heute.

»Mister Hagen, wachen Sie schon auf.«

Sie? Langsam dämmert mir, dass hier etwas nicht stimmen kann. Und jetzt weiß ich auch was. Schlagartig reiße ich meine Augen auf und fast genauso schnell sitze ich aufrecht.

Fritzi kommt angetapst und schleckt mir quer durch das Gesicht. Ein gutes Zeichen, hoffe ich. Bah, das stinkt. Widerlich. Was hat Fritzi nur als Letztes zu Essen bekommen? Oder war sie wieder verbotenerweise an irgendeiner Abfallsammelstelle? Dabei achte ich schon immer darauf, dass sie bloß genug abbekommt. 

Eilig wische ich mir ihren Speichel vom Gesicht und da kann ich sie schon ausmachen. Aus dem Augenwinkel kann ich Grosche sehen. Sonst niemanden. Grosche grinst mir entgegen. Von ihrem Sessel aus. Wie lange war ich wohl weggetreten? Wie lange bin ich schon hier? Ich streichel Fritzi über ihr krauses Rückenfell, was sie zum Schütteln bringt. Und mir nur unnötigerweise erneut ein paar Sabberfetzen. 

»Na, da sind Sie ja wieder.«

»Äh. Ja. Hallo«, begrüße ich sie in dieser doch sehr eigenartigen Situation und lasse meine eine Hand über meinen Nacken streifen.

Warten ist wohl die beste Entscheidung, die ich hier treffen kann, auch wenn ich bei ihr eingedrungen bin.

»Wollen Sie sich denn nicht erheben?«, fragt sie so ruhig, als wäre nichts, ... als wäre es gewöhnlich, dass wir uns so einander begegnen. »Und dann mir etwas erklären?«, setzt sie noch an, als ich mich tatsächlich aufrapple.

Ich suche ihre Augen nach einem Hinweis ab. Was weiß sie? Und wenn sie etwas weiß, wie viel?

»Ich weiß nicht ganz, was Sie meinen, Frau Grosche.« Gewöhnungsbedürftig, sie anzusprechen. 

»Setzen Sie sich doch«, wobei sie auf einen Stuhl am Tisch deutet, den ich bisher noch gar nicht wahrgenommen hatte.

»Der wird Sie schon noch aushalten«, beantwortet sie mir meine Frage, die sie wohl an mir ablesen konnte. Denn er sieht schon mehr als nur ein bisschen wackelig aus. Aber was soll schon passieren?!

»In Ordnung.« Während ich mich hinsetze, fallen mir die Bilder auf dem Tisch wieder auf. Sie sind nicht in edlen Rahmen gesteckt worden und dennoch sehen sie nach den kostbarsten Schätzen hier aus, was ich durchaus verstehen kann. Ich kann sie verstehen? Das muss ein Missverständnis sein! Ich bin noch nicht ganz da. Ja, das muss es sein. 

»Mister Hagen, glauben Sie daran, dass eine Seele in einem Foto eingefangen werden kann?« Gedankenverloren blickt sie – nicht zu den Bildern – aus dem zum großen Teil zerschmetterten Fenster hinaus, welches halb zugedeckt wurde. Ich folge ihrem Blick und versuche über ihre Worte nachzudenken und sie in Einklang mit der Situation zu bringen. Doch es ploppen nur Fragezeichen auf. 

»Manche Menschen glauben, dass, wenn wir ein Foto einer Person schießen, ihre Seele damit gefangen nehmen. Ich habe auch einmal daran geglaubt. Vielleicht war es mir aber auch viel wichtiger, die Momente mit den Menschen auszukosten, die wir hatten. Ich meine, anstatt Fotos davon zu machen, wirklich den Moment zu erleben. Doch heute sind sie alles für mich. Diese Fotos.«

»Eine Brücke zur Vergangenheit. Erinnerung«, flüstere ich vor mich hin, in Gedanken an meine eigenen zwei Bilder, die ich dabei habe. Da ich nun mit ihren Worten sehr viel anfangen kann, wundere ich mich immer noch, wie es in Bezug zur momentanen Situation steht. Das ist nicht das Einzige, was dich wundert. Sondern auch, dass ihr eine Gemeinsamkeit habt. 

»Ganz recht, Mister Hagen.«

»Können Sie nicht einfach Frederik sagen? Ich mag meinen Nachnamen nicht ... und das wissen Sie.«

»Aber der Grund ist mir schleierhaft, Mister Hagen.«

Macht sie das absichtlich? Will sie mich wirklich wütend machen? Hasst sie mich? »Sie wissen, warum«, entschließe ich mich gegen meine aufbrausende Wut zu sagen. 

»Ich kenne die Bedeutung Ihres Namens. Und Sie glauben, versagt zu haben. Liege ich damit richtig, Mister Hagen?«

»Ich glaube es nicht. Es ist so.«

»Denken Sie, es gibt immer nur eine Wahrheit? Oder besser ausgedrückt nur eine korrekte Sichtweise?«

»Hm, ja.«

»Das glaube ich Ihnen nicht. Sehen wir uns unseren sogenannten Senatsrat an. Denken Sie, dass die richtig liegen?«

Natürlich nicht! Empört über ihre bescheuerte Frage öffne ich meinen Mund und bin kurz davor sie anzubrüllen. Doch dann ... verstehe ich ... Sie hat recht. Verdammter ... mistiger ... apfeliger Kack. Was hatte sie denn einst mal erlernt? Ist sie Anwältin oder so?

»Gut, da wir nun auf einer Basis sind, Mister Hagen. Haben Sie sich die Bilder schon einmal richtig angeschaut? Ich meine die, die vor Ihnen stehen.«

Ohne ihr zu antworten, auch ohne ihr noch einmal zu sagen, dass sie mich bitte nicht mit meinem Nachnamen ansprechen solle, und ohne ihr an den Kopf zu knallen, dass meine Sichtweise dann ja wohl auch eine Berechtigung habe und ich generell lieber Arschloch bevorzuge, versuche ich mich zu beruhigen ... Ich schließe meine Augen, atme tief durch, um mich auf die Bilder vorzubereiten. Mit geöffneten Augen betrachte ich dann die Bilder genauer. 

Lange halte ich es aber gar nicht durch. Da ist jemand drauf ... Damit habe ich nicht ... gerechnet. Wie ... ist das möglich? Der Nebel verdichtet sich wieder. Ein Rauschen auf den Ohren. Gleich holt es mich wieder. Ich beginne zu lächeln, um sie in die Arme schließen zu können.

»Mister Hagen! Dieses Mal nicht!« Worte werden gerufen, es wird an mir gezerrt. Doch dieses Mal ist es anders. Es ist keine Verschmelzung mit dem Schmerz und dem Schönen. Es wird eine Barriere dazwischen hochgezogen. Der Nebel dringt nicht mehr durch. Grosche rüttelt an mir herum.

»Mister Hagen. Schauen Sie mich an«, befiehlt sie fast. »Was ist das nur mit Ihnen?«

»Nichts«, murmle ich. »Nur solche Vorfälle«, sage ich noch, obwohl ich mir schon denken kann, dass sie dieses Wort nicht gelten lässt.

»Vorfälle. Aha. Das sind ebenso Erinnerungen, die Sie heimsuchen. Richtig? Und Sie tun sich absichtlich diesen Schmerz immer und immer wieder an.«

»Um sie zu sehen und weil ich es verdient habe.«

»Sie sind nicht schuld!«, ruft sie aus. »Und ich denke, dass Sie es eigentlich wissen. Nur noch nicht akzeptieren können«, fügt sie in einem ruhigeren Ton noch an. 

»Wie Sie meinen.«

»Sie haben das Bild gesehen. Ich denke, nun ist der Moment gekommen, in dem ich Ihnen von Frida und mir erzähle. Von ihrer und meiner Bindung. Es scheint für Sie merkwürdig zu sein. Aber Ihre Nichte Frida und ich hatten eine wundervolle Verbindung zueinander.«

Sie und Frida? Da hat sie recht. Es ist merkwürdig. Aber ... das Bild zeigt es ja. Und ich will es wissen. Ich möchte alles erfahren, was mit Frida zu tun hat. Fritzi hat mittlerweile ihren Kopf auf meinen Schoß gelegt. Auch sie merkt, dass mein Herz vor Aufregung wild pumpt. 

Hat-SchiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt