Kapitel 9

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Den restlichen Vormittag führten die Zwillinge mich durch das Dorf. Stellten mir die Leute vor und erzählten mir jede Menge Geschichten und Legenden über den Grünfuchswald, wie sie ihn nannten. Ich genoss ihre Gesellschaft. Die Zwillinge nutzten jede Gelegenheit um sich gegenseitig zu foppen und gleichzeitig waren sie ein Herz und eine Seele. Ich lachte an diesem Vormittag so oft wie schon lange nicht mehr und fühlte mich dabei vollkommen wohl. Ich beteiligte mich zwar so gut wie gar nicht an den Gesprächen, aber trotzdem fühlte ich mich durch ihren herzlichen Umgang wohl.

Die Zwillinge schien es auch gar nicht zu stören, dass ich mich nicht sonderlich an ihrem Gespräch beteiligte und stellten mir auch keine unangenehme Fragen - vor denen ich mich ehrlich gesagt am meisten gefürchtet hatte - nur ab und zu merkte ich, wie mich Sheyla mit nachdenklichen Blicken beobachtete. Doch sobald sie merkte, dass ich sie dabei erwischt hatte, kehrte ihr neckisches Funkeln in die Augen zurück und sie führte mich weiter durch die Straßen.

Das Dorf war größer als ich gedacht hatte. Und auch wenn die Häuser eher klein und kuschelig wirkten, waren die einzelnen Grundstücke groß und standen in weiten Abständen zueinander. Die Menschen waren auch ganz anders, als ich sie mir nach Amandas Berichten vorgestellt hatte. Allen, denen ich vorgestellt wurden, sahen mich freundlich an und hießen mich mit aller Herzlichkeit in ihrer Dorfgemeinschaft willkommen. Auch untereinander schienen sie ein gutes Verhältnis zu haben und begegneten sich mit freundlichen Worten und Gesten. Ich konnte nicht anders als mich wohl zu fühlen.

Ich entdeckte sogar den kleinen blonden Jungen wieder, der mich damals als Allererster im Wald gesehen hatte. Doch als er mich entdeckte wurden seine Augen groß wie Teller. Er drehte sich auf dem Absatz um und verschwand zwischen zwei Häusern. Die Zwillinge erklärten mir, dass er ein Findelkind von der Häuptlingsfrau gewesen sei und er psychisch nicht mehr ganz dicht sei. Man dürfe ihm nicht alles abkaufen was er sagte.

Auf Sheylas Gesicht trat ein breites Grinsen: „Mit der Fresserbannerin hatte er jedoch recht, wie sich nun herausgestellt hat", meinte sie und ich verstand sofort ihre Anspielung, ging aber nicht auf das Thema 'Loopi' ein, sondern fragte nach dem Häuptling.

Shannon schnappte mich am Arm: „Der Häuptling kommt gegen Mittag wieder zurück. Er war über Nacht bei einem anderen Stamm gewesen und hat das Friedensabkommen erneuert. Du musst auf jeden Fall bleiben, bis er wieder zurück ist. Er will dich unbedingt kennenlernen!"

Sofort wurden mir die Knie ein wenig weich. Den Häuptling kennenlernen? Ich wusste nicht so recht. Schon allein der Gedanke daran, diesem Häuptling gegenüber treten zu müssen, ließ mir den Kopf schwirren. Zwar hatte sich jetzt herausgestellt, dass Amy nicht Recht hatte mit den unfreundlichen Menschen aus dem Dorf, aber ich stellte mir den Häuptling trotzdem irgendwie als blutrünstigen, fetten Machthaber vor. Zumindest jemanden, dem man unter keinen Umständen freiwillig begegnen wollte.

„Ich weiß nicht...", versuchte ich mich herauszureden, „Amy wartet bestimmt schon auf mich. Ich kann doch nicht so ohne Ge..."

Jetzt fiel mir doch tatsächlich nicht mehr das Wort für Gedächtnis ein und das war auch gut so, schließlich musste das nun nicht jeder wissen. Außer Lukes hatte es sowieso schon allen weitererzählt. Shannon sah mich aufmunternd an, den Satz zu Ende zu bringen. Doch ich schwieg. Erst recht, als ich den durchdringenden Blick von Sheyla aus dem Augenwinkel sah.

„Geschenk", murmelte ich leise vor mich hin. Damit sie aufhörten mich so anzuschauen. Shannon brach in lautes Gelächter aus und auch wenn Sheyla die Mundwinkel nach oben zog, erreichten ihre Augen das Lächeln nicht und ich spürte die unausgesprochene Frage darin. Ich wich ihrem Blick aus und schaute nur Shannon an. Dieser sah mich amüsiert an: „Du brauchst doch dem Häuptling kein Geschenk geben. Ich meine, er ist ja jetzt nicht irgendein mächtiger König oder so. Nur der Häuptling unseres kleinen Dorfes und selbst hier trifft er niemals alleine die Entscheidungen. Du brauchst also keine Angst vor ihm zu haben. Er ist netter als alle Dorfbewohner zusammen und will dich einfach nur persönlich willkommen heißen."

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