Mit einem resignierten Seufzen wusch Lova sich zum dritten Mal an diesem Tag das Blut von den Händen. Aus dem rot gefärbten Wasser in der Holzschale starrte eine Frau zu ihr hoch, die sie kaum wiedererkannte, mit leerem Blick und tiefen Ringen unter den Augen. Sie hatte sich selbst noch nie so unendlich erschöpft gesehen, so zerbrechlich, als wäre der leiseste Windhauch ihr Ende. In der letzten Woche hatte sie nur gegessen, wenn Runna ihr etwas von einem ihrer Jagdausflüge mitbrachte, denn sie vertraute den Speisen nicht, die Johann ihr bringen ließ. Alles könnte eine Falle sein, und es war Lova gleich, ob man sie dafür paranoid nennen würde. Sie wachte Nacht für Nacht am Bett eines halbtoten Mannes, ohne je wirklich Schlaf zu finden, während sie die Götter um seine Genesung anflehte. Sie hatte jeden Grund, paranoid zu sein.
Lova rieb sich die Schläfen in der Hoffnung, damit ihre Kopfschmerzen zu vertreiben, und ließ sich wieder auf ihren üblichen Platz fallen. Sie saß am Fenster, zwischen Tür und Bett, sodass sie Viggo im Auge behalten konnte, ohne sich für unerwünschte Eindringlinge angreifbar zu machen. Ihren Blick ließ sie über die Idylle der Landschaft schweifen, die sie umgab, doch sie konnte für die Schönheit der Natur kaum mehr als ein müdes Lächeln aufbringen.
Der Frühling war eingezogen, während sie ihre Tage in einer Hütte verbrachte. Draußen zwitscherten die Vögel, während die Stille in ihrem Inneren Lova beinahe zerfraß. Die ersten Frühlingsblumen tupften die Hügel in narzissengelb, krokusviolett und schneeglöckchenweiß, doch um sie herum war die Welt in nichts als Grau getaucht. Kein Kerzenschein erhellte die Hütte, und kein Fenster der Welt ließ genug Licht hinein, um die Dunkelheit zu vertreiben, die an einem hoffnungslosen Ort herrschte. Die leichte Brise, die vom Meer her kam, duftete nach Seetang und Salz, nach verpassten Möglichkeiten und verlorener Freiheit. Lova konnte die gesamte Drachenklippe überblicken, ganz gleich ob am Tag oder in der Nacht, und unter anderen Umständen hätte diese malerische Region nichts als Euphorie in ihr hervorgerufen. Sie wäre hinausgerannt, um den höchsten Berg zu erklimmen, den sie finden könnte, bis sie inmitten von Schnee und Eis zur Ruhe käme, den Wind im Haar und die Sonne im Rücken, während die Welt um sie herum stillstehen würde. Doch sobald Lova die Augen schloss, sah sie ein leichenblasses, wächsernes Gesicht und blutbefleckte Leinen vor sich, deren Anblick für sie zum Alltag und zum Stoff ihrer Albträume geworden waren.
Lova schüttelte den Kopf, um diese finsteren Gedanken zu vertreiben, obwohl die Bilder sie nie ganz losließen. Eilig wischte sie sich die Tränen von den Wangen, die stummen Verräter ihrer Furcht, ehe sie sich mit zitternden Beinen erhob und neben Viggos Bett auf die Knie sank. Ihre Finger verflochten sich mit seinen, und auch wenn seine Miene ohne jede Regung blieb hoffte sie dennoch, dass es ihm auf irgendeine Weise Halt gab, denn für sie war jeder Kontakt mit seiner eiskalten Haut nichts als eine Erinnerung daran, wie leicht sie ihn verlieren könnte. Wenn sich sein Zustand noch mehr verschlechterte, wäre es sein Todesurteil, daran gab es keinen Zweifel. Und es gab kaum etwas, dass sie mehr fürchtete.
Sie wandte sich ab, unfähig, noch einen Augenblick länger in sein blutleeres Gesicht zu sehen. Alles, was sie tun konnte, war, zu den Göttern zu beten und auf eine baldige Besserung zu hoffen. Und es gab keine Versicherung dafür, dass diese jemals eintreten würde, also blieb Lova mit nichts als leeren Hoffnungen zurück. Was würde sie tun, wenn sie feststellen würde, dass sie falsch und leer bleiben könnten, während die Zeit sich unablässig weiterdrehte und Lova zwischen Melancholie und Reue zurückließ, gefangen in einer Vergangenheit, die sie nicht ändern konnte?
Ein Grollen riss sie aus ihren Gedanken, eine warme Schnauze schmiegte sich in ihre Halsbeuge. „Runna", sagte Lova leise. „Hey, mein Mädchen." Der Wechselflügler stieß ein fragendes Gurren aus, als sie die gedämpfte Stimme ihrer Reiterin hörte, die rau war von den Tagen, die sie stumm an Viggos Bett verharrt hatte. Sie stupste Lova aufmunternd gegen das Kinn, die grünen Augen dunkel vor Mitgefühl. Sollte die Wikingerin jemals wieder jemanden behaupten hören, Drachen wären kaum mehr als einfache Tiere, so würde sie es niemals mehr glauben können. Nicht nach all den Versuchen, die der Wechselflügler unternommen hatte, um ihre Reiterin zum Lächeln zu bringen.
DU LIEST GERADE
Clematis
FanfictionWieso verriet Ryker seinen Bruder? Wie gelang es Viggo, aus dem Vulkan zu entkommen? Wie erhielt er die Narben an seinem Hals? Wer rettete ihn, als er in der Basis der Drachenjäger bereit war, sich für Hicks zu opfern? Und noch viel wichtiger; gab e...