Die Tage zogen ins Land und aus Tagen wurden Wochen, in denen Louvisas Wunde langsam heilte und auch Viggo zu seiner alten Stärke zurückfand. Er würde es abstreiten, wenn sie ihn darauf ansprach, doch auch ihn hatte es Zeit und Anstrengungen gekostet, sich an die Blindheit seines Auges zu gewöhnen. Im Alltag war seinen Bewegungen kein Abbruch getan, doch das ein oder andere Schwerttraining hatte ihnen beiden gezeigt, dass es erhöhten Verbesserungsbedarf gab. Lova musste allerdings gestehen, dass der Kampf mit dem Schwert ihr noch immer nicht lag, während Viggos volles Geschick bereits nach einigen Tagen zurückkehrte. So hatte sie einige Momente geschlagen auf den harten Dielen zugebracht, bis er sich erbarmte und die Hand ausstreckte, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Das ein oder andere Mal hatte er sie und Runna als Team gegen ihn antreten lassen, begleitet von Nehemias begeisterten Anfeuerungsrufen. Das Ergebnis war immer dasselbe; Lova fand sich auf dem Boden wieder, während Runna Viggo früher oder später überwältigte und ihm begeistert das Gesicht ableckte.
Sie musste ein verräterisches Lachen unterdrücken bei der Erinnerung, während ihr Verstand sich langsam wieder in der Gegenwart einfand. Der stechende Geruch von billigem Met, kalter Winterluft und dampfenden Leder trug seinen Teil dazu bei, obwohl die Zeit in Adajas Kneipe ihre Nase wohl an jeden möglichen Gestank angepasst hatte. Auch das Lachen der Männer um sie herum, das Klirren von goldenen Talern und das Geräusch der Würfel auf den Tischen waren mittlerweile alltäglich für sie. Selbst in der abgelegenen Ecke, welche sie und Viggo nach dem Kampftraining aufzusuchen neigten, waren sowohl Geruchs- als auch Geräuschkulisse genauso aufdringlich wie überall sonst in dem kleinen Wirtshaus.
Lova seufzte leise und blinzelte, um ihre Sicht zu klären. Ihr Blick ruhte noch immer auf Viggo, der nachdenklich Figuren auf seinem Spielbrett hin und her schob und zwischendurch unleserliche Notizen auf ein zerknittertes Blatt Pergament schmierte. Neben ihm, gefährlich dicht an der Tischkante, stand ein noch dampfendes Glas des warmen Honigmets, den er gern hin und wieder trank. Die rechte Hand hatte er in seinem dunklen Haar vergraben, die Brauen konzentriert zusammengezogen und manchmal stieß er einen leisen Fluch aus oder murmelte unzufrieden in sich hinein. Sie würde ihn als besessen bezeichnen, wenn die dunklen Ringe unter seinen Augen nicht mit jeder durchgeschlafenen Nacht ein wenig verblasst wären. Im Gegensatz zu seiner Zeit bei den Jägern schien er nun mehr auf sich zu achten, auch wenn er noch immer zu begierig darauf war, das Drachenauge wieder in seine Hände zu bekommen.
In Gedanken versunken wanderte ihr Blick zu den Narben auf seinem Gesicht, die Furchen in die blasse Haut gegraben hatten. Anfangs war sie über sein Aussehen geschockt gewesen, doch mittlerweile hatte sie sich an die Brandwunden gewöhnt. Als sie ihn gefragt hatte, wie er sie überhaupt hatte bekommen können, war er ihr ausgewichen und das hatte Lova bewiesen, dass es sich um einen unzulänglichen Grund gehandelt haben musste. Vermutlich hatte es etwas mit seiner Besessenheit für das Drachenauge zu tun, doch sie würde ihn nicht aushorchen, um die Wahrheit herauszufinden. Wenn er nicht darüber sprechen wollte, würde ihr das nur Recht sein. Dass er lebte, war für sie völlig ausreichend.
„Du bist eine offensichtliche Beobachterin, meine Teure."
Lova schreckte hoch, als sie seine Stimme vernahm, und brauchte einen Augenblick, um sich zu fassen. „Bin ich das?", fragte sie und entgegnete seinen Blick unverhohlen, obwohl eine verräterische Röte ihre Wangen zierte. Wenn sie ehrlich war, erinnerte sie diese Situation ein wenig zu sehr an ihren ersten Tag auf den Nördlichen Marktinseln, obwohl sie ihm da deutlich näher gewesen war. Beinahe hätten seine Lippen die ihren gefunden, wenn Viggo sich nicht von einem plötzlichen Anflug von Ehrgefühl oder Ablehnung hätte abhalten lassen. Er hatte ihr nicht verraten, was ihn wirklich zum innehalten bewogen hatten, denn sie hatten kein Wort mehr über diesen speziellen Moment verloren. Also musste Lova sich mit Spekulationen begnügen, während sie sich selbst nicht sicher war, ob sie über den Ausgang der Ereignisse erleichtert oder enttäuscht war. Sie wusste nur, dass es keinen weiteren solchen Augenblick zwischen ihnen gegeben hatte und vermutlich so bald auch nicht erneut geben würde.
„Hörst du mir zu, Louvisa?", hörte sie Viggo fragen und bemerkte erst jetzt, dass sie ihn ein weiteres Mal in Gedanken versunken angesehen hatte, ohne überhaupt auf die Umgebung zu achten. Sie räusperte sich verlegen und nickte eilig. „Selbstverständlich", sagte Lova und strich sich fahrig einige verirrte Locken aus der Stirn.
„Aber nicht wirklich, oder?", hakte er nach, ein belustigtes Grinsen zupfte an seinen Mundwinkeln. Sie stieß wenig begeistert die Luft aus und nickte langsam. „Nicht wirklich", gab sie zu. „Möchtest du dich wiederholen?" Viggo lachte leise auf und hob die Brauen. „Lenkt mein Anblick dich so sehr ab, meine Liebe?", fragte er und trug damit nicht dazu bei, dass die Röte auf ihren Wangen verschwand.
„Das hättest du wohl gern", entgegnete Lova trocken. „Zu gern", gab er zurück, doch ehe sie eine weitere, sarkastische Antwort geben konnte, sprach er bereits weiter. „Ich habe nur unsere momentane Lage erläutert. Wir befinden uns in einer überaus unangenehmen Zwickmühle." - „Tun wir das?", fragte Lova. „Meinst du den Umstand, dass wir auf den Nördlichen Marktinseln festsitzen, dein kostbares Drachenauge in einem Vulkan verschollen ist oder sprichst du von Krogan?" Alles in allem sah ihre Lage schon seit Wochen nicht sonderlich rosig aus, sie verstand nicht wirklich, warum er sie ausgerechnet jetzt darauf ansprach.
„Hättest du mir zugehört, hättest du bemerkt, dass ich genau dasselbe erläutert habe", sagte Viggo mit seiner üblichen Hochmut, die Lova nur mit einem verstohlenen Schnauben kommentierte. Die Belustigung in seinen Augen verriet, dass er es bemerkt hatte. „Allerdings lässt sich wenigstens eines unserer Probleme lösen, meine Liebe."
Sie musterte ihn skeptisch. „Ja?", fragte sie zweifelnd und er nickte. „Ja", bestätigte Viggo ihr und breitete in einer theatralischen Geste die Arme aus. „Ich habe mit Nehemia gesprochen und sie berichtete mir-" Lova unterbrach ihn. „So gern ich die Kleine habe, sie ist nicht die zuverlässigste Quelle."
Kalte Hände auf ihrem Nacken entlockten ihr einen Aufschrei und ließen sie herumfahren, während hinter ihr Viggos Gelächter klang. „Ich bin die beste Informantin der gesamten Marktinseln", stellte Nehemia grinsend klar, während sie sich an Lova die von der rauen Winterluft eisigen Hände aufwärmte. Die Wikingerin erschauderte und verpasste dem Mädchen einen scherzhaften Klaps gegen die Stirn. „Sicher doch", sagte sie amüsiert. „Wie lange stehst du schon hier?" Nehemia lächelte verschwörerisch und wippte auf den Sohlen ihrer Stiefel auf und ab. „Eine Weile", gab sie zurück. „Ich habe gehört, worüber ihr beide gesprochen habt." Sie ordnete mit flinken Fingern ihr Haar, während sie sprach, und streckte schließlich die Hände nach Lovas Locken aus, um auch diese wieder in Form zu bringen. „Als ich gehört habe, dass du Lügen über mich verbreitest – du könntest wirklich einen Kamm gebrauchen – musste ich eben einschreiten."
Lova verzog das Gesicht und duckte sich unter Nehemias rastlosen Händen weg, um zumindest den kläglichen Rest ihrer Frisur zu schützen. „Meinen Haaren geht es gut, danke der Nachfrage", sagte sie eilig und sprach damit sogar die Wahrheit. Adaja hatte sich bereit erklärt, Lovas völlig verfilzter und unregelmäßiger Haarpracht ein wenig Form zu verleihen. Wäre die Feuchtigkeit im Wirtshaus nicht, die ihre Locken in ein neues Desaster verwandelte, wäre sie so gepflegt wie seit langer Zeit nicht mehr.
Nehemia kicherte verstohlen und ließ sich auf einem der freien Stühle nieder, die Füße demonstrativ auf dem Tisch abgelegt, während Viggo neben ihr die Brauen hob. „Lass das deine Mutter nicht sehen", sagte er tadelnd, doch das Mädchen winkte mit einer abwehrenden Handbewegung ab. „Mach dir keine Sorgen, die Tische hier haben schon schlimmeres als meine sauberen Schuhe gesehen", gab Nehemia zurück, ehe sich ein begeistertes Lächeln auf ihre Lippen schlich und sie verschwörerisch erst zu Lova, dann zu Viggo sah. „Jetzt erzählt, welchen herausragenden, höchst besonderen Informationen ihr Zwei heute zugeneigt seid."
Louvisa verdrehte lachend die Augen. „Du verbringst zu viel Zeit mit Viggo", sagte sie amüsiert und warf dem eben Genannten einen wissenden Seitenblick zu. Der hob abwehrend die Hände und schenkte ihr ein charmantes Lächeln. „Ich wüsste nicht, wo das etwas schlechtes sein soll", gab er zurück und Nehemia hob zur Bestätigung beide Daumen. „Es schadet nicht, einen umfangreichen Wortschatz zu haben – warum auf einen richtigen Kampf einlassen, wenn man ihn mit Worten gewinnen kann?", fragte sie und ihr breites, begeistertes Grinsen entblößte die schmale Lücke zwischen ihren blendend weißen Zähnen. Lova schüttelte belustigt den Kopf über das Mädchen. „Wenn ich's nicht besser wüsste, würde ich sagen, du wärst Viggos Beraterin."
Während Nehemia stolz lächelte, spürte die Wikingerin Viggos Blick auf sich. Seine ungleichen Augen lagen wie zufällig auf ihr, sein Blick schien sie nur zu streifen und brannte sich zugleich in seiner Intensität beinahe in ihre Haut. Sie konnte die unausgesprochenen Gedanken dahinter fast lesen. Seine Beraterin, das hätte sie sein können, in einer Welt, die das Schicksal ein wenig anderes gesponnen hätte. Allein der Gedanke an das Wort Schicksal brachte das verräterische Gefühl in ihren Kopf zurück, diese Mischung aus Aufregung, Zuneigung und Geborgenheit, die zu deuten sie nicht bereit war. Vielleicht würde sie das auch niemals sein, denn allein die Vorstellung, diese Empfindung näher zu ergründen, ließ eine nie gekannte Art der Angst in ihr aufsteigen.
„Alsooooo?"
Nehemias Frage ließ in ihrer lauten und hemmungslosen Tonlage nicht nur die in Gedanken versunkene Lova erschrocken zusammenfahren. Nein, aus dem Augenwinkel bemerkte die Wikingerin, dass auch Viggo zu vertieft gewesen war, um auf das Mädchen zu achten. Unwillkürlich fragte sie sich, ob er möglicherweise in eine ähnliche Richtung wie sie abgedriftet war – oder ob allein die Vorstellung völlig absurd war.
„Ich wollte Louvisa vom Fluch der Tränen erzählen", erklärte Viggo und schien sich deutlich schneller wieder zu fassen. Nehemia nickte zufrieden und stützte das Kinn auf den Händen ab, um ihn aufmerksam zu beobachten. „Du meinst, meine grandiose Wiedergabe der alten Händlerlegende?", hakte sie nach und schlang die Füße um die Beine ihres Stuhles, um unbehelligt kippeln zu können. „... So in etwa, ja", gab er zurück und legte beiläufig die Hand auf die Stuhllehne, um sie in einer geraden Position zu halten, ohne sich auf Nehemias lautstarke Beschwerden einzulassen.
„Fluch der Tränen", wiederholte Lova skeptisch und verschränkte die Arme. „Klingt eher wie eine Gruselgeschichte für Kinder."
„Das hatte ich auch angenommen", sagte Viggo zustimmend und durchsuchte den Stapel Pergament neben ihm, während er sprach. „Doch anscheinend handelt es sich um ziemlich große Mengen unbeanspruchtes Gold – unterirdisch, an einem nahegelegenen Strand. Es sind wohl einige tapfere Händler verschwunden, als sie sich auf die Suche gemacht haben." Nehemia seufzte hingerissen aufgrund dieser aufregenden Begebenheit, doch Lova schüttelte entgeistert den Kopf. „Ich hatte dich nie für einen abenteuerlustigen Schatzsucher gehalten", entgegnete sie. „Das ist jenseits jeder Realität."
„Ist es das?", fragte Viggo und schob zwei Blätter Pergament zu ihr. Lova zog sie näher zu sich heran und setzte sie aufrechter hin, um sie zu betrachten. Eines war deutlich älter, rätselhafter, vergilbter. Um ein rotes Kreuz mittig am unteren Rand rankten sich allerhand seltsame Symbole, die in keinem Zusammenhang zu stehen schienen. Ein Helm, zwei Speere, gekreuzte Äxte... nichts davon ergab wirklich Sinn, dennoch schien es sich um eine Schatzkarte zu handeln.
„Sag mir nicht, du hast für diesen Plunder unser letztes Gold ausgegeben", sagte sie ungläubig und hob das Pergament in die Höhe. „Vermutlich hat der Händler sich ins Fäustchen gelacht, als er dir das verkauft hat."
„Meine Liebe, wann habe ich jemals eine unüberlegte Entscheidung getroffen?", fragte Viggo sie und hob abwartend die Brauen. „Wann warst du jemals verzweifelt genug dafür?", fragte Lova zurück. Für einen Moment sah er überrascht aus, dann nickte er anerkennend. „Touché", entgegnete er und nahm ihr das Pergament aus den Händen, um sie auf die zweite Karte aufmerksam zu machen. „Allerdings war ich bereits vor Ort und habe etwas überaus interessantes feststellen können..."
Lova kniff die Augen zusammen und sah erst auf die Karte vor sich, dann auf das Pergament in Viggos Händen. „Das..." Sie runzelte die Stirn und zupfte die Schatzkarte kurzerhand aus seinem Griff, um sie vergleichsweise neben die zweite Karte zu legen. Mit den Fingern fuhr sie die Linien nach, die Viggo selbst eingezeichnet haben musste. Wo die erste Karte ein Rätsel darstellen sollte, hatte er auf dem zweiten Pergament die Lösung verzeichnet.
„Das sind geografische Besonderheiten", sagte Lova ungläubig und schlug sich die Hand vor die Stirn. „Götter, das ist..."
„Unglaublich aufregend?", fragte Nehemia fröhlich.
„Naiv und ohne jedes Vorausdenken?" Das war Viggo, pragmatisch wie eh und je. „Wenn auch nur einer der Bäume sein Wachstum verändert, ist die ganze Karte nutzlos. Wer immer sie gezeichnet hat, konnte wohl kaum weiter als bis zum nächsten Morgen denken." - „Ich wollte lediglich logisch sagen", entgegnete Lova trocken. „Aber danke für eure Interpretationen." Nehemia kicherte, während Viggo zufrieden nickte und die Karten ordentlich gefaltet auf dem Stapel Pergament verstaute.
„Meine Liebe, wirst du mich begleiten?", fragte er sie schließlich beiläufig. Ehe Lova auch nur über eine Antwort nachdenken konnte, erhob Nehemia sich so schwungvoll, dass ihr Stuhl mit einem lauten Krachen auf dem Boden landete. „Ich will auch mit!", sagte sie aufgeregt und reckte das Kinn. „Wenn ihr auf Schatzsuche geht, dann muss ich dabei sein." Lova fuhr ihr lachend durch den dunklen Haarschopf und tauschte einen amüsierten Seitenblick mit Viggo. „Ein anderes Mal, Kleine, ja?", sagte sie beschwichtigend. „Das wird ohnehin kein Abenteuer, wir suchen nur nach diesem unbeanspruchten Gold, nehmen mit was wir tragen können und sind zurück, ehe der Mond am Himmel steht." Sie hatte nicht vergessen, dass Viggo verschollene Händler erwähnt hatte, doch wenn sie es erneut aussprach, würde es Nehemias Neugierde nur auf sich ziehen und dann wäre es schwer, sie von diesem gefährlichen Unterfangen abzubringen.
Nehemia ließ enttäuscht den Kopf sinken und malte mit der Spitze ihres Stiefels Muster in den staubigen Boden. „Aber... Was, wenn doch etwas spannendes passiert? Vielleicht müsst ihr einen gefährlichen Drachen bekämpfen!" Ihre Augen leuchteten, während sie das beschrieb und Lova sah hilflos zu Viggo herüber. „Selbst wenn es einen Drachen gibt", begann er beruhigend und warf ihr dann einen ebenso verzweifelten Blick zu, damit sie seinen Satz möglicherweise erfolgreich beenden konnte. „Dann wird der berühmt-berüchtigte Jäger hier ihn wohl schneller erledigen, als du blinzeln kannst", sagte Lova und warf Viggo über Nehemias Kopf einen warnenden Blick zu. Wenn er das hier mit einem besserwisserischen Kommentar versaute, konnte er Adajas Zorn auf sich nehmen, denn Nehemias Mutter war überaus... fürsorglich gegenüber ihrer Tochter.
„Außerdem wird Runna mit uns kommen, also werden potenzielle Feinde ohnehin kein Problem sein", fügte Lova hinzu und Viggo nickte eilig. „Ohnehin nicht", sagte er abwiegelnd. „Es wird keine Drachen geben, Nehemia."
Das Mädchen kniff die Augen zusammen und schwenkte den Kopf leicht hin und her, um ihre Entscheidung abzuwägen. Dann schlich sich schließlich ein Grinsen auf ihre Lippen und sie griff mit feierlicher Miene nach Lovas Händen. „Versprecht mir, dass ihr zu meiner nächsten Aufführung kommst und euch nicht raus redet wie die letzten Male."
Lova stieß ein Seufzen aus. Einerseits hatte das Mädchen recht – sie hatte tatsächlich jede Einladung zu ihren Auftritten ausgeschlagen, obwohl Nehemias Gesang auf den ganzen Marktinseln bekannt war. Das lag allerdings nicht an der 12-Jährigen, sondern an den damit verbundenen Risiken. Es würde schon reichen, wenn ein Drachenjäger dort auftauchte und sie erkannte, von den Drachenreitern oder sogar Krogan ganz zu schweigen. Es wäre ihr Todesurteil, erkannt zu werden. Sie würde möglicherweise verschont werden, doch Viggo hätte wohl keine Chance. Es war zu gefährlich, könnte ihrer beider Tod bedeuten, doch bisher hatte Lova nicht die Worte gefunden, es Nehemia zu erklären.
„Hör mal, Kleine", begann sie und ging vor dem Mädchen in die Hocke. „Ich weiß, wie viel dir das bedeutet, aber-" - „Wir würden uns geehrt fühlen." Während Nehemia vor Freude jubelte, fuhr Lova fassungslos zu Viggo herum. „Was denkst du dir dabei?", formten ihre Lippen, doch er lächelte nur und bot ihr galant den Arm an. „Wollen wir dann aufbrechen, meine Liebe?"
„Liebend gern", sagte Lova und lächelte der fröhlichen Nehemia zu, ehe sie sich zu Viggo wandte und nur für ihn hörbar flüsterte: „Was, wenn du erkannt wirst?" Er zuckte die Schultern, während seine Finger sich wie von selbst mit ihren verflochten, als folgte er einem Wunsch, der älter war als die Zeit selbst. Sie bemühte sich, die verstohlene Röte auf ihren Wangen zu verdrängen, die bei seiner unerwarteten Nähe in ihr hochstieg.
„Du schuldest mir eine Antwort", sagte sie, als er sie zur Tür geleitete und hörte sein leises Lachen nahe ihrem Ohr. „Du könntest bald eine Liste schreiben mit Dingen, die ich dir schulde", entgegnete Viggo und hielt die Tür für sie auf. „Dann solltest du anfangen, sie zurückzuzahlen", sagte sie, als sie hindurchging.
„Sollte ich das?", hörte sie ihn fragen, als er wieder zu ihr aufschloss. „Solltest du", gab sie zurück. „Du könntest mir jetzt beispielsweise berichten, weswegen wir uns auf einmal völlig grundlos in Menschenmengen begeben sollten, wenn alle zwei Schritte einer unserer Feinde vor uns stehen könnte." Viggo zuckte die Schultern. „Nenn es Eingebung", sagte er. „Oder Wink des Schicksals." - „Du solltest mittlerweile wissen, dass ich nicht an das Schicksal glaube", entgegnete Lova unbeeindruckt, während ihre Füße wie von allein ihren Weg durch die überfüllten Wege der Nördlichen Marktinseln fanden.
„Ich habe Krogan getroffen", sagte Viggo dann und traf sie so unvorbereitet, dass sie beinahe mit dem Gesicht voran im Dreck gelandet wäre. Sie konnte sich gerade noch an einem der Stände neben sich abfangen und zog sich hastig hoch in eine würdevollere Position.
„Wann?"
„Gestern, als du Adaja hinter dem Tresen geholfen hast", antwortete er, doch sie konnte seiner Stimme nicht entnehmen, wie er dem gegenüber stand. Die Abneigung, die sonst darin lag, wenn sie über Krogan sprachen, war verschwunden. „Er hat mich um Hilfe gebeten."
„Du hast abgelehnt, nicht?", fragte Lova und er nickte. „Das habe ich. Er war nicht amüsiert. Hat mir gedroht, bis ich ihn darauf hingewiesen habe, dass ich die Wirtin kenne und er sich es lieber nicht mit ihr verscherzen sollte", antwortete Viggo und schüttelte lachend den Kopf. „Es ist erstaunlich, wie niveaulos dieser Mann ist." - „Beleidige niemals einen mächtigen Feind", sagte Lova ernst. „Auch, wenn du vermutlich recht hast." Viggo schenkte ihr einen zweifelnden Seitenblick. „Meine Liebe, die Wahrheit auszusprechen hat noch niemandem geschadet", meinte er und verzog das Gesicht. „Ich kann seine Art nicht ertragen."
Sie musterte ihn aufmerksam und legte nachdenklich den Kopf schief. „Was hat er dir denn geboten?", hakte sie nach. „Er wird nicht ohne eine kleine Gefälligkeit hier aufgetaucht sein, nachdem wir wochenlang das Geschäft haben ruhen lassen."
„Das Drachenauge, selbstverständlich", gab Viggo zurück. „Etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet." - „Hat er es?", fragte Lova misstrauisch. Wenn ein Mann wie Krogan über das Drachenauge verfügte, könnte sie sich auf schnellsten Wege selbst nach Walhalla verschiffen. „Er hat mir lediglich angeboten, mich zur Drachenklippe zu bringen – und es dort aus dem Vulkan zu holen." Lova verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. „Er?", fragte sie. „Oder du?" Viggo sah prüfend über die Schulter, als wollte er kontrollieren, dass sie nicht verfolgt wurden. Sie sah, wie er die Stirn in Falten legte und dann den Kopf schüttelte, als hätte er sich nur eingebildet, etwas gesehen zu haben. Ein ungutes Gefühl schlich sich ihren Rücken hinauf, doch sie gab ihr Bestes, um es abzuschütteln.
„Ich, natürlich", gab er dann zurück und in seiner Stimme konnte sie keine Anspannung wahrnehmen. Ein wenig beruhigt ließ sie die Hand sinken, die bereits reflexartig an den Griff ihres Schwertes gezuckt war. „Wie erbärmlich", entgegnete Lova und hob die Brauen. „Krogan scheint kein guter Verhandlungspartner zu sein." Viggo schüttelte den Kopf. „Nein, das ist er nicht", bestätigte er. „Gewalt und Drohungen scheinen ihm besser zu liegen, doch ich glaube nicht, dass wir uns seinetwegen fürs Erste noch Sorgen machen müssen. Er hat nicht bekommen, was er verlangt hat, wenn wir Glück haben, ist er beleidigt und verzieht sich." Sie lachte und verpasste ihm einen tadelnden Schlag gegen die Brust. „So funktioniert das nicht und das wissen wir Beide." Dann wurde sie wieder ernst. „Was wirst du jetzt tun?", fragte sie leise und rang nervös abwartend die Hände. Sie war nicht bereit, zu den Jägern zurückzukehren und noch weniger in der Lage, weitere Kämpfe auf Leben und Tod zu bestreiten.
„Zuerst einmal sichern wir unsere finanzielle Situation", antwortete Viggo und ein weiteres Mal fand seine Hand die ihre, als würde er sie beruhigen wollen. Ob er wusste, dass er damit ihren Herzschlag nur noch beschleunigte? „Und anschließend werde ich darüber nachdenken, wie ich das Drachenauge wieder in meine Gewalt bringen kann. Es bleibt nichtsdestotrotz ein Familienerbstück, nicht wahr?" - „Und was wirst du wegen Krogan tun?", fragte Lova beunruhigt. Seine Besessenheit mit dem Drachenauge und diesem Kleinkrieg mit den Reitern hatte ihn bereits sein linkes Auge gekostet, doch sie war sich sicher, dass er noch weiter gehen würde.
„Kommt Zeit, kommt Rat, meine Teure", sagte Viggo unbeeindruckt. „Ich werde entscheiden, wie ich gegen ihn vorgehe, wenn es soweit ist." Lova sah skeptisch zu ihm hoch. „Das klingt nicht sonderlich nach dir", gab sie zurück. „Wo sind deine genialen Pläne?"
„Oh, ich habe bereits einige davon auf Lager", entgegnete er lächelnd. „Ich bin nur noch nicht geneigt, mich für einen zu entscheiden." - „Lass dir nicht zu viel Zeit", sagte Lova trocken. „Sonst zerrinnen sie dir zwischen den Fingern."
„Genug Philosophie für einen Morgen, nicht, meine Liebe?", fragte er sie amüsiert. „Ich verspreche, dass ich zu einem besseren Zeitpunkt genauer darüber nachdenken werde. Vertraust du mir?"
Sein Blick fand den ihren und sie verlor sich darin, zögerte und nickte schließlich. „Enttäusch mich nicht, Grimborn", gab Lova zurück, ein Grinsen schlich sich auf ihre Lippen. „Ich denke nicht im Traum daran", sagte Viggo und hob die freie Hand zum Schwur.
„Bist du jetzt bereit, einen Schatz du bergen?"
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Clematis
FanfictionWieso verriet Ryker seinen Bruder? Wie gelang es Viggo, aus dem Vulkan zu entkommen? Wie erhielt er die Narben an seinem Hals? Wer rettete ihn, als er in der Basis der Drachenjäger bereit war, sich für Hicks zu opfern? Und noch viel wichtiger; gab e...