Vorher

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Es war ein normaler Morgen im Oktober, als Louvisas Geschichte ihren Lauf nahm.

Der Nieselregen, der über dem Meer zu einem regelrechten Sturm heranwuchs, war typisch für den Herbst, wurde meist von dichtem Nebel begleitet und kündigte den baldigen Winter an. Für die Wikinger, die auf der kleinen Insel mitten im Ozean lebten, war das allerdings kein Grund zur Trauer, denn wer die eine Hälfte des Jahres im Schnee und die andere im Regen verbringt, lernt auch das früher oder später zu schätzen. Man könnte also behaupten, dass Vernell eine überaus gewöhnliche Insel war, und vielleicht war dem auch so, aber für Louvisa war sie der schönste Ort der Welt. Sie konnte auch nicht von sich behaupten, viel mehr von ebenjener gesehen zu haben, doch ihre Geschichte band sie an diese Insel.

Seit Generationen lebten ihre Vorfahren hier, abgeschnitten von anderen Stämmen. Hin und wieder gab es Neulinge auf der Insel, doch die meisten Familien waren so tief mit der Insel verwurzelt wie die alte, knorrige Eiche, die in der Mitte des Dorfes wuchs. Genauso erging es auch Louvisa, die als älteste Tochter des Häuptlings eine besondere Verbundenheit mit Vernell empfand. Jedes Kliff, jede Bucht, jeden Strand, jeden Baum, jeden Berg und jedes Tal konnte sie bereits benennen, seit sie sechs Jahre alt war. Es gab wohl kaum einen Platz, den sie nicht bereits kannte. Wenn man etwas über die Geheimnisse dieser Insel wissen wollte, wäre Lova schon als kleines Mädchen die perfekte Ansprechpartnerin gewesen. Auch jetzt, 18 Jahre später, hatte sich daran nichts geändert.

Ein Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie mit wehendem Haar den Gebirgskamm entlang rannte, an welchem ihr Dorf lag. Sie wusste genau, wohin sie ihre Füße setzen musste, um nicht zu stolpern, also konnte die Wikingerin es sich erlauben, den Blick schweifen zu lassen.

Vernell, denn so war sowohl der Name des Dorfes als auch der Insel, lag in einem Tal, eingerahmt von einem kleinen Gebirge, auf dessen höchsten Bergen zu jeder Jahreszeit Schnee lag. Gesäumt wurde es von dem grünsten Gras, welches das Inselreich zu bieten hatte. Dementsprechend viele Yaks und Schafe hielten sie hier, die frei auf den Hängen grasten und von vereinzelten, schläfrigen Männern oder Frauen beobachtet wurden. Wegen des Viehs wäre das nicht nötig gewesen, denn die Tiere waren faul und suchten nur nach dem nächstbesten Grasbüschel. Sie sorgten sich lediglich wegen der Drachen.

Beim Gedanken an die fliegenden Reptilien legte Louvisa den Kopf in den Nacken und suchte mit zusammengekniffenen Augen den Himmel ab. Wie immer erkannte sie einige dunkle Umrisse zwischen den grauen Wolken, doch keiner von ihnen kam dem Dorf bedrohlich nahe oder zeigte ungewöhnliche Ausmaße. Sie stieß ein beruhigtes Seufzen aus und konzentrierte sich wieder auf ihren Weg, ehe sie doch noch stolperte. Auch wenn die Wikingerin jede Unebenheit im Schlaf kannte, wollte sie sicher nicht riskieren, sich wegen eines ungünstig platzierten Steines den Knöchel zu brechen. Schon gar nicht, weil sie den Blick mal wieder nicht von den hoch über ihnen kreisenden Drachen lassen konnte.

Ebenjene waren, so hatten die Dorfältesten es ihr beigebracht, keine Bedrohung. Die Tage der Kämpfe auf der Insel waren schon seit einigen Jahren vorbei und sie hatten ihren Frieden mit den Drachen geschlossen. Hin und wieder verschwand zwar mal ein altes oder krankes Schaf von den Weiden und auch die dichten Wälder gehörten den geflügelten Reptilien, doch dafür ließen sie die Menschen und die Felder in Ruhe. Das führte einerseits zu einer satten und gesunden Bevölkerung und andererseits zu amüsanten Erlebnissen mit den Drachen. Einmal war ein besonders neugieriger Schrecklicher Schrecken in dem eigens für die Wintersonnenwende vorbereiteten Eintopf gelandet, was bei den Kindern für Gelächter und bei den Kriegern für einigen Unmut gesorgt hatte. Dennoch war ihnen in Vernell nichts wichtiger als der Frieden – niemals würden sie freiwillig einen erneuten Kampf anzetteln, sei es gegen Menschen oder die Drachen.

„Verteidigung", pflegte ihr Vater zu sagen, „ist der einzig berechtigte Angriff."

Genauso hielt es Vernell also schon seit dem Beginn seiner Zeit als Häuptling, was sowohl Wirtschaft, als auch der allgemeinen Zufriedenheit der Menschen zugutekam. Dennoch hielt der Häuptling es für wichtig, dass seine Nachfolgerin und Tochter lernte, wie man sich verteidigte. Nun war Louvisa also auf dem Weg zu ihrem Vater, um wie jeden Tag eine Stunde seiner kostbaren Zeit in Anspruch zu nehmen und das Kämpfen zu lernen.

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