43 ☾ ER

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Sie tut mir unheimlich leid. Wie sie so da liegt. Das Laufen tat ihr sicherlich auch nicht gut. Aber was blieb mir übrig? Ich wollte sie in Sicherheit bringen. Nach dem ersten Schock, als ich dachte, ... dass es schon ... zu spät wäre, dass ich schon wieder ... zu spät da wäre ... Und ich aber gemerkt habe, dass dem nicht so ist, musste ich handeln.

Ich hoffe, sie erholt sich. Ich hoffe es so sehr. Immer wieder flatterten ihre Augenlider wild umher, zuckten unkontrolliert. Sie hat bestimmt viel Schlimmes hier durchgemacht. Wenn sie nicht von hier ist ... Wenn ... Jetzt glaube ich dem tatsächlich noch. Es war auf jeden Fall der reinste Albtraum für sie. Schön ausgedrückt. Sie sollte nicht alleine sein. Wo sind nur ihre Eltern? Wenn sie nicht von hier ist, ... dann muss, nein ... Ich will ihr helfen, endlich nach Hause zu kommen.

Die letzten Stunden hat sie geschlafen. Bis auf den kurzen Moment. Auch da schien sie so zerbrechlich, dass ich Angst hatte, sie mit meiner Hilfe zu verschrecken. Aber nach dem sie etwas getrunken hat, ist sie sofort wieder eingeschlafen.

Bald bricht schon wieder der nächste Abend ein. Aber das ist okay. Erst einmal sollten wir sicher sein. Bisher kam noch niemand hier vorbei. Fritzi hat uns wieder zu der Stelle am Waldrand gebracht, an der wir auch letzte Nacht waren.

Ich überlege, ob ich mir ihr Armband genauer anschauen sollte oder ob ich warten soll, bis sie zu Kräften gekommen ist. Ich will sie nicht erschrecken, sollte sie dabei aufwachen. Andererseits möchte ich sie von diesem Fluch erlösen. Und ich möchte auch nicht untätig hier rumsitzen. Schwierige Entscheidung. Nachdem ich das nun mehrmals hin und her bedacht habe, nehme ich mir erst noch einmal die Zeichnungen dazu zur Hand. Es gibt ein Abbild des Armbandes. Fia hat mehrere Armbänder um, zwar nicht mehr die Menge wie zu Beginn, doch ich sollte wenn dann schon das Richtige in Augenschein nehmen. Obwohl das, was ich suche, auf der Zeichnung nicht wirklich nach einem Armband aussieht. Auf der Abbildung ist ein Mondsymbol zu sehen. Das macht Sinn, sie haben sie Mond-Mädchen genannt. Jetzt sag mir nicht, dass sie vom Mond kommt, das glaube ich nicht, spreche ich innerlich mit dem Stück Papier in meiner Hand.

Alles, was ich verstehe, ist, dass ich es öffnen und etwas entfernen soll. Ich glaube, ich werde einfach die einzelnen Schritte durchgehen und dabei beten, dass es klappt. Ich kann das ja nicht mal in eigene Worten wiedergeben, was ich machen soll und was da alles steht. Mit dem Körper und Geist verbunden? Wie funktioniert so etwas? Gott, bin ich froh, dass es Bilder mit Erklärungen gibt. Ich fühle mich zwar immer noch dumm, aber dümmer als die Untersektion werde ich wohl schon nicht sein. Es hat ja vielleicht auch nichts mit dumm sein zu tun ... Seb kann nicht lesen und schreiben und würde es dennoch hinbekommen, kommt mir in den Sinn. Das heißt, die Zeichnungen müssten ausreichen. Und wenn wenigstens erst einmal ihre Sprache dadurch – wenn ich es richtig verstehe – wieder vernünftig verknüpft wird, sind wir einen riesengroßen Schritt weiter. Dann kann sie mir ja vielleicht auch weiterhelfen, damit ... ich sie unterstützen kann.

Ich hole die Taschenlampe aus dem Rucksack, den Fia dankbarerweise dabei hatte, heraus und beleuchte damit indirekt mein Tun. So langsam wird es nämlich doch dunkel. Die Anleitung, wie ich sie jetzt mal nenne, lege ich mir in richtiger Reihenfolge direkt zur Seite und taste vorsichtig nach ihrem Arm. Als ich das Mondsymbol sehe, wird es mir klar. Es ist ein wirklich schön geformter Halbmond, der ... einfach auf der Haut angebracht ist. Oder in der Haut? Bisher ist mir das nicht aufgefallen. Ich vergewissere mich noch einmal, dass sie schläft. Der Mond fühlt sich glatt und erhaben an und gleichsam sehr robust. Ich überprüfe noch einmal alles, schaue dazu auf die Anleitung und da fällt mir auf, dass es gar kein Halbmond sein soll ... Oder doch ... Hä? Ah. Mal so, mal so. Ich schaue in den Himmel. Heute haben wir Halbmond. Ich schaue auf ihren Arm, der gleiche wundervolle Mond. Wow. Zeit zum Bestaunen bleibt mir aber leider nicht. Vielleicht wann anders. Also da steht, dass dieser Mond sich öffnen lässt. Wie genau steht leider nicht da. Ausgerechnet das nicht. Ungünstig. Es geht hier immerhin um ihren Körper. Mir wird immer unwohler dabei. Sollte ich nicht doch lieber warten? Doch zeitgleich fühle ich bereits darüber und probiere es aus. Hat nicht geklappt. Dafür höre ich sie schnaufen. Apfelkack. Sie reißt ihre Augen verschreckt auf.

»Fia. Tut mir leid. Ich ha-a-abe hier die Experimentunterlagen und wollte es richten. Tut mir leid. Oh Gott. Ich fühle mich schrecklich ...«, sprudelt es aus mir heraus und mein Handeln bringt mich selbst noch um den Verstand. »Soll ich weitermachen? Ich will das nur versuchen, in Ordnung zu bringen ...«, spreche ich weiter wie ein Wasserfall, was ich eigentlich nicht wirklich beurteilen kann, weil ich diese nicht kenne außer aus Erzählungen. Was denke ich da schon wieder? Sie sieht angestrengt aus, als würde sie versuchen nachzudenken, nickt mir dann lediglich zu. Kurz darauf ist sie schon wieder eingeschlafen oder hat ihr Bewusstsein verloren? Oder beides? Mein Adrenalin rauscht bei mir nur so durch. Soll ich es jetzt weiter wagen? Sie hat genickt, aber hat sie es auch wirklich verstanden? 

Ohne das mein Verstand wirklich eine Entscheidung getroffen hat, verselbstständigen sich meine Hände erneut und warten gar nicht auf mein Hirn. Sie befühlen erneut den Mond. Nach ein paar Malen, die sie darüber tasten, erspüren sie einen Unterschied der Oberfläche und probiere es genau an der Stelle aus. Es hat geklappt. Der volle Mond, der nur etwa zur Hälfte leuchtet, verschiebt sich durch den Mechanismus – den ich auf gut Glück augenscheinlich betätigt habe – zur Seite. Dort, wo der Mond ist, scheint keine Haut zu sein. Zumindest keine, wie sie mir bekannt ist. Es sieht eher nach dehnbarem Gewebe anderer Art aus. Aber ich kann es nicht mal ansatzweise erahnen, was es sein soll. Zum Vorschein kommen, wie ich es durch die Zeichnungen ahnte, Drähte, Gewebe und ein Hohlraum. Laut Notiz und Bild haben sie dort an bestimmte Drähte einen Chip eingesetzt, den ich dann wohl entfernen muss. Ich betrachte das Teil von innen und kann nur eins ausmachen. Zum Glück. Ich schaue nach oben, flehe, dass ich dieses verfluchte mickrige Teil daraus fischen werden kann ... und mache mich dran.

Ich brauche mehrere Anläufe, da meine Finger nicht so feingliedrig sind. Das ist echt anstrengend, weil alles irgendwie gefühlt zum Zerbrechen aussieht. Dass das für die Sprache zuständig sein soll, kann ich mir eigentlich gar nicht vorstellen. Ich habe kein Mondsymbol auf meinem Arm, wie würde das dann bei mir klappen? Unwichtig!, schimpfe ich mit mir. Mach, was da steht!, ermahne ich mich lieber! Deine Augen sind schon überanstrengt, also fokussiere dich!

Ich weiß nicht, wie lange ich gebraucht habe und ich hoffe, dass ich es richtig gemacht habe. Ich glaube fertig zu sein. Ich verschließe den Mond und verstaue die Unterlagen sorgfältig. Wer weiß schon, ob die nicht doch noch wichtig sein könnten? Oder falls ich es verkackt habe ...

In der Hoffnung, mein Bestes getan zu haben, lege ich mich auch noch mal hin, aber nicht ohne den Halbmond an ihrem Handgelenk zu bewundern.

Wenn, dann ... Wenn sie nicht von hier ist, dann werde ich sie nach Hause bringen. Das hat sie verdient. Sicher nach Hause zu kommen. 

Hat-SchiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt