Kapitel 50

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„Was denkst du, wird er es schaffen?", fragte Lova und schielte nervös über Adajas Schulter auf die mit Kräutersäften und Honig bedeckte Stichwunde an Viggos Bauch.

„Das wird er, wenn du mich meine Arbeit machen lässt", gab die Wirtin zurück und schob Lova sanft von sich weg. „Du stehst mir im Weg." Adaja tadelte sie mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen, doch die steile Falte zwischen ihren Brauen verriet ihre Anspannung. „Tut mir leid", sagte Lova kleinlaut und räusperte sich verlegen. „Ich habe nur..." - „Angst?", fragte Adaja, als die Stimme der Wikingerin versagte. „Das verstehe ich, wirklich." Sie nickte Lova aufmunternd zu und klopfte ihr mit einer blut- und pflanzensaftverschmierten Hand auf die Schulter. „Aber du hilfst weder ihm noch dir, wenn du dich so fertigmachst."

„Ich habe nur das Gefühl, dass ich..." Lova stockte, ehe sie ein frustriertes Schnauben ausstieß und sich die Haare raufte. „Was, wenn ich alles falsch gemacht habe und sich Viggos Zustand meinetwegen so verschlechtert hat? Ich bin keine Heilerin, ich..." Ihre Stimme brach. „Ich habe nur versucht, ihn am Leben zu halten, aber was, wenn er jetzt meinetwegen stirbt?" Sie steigerte sich in etwas hinein, das spürte sie, doch Lova hatte nicht die Kraft, sich zurückzuhalten. Die Tage, die sie allein in einer stillen Hütte verbracht hatte, nur in Gesellschaft eines Halbtoten, dessen wächsernes Gesicht mit jeder Stunde blutleerer und dessen Wangen immer hohler zu werden schienen, hatten Spuren hinterlassen. Und jetzt, wo sich alles entscheiden würde, wo eine Münze geworfen wurde, deren eine Seite den Tod und die andere das Leben brachte, da fragte sie sich, ob sie diesen Wurf hätte verhindern können, wenn sie nur einmal genug gewesen wäre.

Lova spürte heiße Tränen über ihre Wangen fließen, während sie sich die Unterlippe blutig biss in dem verzweifelten Versuch, ein Schluchzen zurückzuhalten. „Tut mir leid", murmelte sie. „Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid." Sie wusste nicht, ob ihre Worte an Adaja oder an Viggo gerichtet waren, doch natürlich war es die Wirtin, die ihr eine Antwort gab.

„Louvisa", sagte sie eindringlich. „Ohne deine Kenntnisse wäre Viggo gestorben. Du hast getan, was du konntest, mehr kann niemand verlangen."

„Was, wenn er stirbt, ehe ich..." Lova hielt inne und schüttelte den Kopf, schüttelte die verräterischen Worte von ihrer Zunge. „Dann hätte Johann gewonnen", sagte sie stattdessen, wählte die Variante, bei der sie sich nicht mit dem Chaos in ihrem Inneren befassen musste. Doch Adajas mildes Lächeln ließ darauf schließen, dass sie es ohnehin erraten hatte.

„Er wird nicht sterben", sagte die Wirtin, obwohl sie es gar nicht wissen konnte. „Ich lasse ihn nicht, so leicht ist das. Nehemia würde es mir nie verzeihen, wenn ihr einziger würdiger Keule-und-Klaue-Gegner tot wäre, ehe sie ihn in einem Duell schlagen könnte."

Adajas Antwort war so albern, dass sogar Lova lachen musste. Der Laut klang erstickt, heiser und fremd in ihren Ohren, doch es war ein Lachen, das Erste seit langem. „Ich wünschte, das Leben würde so funktionieren", sagte sie dann. „Es wäre zu einfach, nicht?", fragte Adaja und schüttelte schließlich den Kopf. „Du solltest etwas frische Luft schnappen, rausgehen. Wie lange ist es her, dass du zum letzten Mal die Sonne gesehen hast?"

Verwirrt von dem plötzlichen Themawechsel brachte Lova erst nur ein Blinzeln zustande. „Ich sehe sie jeden Tag", antwortete die Wikingerin dann. „Aber ich konnte doch nicht..." Aus dem Augenwinkel sah sie zu Viggo, der noch immer reglos auf der Pritsche lag. „Ich konnte nicht einfach gehen."

„Jetzt kannst du es", gab Adaja zurück und Lova entging der fordernde Unterton in ihrer Stimme nicht. „Beruhige dich ein wenig, geh nach draußen. Ich hole dich wieder her, wenn sein Zustand sich ändert."

Die Wikingerin seufzte leise und rieb sich die Schläfen. Die endlosen Tage in einer stickigen Hütte hatten Kopfschmerzen zur Folge gehabt, die sie bisher geflissentlich ignoriert hatte, doch in Adajas Gegenwart trafen diese sie mit unerwarteter Härte. Vielleicht lag das an dem stechenden Geruch der Heilkräuter, der in der Luft lag, vielleicht an ihrer Ungeduld oder einfach nur daran, dass ihr Körper in so später Stunde Schlaf mehr als alles andere benötigte. Was immer es war, die Aussicht auf ein wenig frische Luft erhellte ihr Gemüt. Dennoch trat sie unsicher von einem Fuß auf den anderen, hin und her gerissen zwischen Adajas klaren Worten und ihrer Sorge um Viggo.

ClematisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt