Kapitel 2

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Drei Tage verrottete sie hier schon vor sich hin.
Die Zelle war kalt und leer, ihre Arme wund gescheuert von diesen verdammten Fesseln. Ihr Magen knurrte nach den 72 Stunden ohne Nahrung lauter als die Drachen in den Nachbarkäfigen und nachdem Dagur seine Aufmerksamkeit von ihr abgewandt hatte (was etwa einen Tag gedauert hatte), war es auch mit den Chancen auf Trinkwasser dahin. Ryker hatte jetzt ein Auge auf sie und er würde sicher nicht zulassen, dass sie in einem besseren Zustand als halbtot aus dieser Zelle trat. Glücklicherweise hatte sie das bereits eingeplant und sich eine halbe Flasche übrig gelassen. Da sie allerdings nicht wusste, wann die Drachenreiter aufkreuzen würden, half ihr das auch nicht weiter. Es hieß abzuwarten.

Mit jeder Stunde, die sie in dieser Zelle verbrachte, wurde sie wütender. Es stank nach Blut und Verwesung, sie hörte die Drachen kreischen und bekam nachts kein Auge zu. Viggo hatte es eine „Vorsichtsmaßnahme" genannt, als er zugelassen hatte, dass Ryker sie von zwei Wachen unter Deck führen ließ. Damit sie wie eine Gefangene wirkte und die Drachenreiter auf ihre Fassade hereinfallen. Der Fehler lag allerdings darin, dass sie für die Besatzung dieses Schiffes tatsächlich eine Gefangene war. Sie wurde so behandelt, so angesehen und hinter Dagurs Rücken (Unglaublich, aber der Irre war der Einzige, der sich zu erinnern schien, warum sie hier war, von Viggo mal abgesehen.) wurde auch so über sie gesprochen. Niemand hier kannte ihre Geschichte. Sie war nur der Häuptling der Vernellen, wenn es den Anführern passte. Das hieß, wenn es Tote zu beerdigen gab. Irgendwie hatte Viggo es geschafft, dass sie ihren Titel tatsächlich loswurde, wie sie es damals gewollt hatte. Seltsam nur, dass dieser Fakt jetzt einen bitteren Nachgeschmack hinterließ, je länger sie darüber nachdachte.

Ohne es zu bemerken, stieß sie ein dunkles Grollen aus. Dieser Mann hatte ihr alles genommen. Er war es doch gewesen, der ihre Insel damals in Flammen aufgehen ließ...

Bevor sie ihre Gedanken beenden konnte, fuhr ein Ruck durch das Schiff. Sie konnte förmlich spüren, wie die eine Hälfte halb im Meer versank, als hätte Thor sich dazu entschieden, das Boot mit einem mächtigen Schlag ins Schlingern zu bringen. Lova kämpfte um ihr Gleichgewicht und musste sich an der Wand abstützen, um keine Bruchlandung hinzulegen. Schnelle Schritte über ihr ließen auf einen Angriff schließen, selbst durch die Decke hörte sie Ryker Befehle brüllen. Dann schaukelte das Schiff ein weiteres Mal und diesmal legte Lova die befürchtete Landung hin. Ihr rechter Ellenbogen schmerzte, als sie sich wieder aufrappelte, und aus einer Wunde an ihrer Stirn floss ein wenig Blut. Sie hatte sich vermutlich den Kopf an den Gittern angeschlagen, als sie gestürzt war. Nicht unbedingt schön, aber nicht weiter hinderlich. Sie hatte schon schlimmeres ertragen. Außerdem erregte etwas anders ihre Aufmerksamkeit.

Als sie so still in ihrer Zelle stand und selbst die Drachen bei dem Geschaukel lieber stumm verharrten, konnte sie genau verstehen, was draußen gesprochen wurde. „Das sind die Drachenreiter, Chef. Wir müssen-" Sie vernahm ein ungehaltenes Aufstampfen auf dem Boden. Ohne es zu sehen wusste sie, dass das Dagur sein musste. „Mir ist egal, was wir müssen. Da ist mein Skrill und ich werde ihn vom Himmel holen, komme was wolle." Bei seinen Worten stellten sich Lovas Nackenhaare auf. Ein Skrill, so selten, wie er gefährlich war, könnte innerhalb weniger Minuten elektrisiertes Kleinholz aus diesem Schiff machen. Was wollte dieser Drache hier, bei Odin?

„Viggos Befehl lautet, die Kleine an Deck zu bringen, sobald die Drachenreiter auftauchen, Chef", erklärte eine ihr unbekannte Stimme, die vermutlich zu einem der Wachen gehörte. Allerdings würde Lova auf keinen Fall freiwillig da raus gehen, solange ein Skrill über ihnen kreiste, da konnten die sich aber absolut sicher sein. „Dann geh sie HOLEN, du Dummkopf!", hörte sie den Irren schreien und ging automatisch in Angriffsstellung. Wenn sie da raus ging, würden die Blitze sie eher grillen und in dem Chaos, welches dort draußen herrschen musste, standen die Chancen verdammt schlecht, dass die Drachenreiter sie überhaupt bemerkten und- Lovas rasende Gedanken stoppten so rasant, als wären sie gegen eine Wand gefahren. „Chaos...", flüsterte sie, als wäre das der Schlüssel zur Lösung all ihrer Probleme. Und je mehr sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass es genauso war. Sie könnte den Drachenjägern ein für alle Mal entkommen...

Widerstandslos ließ sie sich von dem Wachen mitführen. Er zitterte ein wenig und die Hand, die sie gepackt hielt, war nass vom Regen, was auf ein Unwetter schließen ließ. Ergab ja auch Sinn, mit einem Skrill direkt über ihnen... „Du kennst die Befehle?", fragte der Mann sie, als er sie die Leiter hoch- und damit an Deck zerrte. „In- und auswendig", gab sie zurück und hob das Kinn. Wenn alles nach ihrem Plan verlief, hatten Viggos Befehle bald keine Bedeutung mehr. Sie schätzte sein Genie und sie liebte nichts mehr als Strategen, die ihren Kopf auch tatsächlich mal zu mehr gebrauchen wussten als einen hübschen Anhang, aber sie würde nie mehr vor diesem Mann kuschen, der sich ohne Übertreibungen ein Monster nennen könnte.

Und als der Wache sie auf die Planken schubste, spuckte sie ihm vor die Füße, wie sie es damals vor den drei Anführern gemacht hatte. Eine fließende Bewegung – wie Dagur damals – und sie hatte ihn gegen den Mast gedrängt. Die Wut verlieh ihr ungeahnte Kräfte, als sie ihn mit einem gekonnten Schlag außer Gefecht setzte. Dann legte sie den Kopf in den Nacken, um in den wolkenverhangenen Himmel zu sehen. Blitze zuckten über ihr, brachten ihre ohnehin schon krausen Haare, sich aufzustellen. Es fiel kein Tropfen Regen mehr, was in einem Sturm zwar merkwürdig war, aber gerade nicht ihr größtes Problem. Sie musste unter allen Umständen verhindern, von den Anführern und von den Drachenreiters gesehen zu werden... Wenn einer der beiden Fälle eintrat, war sie geliefert. Ihr Plan versprach zwar auch nicht gerade Erfolg und war wahnsinniger als alles, was sie bisher erlebt hatte (Und sie hatte die letzten drei Jahre in nächster Nähe zu dem Irren verbracht.), aber wenn sie es schaffte, wäre sie die Drachenjäger erstens los und zweitens würde sie ihnen zum Abschied eine schöne Prise Salz in die Wunden streuen, die Viggos gescheiterter Plan sicher hinterlassen würde. Dafür musste sie allerdings den Skrill finden...
~

Lova wusste drei Dinge absolut sicher.

1. Sie war völlig von Sinnen und ihr Plan absoluter Mist, wenn man länger als eine Sekunde darüber nachdachte.
2. Der Hauptbestandteil ihres Fluchtplans lag gerade vor ihr, war unter einem Netz gefangen und schlug verzweifelt mit den Flügeln.
3. Wenn sie sich nicht beeilte, würden die Krieger und Dagur sie erreichen und ihr den Schlüssel zu ihrer Freiheit vor ihrer Nase wegschnappen.
Und sie war absolut nicht bereit, 3. geschehen zu lassen. Wenn dafür Köpfe rollten, schön, Hauptsache sie war aus dieser Hölle raus.

So gefasst wie ihr möglich neigte sie den Kopf vor dem Drachen. Der Skrill antwortete mit einem dumpfen Knurren, Blitze zuckten vor seiner Schnauze. Sie sah die Wut und die Angst in seinem Blick, weil sie sich selbst darin wiedererkannte. „Ich kann dich hier herausbringen", flüsterte Lova ihm zu, das Getrappel der auf sie zu stürmenden Krieger ignorierend. Selbst Dagurs Geschrei schob sie beiseite. Der Irre würde einen neuen Drachen für seinen Vaterkomplex finden, bei Thor.
„Wenn ich dich befreie, musst du mich mitnehmen, ja?", murmelte sie, während sie nach einem herrenlos herumliegenden Schwert griff. Das Grollen des Drachen veränderte sich, was die Wikingerin ohne einen zweiten Hintergedanken als „Meinetwegen" interpretierte. Falls es etwas anderes heißen sollte, hatte sie sich jetzt so oder so des Hochverrats schuldig gemacht und würde hingerichtet werden, wenn ihr Plan nicht aufging. Also zerschnitt sie die Seile, eins nach dem anderen, unter den wachsamen Augen des Skrills.

Sie war gerade fertig, als kräftige Arme sich um ihren Körper schlangen und sie zurückzerrten. Der Gestank nach Blut und Schweiß stieg ihr in die Nase. Es hätte jeder Krieger sein können, doch sie wusste bereits, dass es sich um den Irren handelte, bevor dieser den Mund aufmachte. „Lass deine dreckigen Finger von meinem Drachen, Kleine", zischte Dagur an ihren Hals und sie erstarrte unter seinem Griff. Er würde sie töten. Oder sie zu Viggo bringen, damit der es erledigte. Und weil dieser sich die Finger nicht schmutzig machen wollte, würde er es Ryker überlassen. Sie konnte sein selbstzufriedenes Grinsen schon sehen. Er würde es genießen, sie zu foltern.

„Nein...", sagte sie verzweifelt, als der Skrill mit kräftigen Flügelschlägen in die Luft stieg. Er würde sie zum Sterben zurücklassen. „Nein!", schrie Lova, trat hinter sich und verhakte ihren Stiefel in seiner Kniebeuge. Eine ruckartige Bewegung, und er landete mit dem Gesicht auf den Planken. Sie hörte seine zornigen Aufschrei und machte sich auf seine Axt in ihrem schutzlosen Körper gefasst, als Krallen nach ihrem Mantel griffen, sich darin verhakten und sie in Richtung Himmel zogen. Ihre Haare stellten sich auf und sie wusste, dass sie das Grollen des Skrills richtig gedeutet hatte. Er hatte sie befreit. Und jetzt schwang er sich mit ihr in die Luft, weg von ihren Peinigern.

„Danke", flüsterte sie, als der Drache sie auf seinen Rücken beförderte. Sie spürte die Muskeln in seinem Körper, die mit jedem Flügelschlag angestrengt arbeiteten und die harten, schwarz-lilafarbenen Schuppen unter ihren Händen. Er hatte ihr das Leben gerettet. „Du kannst mich auf der nächsten Insel absetzen, wenn du möchtest", sagte Lova leise. „Du hast deine Schuld beglichen." Ein tiefes Grollen antwortete ihr, aber es klang nicht feindselig. Fürs Erste würde sie wohl auf dem Rücken dieses Geschöpfes ruhen dürfen. Sie hätte kaum dankbarer sein können.

„Ich saß noch nie auf einem Drachen", erklärte sie nachdenklich. Sie wusste nicht, ob der Skrill sie verstand, aber es tat gut mit jemandem zu sprechen, der sie nicht verurteilen würde. „Auf meiner Insel haben wir immer neben ihnen gelebt. Nicht als Freunde, nicht als Feinde. Es gab hin und wieder ein paar verschwundene Yaks oder Schafe, aber dafür hielten die Drachen Feinde von unserer Insel fern. Wir waren alle sicher und willkommen dort..." Es schmerzte, sich an Vernell zu erinnern. Dieser Ort war ihr Leben gewesen, ihr Stolz und ihre Freude. Und, noch wichtiger als all das; ihre Heimat. „Und dann hat Viggo sie abbrennen lassen." Als der Drache knurrte, tat sie es ihm gleich. „Ich war dumm damals und hab ihm wegen ein paar netten Worten Vertrauen geschenkt..." Der Skrill schnaubte, was wohl „Dummkopf" heißen sollte. Sie konnte nicht widersprechen. „Wenn ich könnte, würde ich es rückgängig machen, aber..." Lova seufzte. „Das kann ich nicht. Aber wenigstens bin ich fort von ihm."

Der Drache tat etwas, was die Wikingerin nie für möglich gehalten hätte. Er stieß ein mitfühlend klingendes Grollen aus und machte den Hals lang, damit sie sich auf seinem warmen Körper ausruhen konnte. Ein echtes, dankbares Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. Unter ihren grauen Augen prangten dunkle Ringe und die Wunde an ihrer Stirn war von dunklem Schorf bedeckt, aber der Kampfgeist kehrte in ihr zurück. Sie war frei. Nicht frei von Schuld, das würde sie niemals sein, aber frei von all dem, was sie fesseln und Wasser über das Feuer in ihr gießen könnte.
Bevor sie in einen erholsamen Schlaf sank, in welchem sie zum ersten Mal seit exakt drei Jahren keine Albträume plagten, strich sie sanft über die schuppige Haut des Skrills. „Danke", sagte sie und meinte es auch so.

Für diese Nacht war sie sicher. Zum ersten Mal seit exakt drei Jahren.

ClematisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt