Kapitel 9

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Es dauerte mehrere Wochen, bis der Drache nicht mehr mit einem Bein im Tode stand. Während dieser Zeit hatte Lova gejagt, die Insel weiter erkundet, mit dem Bau eines Unterschlupfs begonnen (wobei die Zeltgerüste außerordentlich nützlich waren) und alles versucht, um den Wechselflügler zu heilen. Alles in allem tat sie genau das gleiche wie auf der Insel davor, nur mit einem anderen Drachen an einem anderen Ort. Sie hatte keinen weiteren Hinweis auf die von Viggo erwähnten Drachen gefunden, weder das Heißwasser-Monster noch irgendeinen Anderen. Selbst Schreckliche Schrecken ließen sich hier nicht blicken, als wäre diese Insel bis vor kurzem noch von etwas deutlich Schlimmerem bevölkert wurden war. Wenn Lova sich ihren schuppigen Patienten ansah, wusste sie auch genau, von welchen Wesen hier die Rede war. Warum die Wechselflügler allerdings geflohen waren, konnte sie sich nicht erschließen.

Mit einem Kopfschütteln zwang sie sich, sich auf etwas weitaus wichtigeres zu konzentrieren: Die Jagd. Sie würde noch genug Zeit haben, sich über Viggos Pläne den Kopf zu zerbrechen, wenn sie von dieser Insel wegkam und nach ihm suchen konnte. Und bei allen Göttern der neun Welten, sie würde hier wegkommen und ihn aufspüren, selbst wenn sie jeden verdammten Stein des Inselreiches einzeln umdrehen müsste. Was sie dann mit ihm anstellen würde, darüber war sie sich noch nicht ganz im Klaren, aber sie würde-

Ein Knacken im Gebüsch ließ Lova mit gespanntem Bogen herumfahren. Hinter ihr, genauso verdutzt wie sie, stand der Wechselflügler auf den Hinterbeinen und starrte sie mit schief gelegtem Kopf an. Sie konnte sich ein belustigtes Prusten nicht verkneifen und ließ den Bogen sinken. „Hallo, Kleiner", sagte sie grinsend und der Wechselflügler gluckste zur Begrüßung. Dieses überaus amüsante Geräusch hatte er sich in den letzten Wochen irgendwo abgeschaut und seitdem beibehalten, sehr zu Lovas Belustigung. Auch ihre nachdenklich oder aufmerksam schief gelegte Kopfhaltung hatte er sich angeeignet. Es schien sich bei dem Drachen um ein ziemlich junges Tier zu handeln, welches die Wikingerin mittlerweile als Mitglied seines Rudels akzeptiert hatte. Anders konnte sie sich seinen amüsanten Hang zur Nachahmung nicht erklären.

Die Wikingerin schlug ihren hellroten Mantel aus Wechselflüglerhaut zurück und auch der Rest ihres Körpers wurde sichtbar, sobald ihre Haut die Kapuze nicht mehr berührte. Ein überaus nützlicher Kniff, den sie im Laufe ihrer Zeit hier gelernt hatte. Der Drache beobachte, wie der Stoff in schuppigen Wellen wieder Farbe annahm und ihr mittlerweile wieder erstaunlich langes, zu einem eleganten Zopf geflochtenes Haar samt zwei leuchtenden, grauen Augen freigab. Auch ihr muskulöser, von der Zeit ohne ausgewogene Nahrung sehniger Körper wurde sichtbar, verschwamm allerdings mit den dunklen Schatten ihres weiten Mantels. Sie hatte ihn aus der verlorenen Haut des jungen Wechselflüglers gefertigt, als dieser seinen ersten Wachstumsschub seit langem erlebte. Für einen Drachen seiner Art schien er für sein Alter ungewöhnlich klein gewesen zu sein, als sie ihn fand, was sich auf die mangelnde Nahrung zurückführen ließ. Seit der Kleine aber regelmäßig fraß und sogar selbst jagen konnte, konnte man ihn gar nicht mehr als „klein" bezeichnen. Mittlerweile überragte er Lova um mindestens zwei Köpfe.

Diese lächelte jedoch nur und streckte die Hand nach ihrem Schützling aus. Vertrauensvoll rieb er seinen Kopf daran, darauf bedacht, ihre weiche Haut nicht mit seinen rauen Schuppen aufzureiben. Sie spürte die Wärme seines Körpers unter ihren Fingern, aber er fühlte sich nicht mehr so fiebrig heiß an wie noch vor nicht allzu langer Zeit. Das Fieber hatte sich hartnäckig gehalten, bis auch die letzte seiner entzündeten Speerwunden geheilt war. Trotz der enormen Selbstheilungskräfte eines Drachen war das alles andere als einfach gewesen. Lova hatte einige Bisse abbekommen, wenn sie ihn mit Salzwasser behandelt hatte. Umso froher war sie gewesen, als sie endlich eine Weide fand und so auf Rinde umsteigen konnte, um die Entzündungen zu bekämpfen, auch gegen das Fieber und die Schmerzen hatte die Wunderpflanze dem Wechselflügler geholfen.

Lova kraulte den Drachen unterm Kinn und ließ sich neben ihm gegen einen Baumstamm sinken. Er tat es ihr nach und nahm die Farbe des Laubes unter ihm an. Einzig sein Kopf, den er in ihrem Schoss betete, stach noch heraus, denn die grünen Augen hatte er genießerisch geschlossen. „Eigentlich wollte ich mich um dein Abendessen kümmern", meinte Lova belustigt, ließ aber Bogen und Köcher neben sich liegen. Der Drache grollte beleidigt und zog mit dem Schwanz ein totes Kaninchen heran. An den Bissspuren im Nacken des Tieres erkannte sie, dass ihr Schützling es selbst erbeutet haben musste. Sie lächelte stolz und klopfte dem Drachen anerkennend die Flanke. „Gute Jagd", meinte sie lobend. „Aber ich muss auch was essen, schon vergessen?" Der Wechselflügler öffnete ein grünes Auge, um sie von unten mit vorwurfsvollen Blicken zu bedenken. Den Schwanz hatte er jetzt um ein ebenfalls selbst erbeutetes Rebhuhn geschlungen, welches er vor ihrer Nase baumeln ließ. Lova musste lachen, als die Federn sie in der Nase kitzelten und schob den Vogel beiseite. „Verstanden, du großer, verantwortlicher Junge", neckte sie den Drachen und tippte ihm gegen die Nase. „Hast du super gema-" Ein feuriges (im wahrsten Sinne des Wortes) Schnauben unterbrach sie und versengte eine vorwitzige Haarsträhne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte. Beleidigt starrte der Drache zu ihr hoch und schien auf eine Entschuldigung zu warten.

„Was denn?", fragte Lova empört und stopfte ihr Haar sicherheitshalber nach hinten in ihre Kapuze. Der Wechselflügler schnaubte und tippte unsanft mit der Schnauze gegen ihre Brust. „Was soll das?", hakte sie nach und sah, wie er die grünen Augen verdrehte. Könnte er sprechen, hätte er ihr vermutlich gesagt, sie solle mal scharf nachdenken. „Ich hab doch nur gesagt, dass du ein verantwortlicher Junge bist", sagte sie verwirrt und der Drache knurrte. Funken stoben um seine Schnauze, als Lova endlich verstand.

„Du bist ein Weibchen?", fragte sie lachend und der Wechselflügler grollte zustimmend. Die Wikingerin kraulte sie beruhigend unter dem Kinn und der Drache erklärte sich bereit, seinen Kopf wieder auf ihrem Bauch abzulegen. „Ein Mädchen also?", fragte Lova und der Wechselflügler grollte wieder, zustimmend, aber auch ein wenig genervt. Vermutlich fragte sie sich, warum Menschen so begriffsstutzig waren.

„Dann brauchen wir einen Namen für dich, meinst du nicht?" Auf Lovas Frage hin verengten sich die grünen Augen des Drachen zu schmalen Schlitzen und er legte abwägend den Kopf schief. „Etwas Elegantes", erklärte die Wikingerin schmunzelnd. „Es muss zu dir passen." Jetzt sah der Wechselflügler ziemlich selbstgefällig drein und brachte Lova damit zum Lachen. Dann wurde sie wieder ernst und musterte den Drachen nachdenklich. Als Wechselflügler war sie ein mystisches Wesen, voller Geheimnisse, sie konnte in der einen Sekunde in hellen rot erstrahlen und in der nächsten mit dem matschigen, braunen Erdboden verschmelzen. Lovas eigener Name beispielsweise bedeutete so viel wie „Die berühmte Kriegerin", was in ihren Augen ein absolut unpassender Name war für so ein undurchschaubares Wesen. Was passte zu einem Drachen, der so machtvoll wie schön, so mystisch wie klug war?

Dann fiel es ihr wie die sprichwörtlichen Schuppen von den Augen. „Runna", erklärte sie dem Drachenweibchen stolz und lächelte, als der Wechselflügler daraufhin seinen Kopf an ihrem rieb, als ob sie sich bedanken wollte. „Ein geheimnisvoller Name für einen wunderschönen Drachen", murmelte Lova gegen die warmen Schuppen und spürte kaum, wie Runna sie mit einem Schwung ihres Flügels auf ihren Rücken beförderte. Erst als der Drache in die Lüfte stieg, sah sie auf und blickte von oben auf die Insel.

„Wir fliegen", rief Lova aus und schlang die Arme vorsichtig um den Hals des Wechselflüglers. „Du kannst wieder fliegen, Kleine."

Als Runna diese Worte hörte, stieß sie einen Feuerstoß aus und verlieh dem leuchtend blauen Himmel für einen Moment hellgelbe Sprenkel. Lova musste keine Drachenexpertin sein um zu verstehen, dass es sich um ein Freudenfeuer handelte. Sanft strich sie ihrem Drachen über den Rücken, ehe sie sich langsam zurücklehnte und sich die goldene Sonne ins Gesicht scheinen ließ. Angenehm kühler Wind strich über ihre Haut und ein irres Lächeln breitete sich auf Lovas Gesicht aus. „Wir sind frei", murmelte sie ungläubig. „Du fliegst und wir sind frei!"

Genau in diesem Moment schlug Runna einen Salto in der Luft, jagte zwischen zwei emporragenden Felsen hindurch und stieg dann immer höher und höher, bis Lova die Wolken hätte berühren können, wenn sie nur die Hand ausstreckte. In einer fließenden Bewegung drehte sie sich auf dem Rücken des Drachen, sodass sie auf dem Bauch lag und an Runnas Flügel vorbei auf die Insel sehen konnte. Die Sehne ihres Bogens schnitt unangenehm an ihrer Schulter, doch es hätte der Wikingerin kaum weniger gleichgültig sein können. Ihr kleiner Fleck Land mitten im Ozean war jetzt nur noch winziger, ein kleiner Tupfen Grün im endlosen Blau. Wie hatte Viggo je glauben können, dass er sie hier festhalten könnte? Alles war so unbedeutend hier oben. Von hier könnte sie ihn und seine Schiffe nicht einmal erkennen, wenn sie es versuchen würde. Hier oben würde sie niemanden jemals mehr fürchten müssen. Eher würde man sie fürchten.

Lova lachte, so befreit wie seit Monaten nicht mehr und lehnte die Stirn gegen Runnas Hals. Der Drache stieß ein ekstatisches, glückliches Grollen aus und für die Wikingerin klang es fast so, als würde er ihr Lachen kopieren. Sie schlang die Arme wieder um den Hals des Wechselflüglers, um nicht den Halt zu verlieren, ehe sie flüsterte: „Dann zeig mir mal, was du kannst." Und das ließ Runna sich nicht zweimal sagen.


Wenn irgendwer die Beiden da oben umherfliegen gesehen hätte, er hätte sich selbst für verrückt erklärt. Nach den Monaten gemeinsam und dem Vertrauen, welches sich in dieser Zeit aufgebaut hatte – Lova hatte mehr Nächte über den damals noch halbtoten Drachen gewacht, als sie zählen konnte –, waren sie jetzt, hoch oben in der Luft, ein unschlagbares Team. Die Wikingerin spürte sofort, wenn der Drache entweder zum Sturzflug ansetzte oder sich steil aufwärts in die Lüfte schraubte. Synchron machten sie sich unsichtbar und verschwanden im hellen Blau des Himmels oder in den weichen, weiß-goldenen, sonnenbeschienen Wolken. Für Lova war das nur dank dem Mantel aus Runnas Schuppen möglich, dessen Kapuze sie sich über den Kopf gezogen hatte, damit der unbarmherzige Wind nicht durch ihr dunkelbraunes Haar fuhr. Es war wohl das beste Geschenk, das sie jemals erhalten hatte. Ein Umhang, der unsichtbar machte, wenn man nur die Kapuze aufsetzte, war das nicht unglaublich?

Noch nie hatte Lova sich so frei gefühlt wie auf dem Rücken ihres Wechselflüglers. Es war, als hätte sie jeden Ballast am Boden zurückgelassen, als würde jede Narbe hier oben verblassen. Selbst das Brandzeichen, welches so tiefe Furchen in ihren Rücken gegraben hatte, war niemals Teil dieses Fluges. Sie konnte die Schmerzen vergessen, während das Adrenalin durch ihre Adern rauschte und sie Höhen erreichte, zu denen kein erklommener Gipfel dieser Welt sie je bringen könnte. Als der Wechselflügler erneut zu einem Sturzflug ansetzte, breitete Lova die Arme aus und spürte, wie der Wind unter ihr hindurch fuhr und ihren Mantel wie Flügel aufsteigen ließ. Die Sonne wärmte ihr den Rücken und verlieh ihren braunen Haaren die Farbe von dunklem, geschmolzenem Gold. Sie hätte schreien können vor Glück, während der Strand in atemberaubendem Tempo immer näher kam. Ihre Wangen waren gerötet vor Aufregung, in all den Jahren hatte sie sich nie so jung und leichtsinnig gefühlt, als könnte sie Berge versetzen oder in eine Schlacht ziehen, ohne einen Kratzer davonzutragen.

Natürlich kamen die Beiden unsanft auf dem Boden auf, weil Runna nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte. Natürlich waren sie über und über mit Sand bedeckt. Natürlich hatten sie sich die ein oder andere Schürfwunde bei ihrem Aufprall zugezogen. Aber natürlich lachte Lova fröhlich, an die Flanke ihres Drachen gelehnt. Sand rann über ihr Gesicht, als sie den Kopf schüttelte, um die nervenden Körner aus ihrem Haar zu vertreiben, aber es war ihr egal. Runna gluckste wieder, genauso befreit und glücklich wie ihre Reiterin, die Schuppen warm von der Sonne. Auch sie war voller Sand, ihr schlanker, orange-roter Körper war beige-grau gesprenkelt, aber in ihren grünen Augen spiegelten sich Meer, Himmel und Wolken. Lova konnte sich nicht satt sehen an dem wunderschönen Drachen. Kaum daumenbreite Narben waren an ihrem Bauch zurückgeblieben, aber nach Wochen voller Pflege hatte sie dieses Wesen zurück ins Leben gebracht. Runna konnte wieder fliegen, sie hätte die Wikingerin zurücklassen können, aber stattdessen hatte sie sie mitgenommen auf ihren ersten Flug, der sich besser angefühlt hatte als jede Magie der Götter.

„Wirst du bei mir bleiben?", fragte Lova ihren Drachen leise. Sie spürte, wie Runna den Schweif um ihren Körper schlang, die Schuppen kitzelten unter ihrem Kinn. Auf Lovas Schulter ruhte der Kopf des Drachen, sie konnte ihre warmen Atemzüge an ihrem Nacken spüren. „Ist das ein Ja?" Der Wechselflügler öffnete ein smaragdgrünes Auge, um sie anzusehen. Wärme lag darin und die Art von Liebe, die man einem Familienmitglied entgegenbrachte. „Zwei Lebewesen ohne Familie und Heimat", flüsterte Lova und strich ihrem Drachen sanft über die Schnauze. „Wenn du mich lässt, kann ich dir beides sein." Runna stieß wieder ihr übliches Glucksen aus und stupste der Wikingerin liebevoll gegen die Stirn. Lova lächelte und verharrte einen Moment Stirn an Stirn mit dem Wechselflügler. Wärme strömte durch ihren Körper, von der gleichen Art, wie sie es bei dem Skrill gespürt hatte, nur dieses Mal ohne den bittersüßen Schmerz des Abschieds. Bei Runna würde Lova Berge in Bewegung setzen, damit es niemals so weit kommen würde.

„Begleitest du mich dann zu einer meiner wahnsinnigsten Aktionen?", fragte sie dann leise und spürte Runnas fragenden, aber auch aufgeregten Blick auf sich. Als junges Drachenweibchen sah sie alles wahnsinnige vermutlich als überaus aufregend an. Lova konnte es ihr nicht verübeln, war sie doch selbst einmal so abenteuerlustig gewesen. „Ich muss den Mann wiederfinden, der mich hier ausgesetzt hat. Er und ich, wir haben noch eine Rechnung zu begleichen. Außerdem..." Lova stockte, der Mann mit den Feuerschweifen tauchte in ihren Gedanken auf. War er mittlerweile an Macht gekommen? Hatte er die gewünschten Drachen erlangt? War die Welt, die sie kannte, getaucht in Feuer und Asche? Wie gefährlich war dieser Mann wirklich?

Sie nahm einen tiefen Atemzug. Der vertraute salzige Geruch des Meeres mischte sich mit Runnas Duft nach Feuer, Moos und dem Harz der Nadelbäume, unter denen sie am Liebsten schlief. Beinahe sofort kehrte Ruhe ein in Lovas aufgeregten Geist. Das hier würde nie ihre Heimat sein, war es doch nur ein kurzes Kapitel in ihrem Leben gewesen, aber ihre Gedanken würden immer hierher zurückkehren, wenn sie Ruhe suchten.

„Außerdem", begann Lova entschlossen erneut. „Haben er und ich ein gemeinsames Ziel. Und so, wie ich Viggo kenne, könnte er einen ordentlichen Tritt in den Hintern gebrauchen, damit er von seinem hohen Ross heruntersteigt."

Runna gluckste und Lova brachte ein leises Lächeln zustande. Sie strich ihrem Drachen sanft über die Schnauze und den Hals, fand ihren Schwachpunkt und beobachte schmunzelnd, wie Runna genüsslich die grünen Augen schloss. Sie wusste nicht, ob sie den nächsten großen Fehler beging, wenn sie zu Viggo zurückkehrte, aber sein Gespräch mit dem Drachenjäger im Frachtraum ließ sie zögern. Er glaubte, sie würde aus Rache zurückkehren, nachdem dieser Mann namens Krogan seine Aufmerksamkeit wichtigeren Dingen zugewandt hatte. War ihre „Verbannung" auf dieser Insel wirklich zu ihrem Besten gewesen? Hatte er, der berechnende Geschäftsmann, sie tatsächlich beschützen wollen? Das war so unvorstellbar, dass sie es bisher vermieden hatte, darüber nachzudenken. Vermutlich steckte irgendein Plan dahinter, den sie bisher nicht verstand. War es bei ihm nicht immer so? Skrupellos, immer ein Ass im Ärmel, aber gleichzeitig so charmant, dass man manchmal vergaß, dass hinter seinem Lächeln Reißzähne steckten. Aber ihr gegenüber hatte er diese nur ein einziges Mal gezeigt. Und das war gewesen, nachdem sie ihn mit einer Axt bedroht und ihm die Nase gebrochen hatte...

Was waren seine Intentionen mit ihr? Was wollte er von ihr? Woher kam sein Interesse an ihr, nachdem sie drei Jahre lang nur eine Köchin und Heilerin gewesen war? War es wirklich nur die Flucht auf dem Skrill gewesen? Hielt er sie seitdem für so intelligent, wie er behauptet hatte? Aber warum hatte er ihr diese Geschichte aus seiner Kindheit erzählt? Nur wegen des Versprechens? Aber das war absurd, warum sollte er solche Schwäche zeigen? Was ging diesem Mann durch den Kopf? Welches Ziel verfolgte er? Und warum... Lova rieb sich die schmerzenden Schläfen und verbot sich, weiter an Viggo zu denken. Er warf mehr Fragen auf, als er beantwortete und sie hatte weder Zeit noch Nerven, sich mit seinen Rätseln herumzuschlagen.


Die Wahrheit war allerdings, dass Louvisa von Vernell eine außerordentlich neugierige Frau war. Nicht unbedingt leicht zu faszinieren, aber wenn etwas ihr Interesse auf sich gezogen hatte, dann wollte sie Antworten. Wer, wenn nicht sie, hätte den gefürchtetsten Drachenjäger des Inselreiches herausgefordert und auf seinen Platz in den heiligen Hallen von Walhalla schwören lassen?
So würde Neugier der Wind sein, der sie zurück in das Gebiet der Jäger wehte, kein unbarmherziger Sturm der Rache. Ja, Lova hatte einige Überraschungen auf Lager. Denn das letzte bisschen des eingeschüchterten, dummen Mädchens, welches ihren Stamm verloren hatte, war auf dieser Insel endgültig gestorben. Von der Häuptlingstochter war nichts mehr übrig, so sehr hatte sie sich verändert. Erfahrungen ändern Menschen am Ende doch mehr als Worte, Taten waren mehr wert als Geschwätz. Und die letzten Wochen waren, genau wie die Monate, die noch folgen würden, voller Taten, die manchmal besser ohne Worte blieben.

ClematisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt