Kapitel 35 (1)

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Schweigend saßen sie sich gegenüber, während Lova ihre Wunden säuberte und Honig auf ihre Handgelenke auftrug, damit diese sich nicht entzündeten. Erst die Splitter aus der Höhle des Sandspuckers, jetzt der Schotter von Adajas Kiesweg. Es wäre ein Wunder, wenn sie in den nächsten Tagen überhaupt in der Lage sein würde, ein Schwert zu halten. Dennoch waren die eingeübten Handbewegungen bei der Wundversorgung eine Wohltat für ihren aufgewühlten Geist.

Es beunruhigte sie noch immer, dass Viggo dem Handel mit Krogan tatsächlich zugestimmt hatte. Tatsächlich war ihre Angst vor dem, was noch kommen würde so groß, dass sie es kaum wagte, auch nur daran zu denken. Immerhin trug sie einen nicht unbeachtlichen Teil der Mitschuld an den Ereignissen, denn sie war es gewesen, die beinahe ihren Kopf hätte hinhalten müssen. Dabei hatte Lova geglaubt, dass Krogan ihr zwar folgen würde, sie ihn aber so geschickt von Viggo abbringen konnte... Es war ein Spiel mit der Zeit gewesen. Wäre Viggo ein wenig später aufgetaucht, hätte Lova ihren Feind entweder von ihrer angeblichen Unwissenheit überzeugen können oder er hätte nur ihren toten Körper gefunden. Beide Optionen behagten ihr deutlich mehr als der tatsächliche Ausgang der Geschehnisse. Aber weil alles so verlaufen war, wie es das eben getan hatte, brachte Lova gerade kein einziges Wort heraus, während ihre Gedanken sich im Kreis drehten.

Sie seufzte und stellte das Glas Honig beiseite, ehe sie den Kopf auf den Händen abstützte und den Blick schweifen ließ. Die Wikingerin beobachtete die Menschen, die fröhlich tanzten und mehr Met tranken, als es für das klare Denken zuträglich war. Sie sah den Frauen zu, die sich mit wehenden Röcken um sich selbst drehten und mit roten Wangen heimliche Blicke mit ihren Verehrern tauschten. Sie musterte die Händler, die mit großen Gesten und lauten Stimmen bei einem Glas Wein über Schiffsrouten und Handelsgüter diskutieren, während kleine Jungen und Mädchen ihnen aufmerksam lauschten. Wie gern hätte sie dieselbe Sorglosigkeit gehabt. Wie gern wäre sie ein weiteres Mal so unschuldig wie ein Kind, so geschwätzig wie eine Händlerin, so schön wie eine junge Liebe. Wie gern würde sie ihr jetziges Leben eintauschen gegen das, was sie auf ihrer Insel, auf Vernell, vielleicht noch hätte haben können.

„Ich wünschte, Ryker hätte meine Insel damals verschont."
Die unbedachten Worte kamen über ihre Lippen, ehe Lova sich eines besseren besinnen konnte. Es wäre allerdings auch möglich, dass es niemals eine Besinnung gegeben hätte. War es nicht genau das, was sie wollte? Den Frieden ihrer Insel, das vertraue Wogen des grünen Grases, das Meeresrauschen an den Klippen, die Umrisse der Drachen hoch über den Wolken. Die Gewissheit, einen festen Platz zu haben, der einen für immer an sein eigenes Volk binden würde. Es wäre gut möglich gewesen, dass sie sich niemals mit den Drachenjägern oder Krogan hätte herumschlagen müssen. Sie wäre für immer ein ehrgeiziges, naives Mädchen geblieben, selbst wenn ihr Haar eines Tages grau wäre vom Alter.

„Die Unveränderlichkeit des Vergangenen zu akzeptieren, gehört zu den grundlegenden Bedingungen des menschlichen Seins", gab Viggo leise zurück, obwohl sie schwören könnte, dass er schuldbewusst den Blick von ihr abwandte. „Wer das nicht zu erkennen vermag, ist entweder ein Träumer oder ein Dummkopf."

„Eine Träumerin war ich vor eurem Angriff", sagte Lova und stieß ein Seufzen aus. „Und ein Dummkopf danach." Sie konnte beinahe wieder Rykers wutentbrannten Blick vor sich sehen, als sie ihm bei ihrem ersten Treffen vor die Füße gespuckt hatte, beinahe wieder Viggos festen Händedruck spüren, als sie dem tödlichen Handel zugestimmt hatte. „Was macht das jetzt aus mir?"

„Eine Kriegerin", gab Viggo zurück, ohne auch nur einen Augenblick darüber nachzudenken. „Gezeichnet von Narben, geprägt von Erinnerungen und gesegnet von den Göttern." Bei den vertrauten Worten schlich sich die Andeutung eines Lächelns auf ihre Lippen. „Der Spruch meines Stammes", sagte Lova leise, Sehnsucht in ihren Worten. „Damals wollte ich nichts mehr, als eine Kriegerin zu werden."

Viggo legte ihr sanft eine Hand an die Wange und hob damit ihr Kinn, sodass sie ihm in die Augen sehen musste. „Glaubst du nicht, dass du schon längst zu einer geworden bist?", fragte er sie amüsiert. „Wer, wenn nicht eine Kriegerin, schaltet eigenhändig einen hungrigen Tödlichen Nadder aus, gewinnt gegen den Sandspucker, reitet auf einem Wechselflügler, entkommt einem der gefährlichsten Männer des Inselreiches und ist bereit, sich völlig auf sich selbst gestellt Krogan gegenüberzutreten?"

Lova lachte auf, auch wenn der Klang durch ihre aufkeimenden Tränen erstickt wurde. „Letzteres war weder erhofft, noch beabsichtigt", korrigierte sie ihn mit gedämpfter Stimme. „Und auf Vernell war es einst üblich, sich einer bedeutenden Prüfung zu unterziehen, ehe man sich als ehrenhafter Krieger..." Ein Gähnen zwang sie, ihre Erklärung für einen Augenblick zu unterbrechen. „... bezeichnen durfte."

„Ich würde behaupten, dass das Leben für die meisten eine ganz eigene Prüfung darstellt, nicht?", fragte Viggo, doch Lova war schon kaum noch in der Lage, zu antworten. Überwältigende Müdigkeit lähmte ihre Glieder, nachdem das Adrenalin und die Angst, die sie während und nach dem Angriff empfunden hatte, wohl endlich abgeklungen waren. Nicht einmal ihre alles verschlingende Panik vor dem Kommenden schaffte es, dass die Wikingerin die Augen offen halten konnte. Ihren Kopf lehnte sie mehr gegen seine Hand, als dass sie ihn noch selbst aufrecht hielt. In den letzten Jahren war sie stets wachsam gewesen, wenn sie schlief. Selbst das leiseste Rascheln im Gebüsch hätte sie geweckt, nur in Runnas Nähe hatte sie hin und wieder wirklich erholt ausschlafen können. Wer fühlte sich schon nicht sicher in der Nähe eines Säure speienden Drachens? Doch so, wie es gerade schien, konnte Viggo sich nun getrost zu jenen Lebewesen zählen, in deren Nähe Lovas Körper seine Müdigkeit zuließ.

„Soll ich dich nach oben bringen?", fragte Viggo, doch er ließ Lova kaum die Zeit für eine Antwort. „Gern", murmelte sie dennoch verschlafen, als er bereits vor ihr stand und ihr hilfsbereit den Arm anbot. Mit einem müden Lächeln hakte die Wikingerin sich bei ihm ein und ließ zu, dass er sie die Treppe hinauf und bis zu ihrem gemeinsamen Zimmer führte.

„Bleibst du bei mir?", fragte sie, die Hand bereits auf dem Knauf der Tür. Viggo lächelte, als er ihre Bitte hörte. Dabei könnte sie schwören, einen Hauch von Wehmut in seinen Augen erkennen zu können. „Nur diese eine Nacht", fügte Lova hinzu.

„Wenn das Schicksal es erlauben würde, für alle Nächte dieser Welt", entgegnete er und beugte sich zu ihr herunter, um einen Kuss von ihren Lippen zu stehlen.

In diesem Augenblick glaubte Lova tatsächlich, dass alles gut war.

~

Ihre tiefen Atemzüge verrieten ihm, dass sie schlief. Ihr Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig, er spürte die Bewegung dicht an seinem eigenen Körper. Ihre Haut schimmerte im Licht des vollen Mondes beinahe silbern, ihr Haar dagegen war schwarz im Schein der Nacht, nur vereinzelt schlichen sich hellere Strähnen hinein. Lovas Züge waren weich und ohne Sorgen, als wäre ihr Schlaf zumindest dieses Mal nicht von Albträumen heimgesucht.
Er hätte sie ewig ansehen können.

Wie sehr Viggo diesen Handel hasste, zu dem Krogan ihn gezwungen hatte. Er hatte immer geglaubt, ohne Skrupel zu sein. Berechnend, logisch, beinahe grausam, mit einem messerscharfen Verstand. Doch nichts davon hatte ihm etwas genutzt, als er sich seinem Feind tatsächlich gegenübergesehen hatte. Ein Feind, der Louvisa in seiner Gewalt hatte und nicht gezögert hätte, ihr die Kehle durchzuschneiden. Als wäre all das nicht genug, hatte Krogan ihn ausgerechnet an seiner Ehre packen müssen. Der Name seiner Familie, das Drachenauge.... Beides konnte er nicht aufgeben. Es mochte an der Tatsache liegen, dass er doch mehr von einem Wikinger hatte, als gut für ihn war. Doch feststand, dass Viggo sich nicht wie eine Schachfigur auf Krogans Spielbrett hin und her schieben lassen würde. Er würde Widerstand leisten, wann immer er konnte. Und der erste Schritt für seinen Plan war es, Lova aus der Gefahrenzone zu bringen. Krogan wusste jetzt, dass sie ihm auf die ein oder andere Weise wichtig war. Es würde tödlich enden, wenn er sie ein weiteres Mal als Druckmittel einsetzte.

Viggo wusste jetzt schon, dass die Wikingerin ihn dafür hassen würde, doch es gab keinen anderen Weg, den er einschlagen konnte, wenn er sie in Sicherheit wissen wollte. Er mochte vieles ertragen können, doch ihr Tod gehörte nicht dazu.

So vorsichtig wie möglich schob Viggo Lova von sich herunter, obwohl er wohl für eine lange Zeit so hätte verharren können. Ihr Kopf auf seiner Brust, während ihre Atemzüge mit jeder Minute tiefer und ruhiger wurden, bis ein gleichmäßiges Heben und Senken verriet, dass sie eingeschlafen war, hatte ihm bisher nahezu ungekannte Entspannung gebracht. Seine Hände hätten ewig durch ihren dunklen Haarschopf streichen können, während sein Atem sich dem ihren anpasste und er im Halbschlaf seinen Gedanken nachhing. Er hatte seinem Körper nie sonderlich viel Erholung gegönnt, war mit der aufgehenden Sonne ins Bett gegangen und wieder aufgestanden, noch bevor sie ihren höchsten Punkt erreicht hatte. Mit Lova hätte er allerdings ewig verharren können, weder wach noch schlafend, doch so ruhig wie seit seinen Kindestagen nicht mehr. Vielleicht hätten ihn die Wärme ihres Körpers und ihre gleichmäßigen Atemzüge ihn tatsächlich in den Schlaf wiegen können, wenn die Bedingungen andere gewesen wären. So löste er sich aus ihrer Umarmung und zog die Decke über ihre entblößten Schultern, ehe sie frieren konnte.

Lova schien sein Verschwinden dennoch zu bemerken, denn sie öffnete die Augen einen Spaltbreit. Müdigkeit lag in ihrem Blick und sie blinzelte verwirrt, um ihre vom Schlaf verklebten Wimpern zu lösen. „Wohin willst du?", fragte sie und gähnte verstohlen. Es war ihr anzusehen, dass ihr Wachzustand nicht lange anhalten würde.

„Ich hole mir nur einen Becher Wasser", erklärte Viggo mit gesenkter Stimme, um sicherzustellen, dass sie ihre Müdigkeit nicht wegen zu laut ausgesprochenen Worten verlor. Die Lüge ging ihm unerwartet leicht von den Lippen, obwohl sich sein schlechtes Gewissen regte. Wenn sein Plan aufging, war das hier das letzte Mal für eine lange Zeit, dass sie miteinander sprachen. Möglicherweise sogar für immer, was eine grauenhaft lange Zeit war, wenn er darüber nachdachte, während er in der mittlerweile ungewohnt kühlen Luft des Zimmers zitterte. Ein auf ewig allein und ein auf ewig mit ihr in seinen Armen waren doch zwei verschiedene Zeiteinheiten, auch wenn beides angeblich dasselbe Maß umfassen sollten. Auf abstrakte Weise taten sie es nicht, was sich mit keinem bisschen Logik erklären ließ. Selbst mit all seinem Intellekt wäre es Viggo wohl noch immer unbegreiflich.

„Kann ich dir auch etwas bringen, Liebste?", fragte er, um sich von den Gedanken abzulenken, die auf ihn einprasselten und seinen Verstand in Beschlag nahmen.

Lova lächelte, während sie darum kämpfte, die Augen offen zu behalten. Müde sank sie in ihr Kissen zurück, von wo aus Viggo nur noch ein gemurmeltes: „Danke, nein", vernahm. Es lag ebenfalls im Bereich des Möglichen, dass sie ihn noch etwas leiser gebeten hatte, auf schnellstem Weg zurückzukommen, ehe der Schlaf sie wieder übermannte. Doch selbst wenn Viggo es schwarz auf weiß sehen könnte, so würde er niemals zugeben, diese Worte gehört zu haben. Würde das denn nicht nur bedeuten, dass er eine Bitte nicht erfüllen würde, die ihre letzte sein könnte?

Er brachte es nicht einmal über sich, sie noch einmal anzusehen, ehe er den Raum verließ. Es würde ihn nicht wundern, wenn er sich dann entgegen seines Verstandes für Lova entschieden hätte, statt sich Krogans Forderungen zu stellen. Wenn er das tat, würden die Inselreiche wohl untergehen, ehe auch nur einer von ihnen die tatsächliche Gefahr erkannte, die von diesem seltsamen Mann ausging.

Doch das war keine Option.

Das war es nie gewesen, doch in dieser Nacht erkannte er tatsächlich, weswegen dem so war. Es war keine Frage von richtig oder falsch, von gut oder böse. Wie alle Fragen dieser Welt war auch diese nur von der Geschichte und den Erfahrungen eines Einzelnen abhängig. Welchen Grund hätte ein einsamer Mann, dessen Lebensinhalt der Profit war, die Nördlichen Marktinseln vor einem Verderben zwischen Feuer, Qualm und Rauch zu bewahren? Die Antwort auf diese Frage würde einem leichtfallen. Und wie würde ein Mann entscheiden, der etwas zu verlieren hatte? Der in einem einfachen Wirtshaus ein Zuhause gefunden hatte, statt wieder in einem Zelt zu hausen und sein Leben auf der Jagd nach Ruhm und Geld zu vergeuden. Jemand, der Menschen zu verlieren hatten, die in der Geschichte des Großen und Ganzen keine Rolle spielten, doch für ihn eine ganze Welt bedeuten konnten.

Was würde dieser Mann tun?

ClematisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt