Kapitel 40

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Nathan schrie laut auf und ich riss erschrocken die Augen auf.

Doch im nächsten Moment war ich mir nicht sicher, ob ich sie wirklich geöffnet hatte, denn es war so dunkel, dass ich keinen Unterschied zwischen geschlossenen und offenen Lidern erkennen konnte.

„Nathan?", hauchte ich in die Dunkelheit. Meine Glieder fühlten sich kalt und bewusstlos an. Ich hatte das Gefühl nicht mit dem Körper anwesend zu sein. Nur mein Geist war wach. Also blieb ich dort wo ich war. Saß oder stand ich?

„Nathan?", hauchte ich noch einmal.

Nichts. Kein Geräusch war zu hören. Nur Dunkelheit.

War ich tot? Wo waren die anderen? Was war passiert? Wie ging es Nathan? Was war nur los?

„Nathan?", meine Stimme hörte sich mehr wie ein Schluchzen an. „Nathan? Nathan? Nathan? Na... pa? Papa? Papa wo bist du?" Die Tränen fühlten sich heiß auf meiner Haut an. Ich schloss die Augen krümmte mich zu einer Kugel zusammen und ließ meiner Trauer freien Lauf.

Jetzt konnte ich es endlich! Trauern! Um meine Eltern. Davor war es so ein befremdliches Gefühl gewesen, um jemand traurig zu sein, an den man sich nicht erinnern konnte. Doch jetzt erinnerte ich mich!

Die Trauer übermannte mich. Ich vermisste sie so sehr! Meine Mama! Ich konnte mich erinnern, wie sie mir als kleines Kind die Haare gebürstet und geflochten hatte. Wie ich mit ihr einkaufen war und sie mir geduldig meine neugierigen Fragen beantwortet hatte. Ich erinnerte mich, wie sie mir die ersten Buchstaben und Zahlen beigebracht hatte. Wie wir zusammen gekocht und gebacken hatten. Ich konnte mich noch genau an den Kuchen erinnern, den wir damals für Vater gebacken hatten. Ein Kuchen mit fein geriebenen Nüssen und einer leckeren Schokoladenglasur.

Es war nun schon dreizehn Jahre her. Ich war damals sechs und hatte das einfach nicht verstanden. Außerdem hatte wir dann dieses kleine Baby, das Jason, der schon elf war, nicht eines Blickes gewürdigt hatte.

Vater kam nur ein paar Tage nach Mutters Tod an. Naley kam einfach zu früh und Mutter war krank. Hätte sie Naley nicht früher bekommen, wäre auch er gestorben. Als kleines Mädchen, hatte ich zum Glück nicht auf meinen großen Bruder gehört, der mir hatte einreden wollen, dass Naley tatsächlich für Mamas Tod verantwortlich war. Zum Glück kam Vater dann und war ein ganzes Jahr dageblieben um sich um uns zu kümmern.

Als er wieder gehen musste, wollte er uns mitnehmen, doch Jason hatte sich geweigert. Er konnte Vater nicht verstehen, der seine Familie, seine Frau und seine Kinder aufgab, um irgendwo anders zu wohnen und arbeiten. Wäre er da gewesen, wäre Mutter bestimmt nicht gestorben. Doch Papa kam so oft er konnte und er konnte ja auch nicht wissen, dass Naley früher kam und Mutter krank wurde.

Weder er noch Naley konnten etwas für Mamas Tod!

Papa wollte Jason nicht gegen seinen Willen mitnehmen und hatte deshalb Nandy für uns besorgt, die von da an bei uns wohnte und sich um uns kümmern sollte.

Ich wusste noch, dass ich damals hin und her gerissen war. Ich wollte mehr als alles andere mitkommen und bei meinem Vater bleiben. Doch ich hing an meinem großen Bruder. So war ich erleichtert, dass Vater für uns diese Lösung besorgte. Nandy war toll und selbst Jason mochte sie auf Anhieb!

Doch nun lebte niemand mehr. Nicht Mama, nicht Nandy und auch nicht Papa! Ich zog die Nase hoch.

Papa war noch nicht tot, als er mir den Brief geschrieben hatte. Er muss ihn ungefähr zehn Tage, bevor ich mich mit Nodin im Wald verirrt hatte und er vor dem Grünfuchs gescheut hatte, geschrieben haben. Er war mein Papa! Er war zusammen mit Jason mein größtes Vorbild und ich liebte ihn so sehr!

ForgottenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt