Kapitel 4

50 3 0
                                    

Der Wald war gigantisch. Die Bäume streckten sich meterweit in die Höhe und verknoteten ihre starken Äste miteinander. Es gab so viel zu entdecken. So vieles, das ich nicht kannte und so viele verschiedenen Pflanzen- und Baumarten. Ich fühlte mich wie in einem Urwaldparadies.

Ich war so leer, dass ich mich auf alles Neue und Unbekannte stürzte, was mir über den Weg lief. Nur von den Menschen hielt ich mich fern. Oft sah ich welche von ihnen durch den Wald gehen, Pilze sammeln, Feuerholz auflesen, mit Pfeil und Bogen auf der Jagd oder einfach nur bei einem Spaziergang. Einmal beobachtete ich das Dorf in der Nähe vom Waldrand aus. Es stand auf einer großen Lichtung von allen Seiten umgeben von den großen Bäumen und einer herrlich, duftenden Blumenwiese.

Ich suchte mir einen guten Baum aus, von dem man mich nicht sehen konnte und lauschte einfach nur auf die Geräusche, die von weitem aus dem Dorf zu mir klangen. Geklapper von Pferdehufen, die Geräusche von tüchtigen Männern und Frauen bei der Arbeit, Gekicher und Gekreische der Kinder, Rufen, Lachen und Singen. Es war schön, und ich schloss genießerisch die Augen, während mir die Sonne ins Gesicht schien und meine Haut erwärmte. Das Dorf wirkte idyllisch und gar nicht so schlimm wie Amanda gemeint hatte. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass die Leute hier aus der Gegend so schlimm waren, wenn ich sie durch den Wald laufen sah.

Ich hielt mich immer gut versteckt in den belaubten Ästen der Bäume auf. Am Anfang war es mir richtig schwer gefallen, mich auf den Bäumen zurecht zu finden. Doch mittlerweile konnte ich sogar schon richtig schnell über die knorrigen Äste balancieren und kam gut und leise durch das Blättergeäst in schwindelerregender Höhe.

Amanda hatte mir extra ein paar Lederstiefel besorgt, doch nachdem ich diese mal anprobiert hatte, hatte ich dankend abgelehnt. Ich brauchte irgendwie diesen Kontakt zum Boden, das gab mir das Gefühl noch hier zu sein. Am Leben zu sein. Ich spürte die raue, knorrige Oberfläche der Äste unter mir. Das vom Tau nasse Gras und die bröckelige, harte Erde. Das war für mich Leben!

Auch von Amanda lernte ich immer mehr. Sie brachte mir die verschiedenen Pflanzennamen bei und erklärte mir, welche heilenden Kräfte sie hatten. Wie ich Salben, Cremes und Extrakte herstellte und wie ich welche Krankheit, Verletzung und Wunde heilen oder stillen könnte. Manche Dinge die sie mir erzählte kamen mir bekannt vor und wir stellten beide fest, dass ich in vielen Situationen richtig gehandelt hätte und gewusst hätte, was ich benötigte um dem Menschen zu helfen. Auch viele andere Dinge brachte Amanda mir bei, doch die meisten davon interessierten mich nicht mal halb so viel wie die Heilkunde.

Mit Loopi spielte ich auch gerne, brachte ihr kleinere Tricks bei und wir lernten aufeinander zu achten und hören, wenn wir im Wald unterwegs waren. Der Wald war jetzt mein Zuhause und ich hätte mir kein Schöneres wünschen können!

Als ich an diesem Morgen das Haus verließ, meinte Amanda, dass sie später ins Dorf gehen würde. Sie musste sich um einen Mann kümmern, der sich den Arm gebrochen hatte. Mir gab sie den Auftrag, dass ich einige Lyphusblätter sammeln solle und diese anschließend verarbeiten.

Ich machte mich auf den Weg. Loopi flatterte neben mir her und stieß ein freudiges Quieken aus. Sie liebte unsere tagtäglichen Ausflüge genauso sehr wie ich. Ich wusste schon wo ich hin musste um die Lyphusblätter zu finden. Ich sprang über einen Zweig und landete sicher wieder auf der anderen Seite des Astes. Nach fünf Minuten kam ich bei dem ersten Lyphusbaum an. Ich ließ mich an einer geeigneten Stelle auf dem Ast nieder und zückte mein Messer. Dann schnitt ich einige Blätter ab und verstaute sie in meiner Tasche, ohne die ich nicht mehr aus dem Haus ging. Darin nahm ich wichtige Medikamente, Binden und Salben mit. Zwar hatte ich sie noch nie gebraucht, aber man konnte ja nie wissen.

Loopi verschwand im Baumwipfel. Manchmal war sie sogar mehrere Stunden weg und kam dann wieder ganz unerwartet angeflogen. Ab und zu kam es vor, dass ich gar nicht merkte, dass sie - keine Ahnung wie lange - schon wieder auf meiner Schulter saß.

ForgottenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt