Kapitel 61 (2)

66 5 0
                                    

„Du musst dich beruhigen", sagte Finn mit leiser Stimme, während seine Hände tröstend über ihren Rücken strichen. Lova wusste, dass er das Beste für sie wollte, dass er versuchte, ihre Schmerzen zu lindern, doch es gab nichts, was die gähnende Leere in ihrem Inneren füllen konnte. Nichts, außer die Angst, die in ihr brodelte. „Sag mir, was passiert ist", flehte sie und sah aus tränenverschleierten Augen zu ihm hoch. „Bitte. Ich muss... ich muss wissen, was vorgefallen ist."

Mitleid blitzte in Finns Augen auf. Lova wusste, dass der Mann sie verstehen musste; für seine Frau Adaja hatte er die Wikingerin an Johann verraten. Ihm war zu verdanken, dass Lova vor nicht allzu langer Zeit um Viggos Leben hatte bangen müssen, und nun wiederholte sich diese Geschichte erneut. Was, wenn es dieses Mal keine Rettung in letzter Sekunde gab?

„Ich weiß nicht alles", gab Finn zu, doch Lova schüttelte eilig den Kopf. „Das ist mir egal", sagte sie, so entschieden, wie es mit feuchten Wangen und rotgeweinten Augen möglich war. „Ich muss wissen, was mit Viggo passiert ist. Sag es mir, ich flehe dich an..."

„Er kam mit dem Skrill und diesem Drachenreiter hier an", begann Finn. Hinter ihm stieß der Skrill ein zustimmendes Grollen aus, doch es klang erschöpft und ausgelaugt. Was immer geschehen war, es hatte nicht nur den Menschen hier alles abverlangt, sondern auch einem mächtigen Wesen wie ihm. „Ich habe den größten Teil nur von den anderen Jägern gehört, doch anscheinend wollte er etwas von Johann. Ob er es bekommen hat, das weiß ich nicht, aber... Dem Jungen ist die Flucht gelungen. Viggo hat ihm einen Weg nach draußen verschafft und sich für ihn einer Gruppe Jäger entgegengestellt. Er hat sich für ihn geopfert, um Johann aufzuhalten."

„Geopfert?", echote Lova. Das Wort hatte einen endgültigen Klang und schmeckte faulig in ihrem Mund, als sie es aussprach. So verdorben wie der Tod, der über ihnen hing. Wenn Finn die Wahrheit sprach, war Viggo bereit gewesen, sein Leben für Hicks zu Opfern. Für Hicks. Für den Mann, den er monatelang mit allen Mitteln bekämpft hatte, um mithilfe der Drachenjagd weiterhin Ruhm und Prestige zu erlangen. Viggo hatte sich geändert in den letzten Monaten, das wusste sie, doch... Wenn diese Geschichte stimmte, dann hatte er sich endgültig auf die richtige Seite gestellt und dafür bezahlt. Teuer bezahlt. Wenn sein Leben hier endete, wäre es eine so ungerechte Tat, dass die Wikingerin es den Göttern niemals verzeihen würde.

„Er hat sich gegen neun Jäger gestellt", sagte Finn. „Allesamt bis an die Zähne bewaffnet, und er war schon verletzt. Vier Pfeile, und Viggo stand noch aufrecht, bereit, es mit ihnen allen aufzunehmen. Es ist dem Skrill zu verdanken, dass wir es lebendig raus geschafft haben, aber ich habe in meinem Leben nie eine mutigere Tat gesehen." In seiner Stimme lag Ehrfurcht und Bewunderung. Gefühle, die Lova geteilt hätte, wenn da nicht die Wut in ihrem Bauch gewesen wäre.

„Ich hätte bei ihm sein sollen", erklärte sie und stieß einen zornigen Schrei aus, voller Hass auf sich selbst. Viggo hatte sich geopfert, um dem Drachenreiter die Chance zu geben, Johann und Krogan zu besiegen, und zum Dank überließen die Götter ihm seinen Schicksal, ließen ihn im Dreck zurück, während sie sich abwandten. „Ich hätte ihn davon abhalten können, hätte ihn retten können, ich hätte..." Finn fiel ihr ins Wort, Mitleid triefte förmlich aus seiner Stimme. „Niemand hätte Viggo von seinem Plan abbringen können", erklärte er in dem Versuch, sie zu trösten. „Niemand kann den Weg beeinflussen, den die Götter für uns auserkoren haben."

So, wie er das sagte, klang es unausweichlich. Man folgte dem Pfad, dem man folgen sollte, und dieser Pfad hatte keine Kreuzungen, keine Einmündung, keinen anderen Weg. Es stand in den Sternen geschrieben, es war der Lauf der Welt, der Wille der Götter. Alles schöne Beschreibungen, um die Grausamkeit des Schicksals weniger schrecklich erscheinen zu lassen. Aber Lova hatte noch nie viel auf das Schicksal gegeben. Warum leben wir denn, wenn wir nur den uns gegebenen Pfad entlangtrotten, ohne eine Abweichung, ohne Freiheit?", das hatte sie damals zu Viggo gesagt, als er sie nach dem Schicksal gefragt hatte. An ihrer Meinung hatte sich seitdem nichts geändert.

ClematisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt