36 ☾ SIE

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»Doch nicht ohne dich zu stärken.«

Gerade will ich anfangen zu protestieren, da nimmt Wilma mir die Schreibutensilien weg. Mit finsterer Miene blicke ich sie an und verschränke meine Arme vor der Brust. Das bringt sie jedoch zum Lachen. Zwar leise, aber das Herzhafte ist zu sehen. Meinen äußeren Widerstand gebe ich jedoch nicht auf.

»Eigentlich müsstest du doch völlig erschöpft sein. Ich meine nach allem, was du schon durchgemacht hast. Wir wollen dir wenigstens mal zeigen, dass es hier auch nette Menschen gibt – neben Frederik natürlich. Nimm es einfach an und dann kannst du losziehen.« Wilma deutet dann zu Fritzi. »Sie wird es dir auch danken.«

»Wilma hat recht, Schätzchen. Allein der heutige Tag muss dich doch schon geschlaucht haben. Lass uns gemeinsam in Ruhe essen. Dann füllen wir natürlich noch deine Trinkbehälter auf. Wenn du magst, gucken wir auch noch nach Kleidung für dich.«

Seufzend lasse ich nun auch meine Arme runter. Im Grunde ist es ja gar nicht verkehrt. Bei all der Aktionen weiß ich nicht mal, wann ich zuletzt etwas zu mir genommen habe. Wahrscheinlich das bei Essen bei Hilde, was mich ... Ich will gar nicht mehr daran denken.

»Na also«, freut sich Waldtraud.

Tatsächlich tut es mir ganz gut. Das Essen ist köstlich und während ich mit ihnen beisammen sitze, kommt mein Körper in der Tat ein wenig zur Entspannung. Ich nehme mir sogar Zeit, um den Augenblick in mir aufzunehmen. Momente können kostbar sein. Ihre Gesichter sind gezeichnet. Von diesem Leben. Dennoch sind sie ebenso voller Freude. 

Nach dem Mahl legt Wilma mir Kleidung raus. Ich gehe in einen kleinen Nebenraum, in dem ich mich notdürftig waschen kann. Ich habe es verstanden. Sie haben kein Baderaum wie Hilde. Sie nutzen ein kleines Zimmer und waschen sich mit Wasser aus einem Eimer, welches sie sich mühsam von einem weiter entfernten Brunnen holen mussten. Ein Badezimmer steht ihnen nicht zu. Ich ahne, wem in dieser Welt eins zusteht. Danach ziehe ich mir die frische Kleidung an. Den Pullover von Frida, wie ich nun weiß, ziehe ich wieder darüber. Es ist ein seltsames Gefühl, dieses Kleidungsstück anzuziehen, nachdem ich die Geschichte dazu kenne. Doch andererseits würde ich es unachtsamer finden, es nun einfach nicht mehr zu tragen. Ich hole Frederiks Rucksack hervor und krame darin herum, bis ich den samtigen Stoff in meinen Händen spüre. Ich ziehe diesen heraus und halte ihnen mein Kleid entgegen. Das Kleid, mit dem ich hier wahrscheinlich ankam. Es scheint hier für die Menschen von Wert zu sein. Diese beiden Frauen haben so viel gemacht, dass ich es ihnen schenken beziehungsweise als Wiedergutmachung geben möchte. Ehrfürchtig nehmen sie es entgegen.

In dem Moment, als ich mir den Rucksack aufsetze, durchfluten mich Wellen der Zweifel. Ob ich das Richtige tue? Was kann ich schon ausrichten? Ich bin erst vierzehn Jahre alt. Aber Frederik ist wegen mir in dieser Lage. Ich muss einfach. Waltraud nimmt meine Hände in ihre und sendet mir damit augenblicklich Strahlen der Ruhe ins Innere. Sie beruhigt mich. Ich kann verstehen, warum Frida sie so gern hatte.

Nach einer leisen Verabschiedung entferne ich mich zusammen mit Fritzi aus dem Hintereingang von Waldtrauds Hütte. Nun bin ich wieder auf mich gestellt. Dieses Mal kenne ich wenigstens mein Ziel. Zumindest ungefähr. Erst einmal in den Wald. Davor graut es mir. Obgleich ich mich mit der Natur verbunden fühle, assoziiere ich nichts Gutes mit diesem Wald. Allerdings ist Fritzi an meiner Seite. Sie gibt mir unheimlich viel Kraft und Sicherheit. Zudem habe ich meinen Speer. Vielleicht nicht der Beste der Welt und dennoch kann ich damit einiges ausrichten – ganz gewiss. Und wenn wir erst einmal den Weg in den Wald hinein passiert haben, wird es bestimmt nicht mehr weit sein. Dahinter dann müsste sich mein Ziel auftun.

Es ist bereits abends, doch noch ist es hell genug, um alles sehen und erkennen zu können. Wie ich von Wilma und Waldtraud erfahren habe, habe ich eine Leuchtlampe im Rucksack, falls es mir zu dunkel wird. Dann kann ich mir selbst den Weg erleuchten. Das ist praktisch.

Heute wird eine klare Nacht, an der die Sterne und der Mond besonders hell strahlen werden. Wenn ich nicht so ein grausiges Ziel hätte, wäre es ein wundervoller Abend, an dem ich einfach das Himmelszelt bewundern würde.

Nun stehe ich davor. Vor dem Eingang in diesen Wald. Ich hadere mit mir, blicke zurück, doch da ist niemand. Schaue wieder nach vorne. Dann zu Fritzi. Ich straffe meinen Körper und mache den ersten Schritt. Geschafft. Mein Körper bleibt angespannt, doch ich tätige weiterhin mutig einen Schritt nach dem nächsten auf dem Waldboden. Ich nehme den vorgegeben Pfad.

Kleinere Erinnerungen – wie ich annehme – kommen hoch. Wie ich entgegengesetzt laufe, voller Panik, mich nicht umdrehen will, einfach nur fort möchte, auf der Suche nach Hilfe. Die ich bei Frederik gefunden habe. Ich spüre nasse Flecken an meinem Körper. Es setzt mir mehr zu, als ich vorher erahnte. Doch ich gehe weiter. Rechts und links von mir erscheinen vereinzelte Bäume. Daheim wäre es ein armer Wald, weil er nicht mehr so viel Bestand hat. Dafür gibt es hier viele Überbleibsel, die mir leidtun. Abgebrochene Äste, auf dem Boden liegende und zerteilte Stämme, sehr viele Wurzeln, über die ich steigen muss. Aber dicht ist er nicht, sodass ich die Leuchtlampe gar nicht benötige, weil das schummrige Licht der untergehenden Sonne sowie der strahlende Mond vollkommen ausreicht. Geräusche höre ich nur selten. Wenn, zucke ich sofort zusammen, womit ich Fritzi erschrecke. Ich glaube, hier leben leider auch nicht mehr so viele Tiere. Aber das ist irgendwie auch verständlich. Der Wald bietet ja kaum Schutz.

So langsam kommt mir der Weg vertraut oder bekannt vor, als wäre ich hier schon einmal lang gelaufen. Ich weiß ja, dass dem so ist, aber nun fühle ich es auch. Instinktiv blicke ich schräg nach links. Das ist es.

Völlig unvorbereitet prasseln Bilder auf mich ein. Sie nehmen mir die Sicht. Es flackert so sehr vor meinem inneren Auge, dass ich anfange, hektisch zu atmen. Fritzi wuselt um mich herum. Diese Bilder ...
Eine Hütte. Diese Hütte. In der ich gefangen gehalten wurde. In der sie irgendetwas mit mir machten. Auf mich eingeredet haben. Immer und immer wieder. Kraftlos hing ich da. Doch sie hörten nicht auf. Ein Mann ... Dieser eine war unbedacht.

Ich presse meine Augen fest zusammen, damit es aufhört. Es ist zu viel. Stopp!

Eine Erkenntnis erwischt mich so stark wie ein Fels. So konnte ich also fliehen. Weil dieser eine nicht aufgepasst hat. 

Hat-SchiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt