Jeder Schritt war eine einzige Qual, doch Lova wagte es nicht, ihr Hemd zu heben und einen Blick auf die Wunde zu werfen, die Ryker ihr mit seinem Schwert zugefügt hatte. Es war beängstigend genug, dass ihr Hemd längst mehr rot als weiß schien, denn die Wunde schien sich nicht nur auf die Einstichstelle an ihrem Rücken zu begrenzen. Gleichzeitig fürchtete sie, dass das Adrenalin, welches gerade ausreichte, um sie einen Fuß vor den anderen setzen zu lassen, abklingen würde, wenn sie die Ausmaße der Verletzung erkannte. Möglicherweise hatte die gezackte Schneide nicht nur ihr Fleisch durchtrennt und ihre Muskeln beschädigt, sondern auch eine lebenswichtige Arterie, einen Nervenstrang oder – was ihren Tod bedeuten würde – sogar ein Organ zerrissen. Wäre das der Fall, würde sie es kaum lebendig zu Viggo schaffen.
Sie konnte es sich kaum eingestehen, doch neben ihrer Angst um Runna beherrschte auch die Sorge um ihn ihre Gedanken. Lova wusste nicht einmal, ob er überhaupt noch am Leben war. Und wenn Viggo starb, dann stand niemand mehr zwischen Ryker und diesem rätselhaften Mann, der sich Krogan nannte. Es wäre allerdings eine Lüge, wenn sie behaupten würde, dass sie lediglich verhindern wollte, dass diese beiden skrupellosen Jäger die Vormachtstellung auf See und auf dem Handelsmarkt an sich rissen. Sie wollte nicht, dass Viggo starb, allein des Sterbens willen. Bei der Vorstellung, ihn nie wieder zu sehen, schnürte sich ihr die Kehle zu, die Luft wurde knapp und etwas Schweres lastete auf ihrer Brust, um ihr ebenfalls den Atem zu rauben.
Es gab zu viele Fragen, auf die sie noch Antworten wollte. Sie wollte erfahren, warum er von Schicksal gesprochen hatte, sie wollte wissen, warum er ihr den Krokus geschickt und warum jedes Gespräch mit ihm sich gleichzeitig geborgen, aber auch intellektuell anfühlte. Sie wollte ihn fragen, was er für die Zukunft plante und ihm ihre Unterstützung zusagen bei dem Versuch, Ryker auf seinen Platz hinzuweisen und Krogans Pläne zu durchkreuzen, wie immer diese lauten würden.
Sie wollte so viel, doch in dieser Sekunde, in diesem Moment, da konnte sie gar nichts. Nur ziellos umherirren auf der Suche nach ihrem Drachen, zu all den Göttern betend, dass sie nicht zu spät war. Flehend, dass Runna noch am Leben war und Viggo ebenfalls, dass sie selbst all das hier überleben und Antworten erhalten würde, ohne zu wissen, ob sie es schaffen würde.
Getrieben von ihrer Angst setzte sie einen Fuß vor den andere, obwohl jeder Schritt flammende Schmerzen durch ihren Körper sandte. Die Schwertwunde machte ihr das Denken schwer, die Schiffswände sahen alle gleich aus und gleichzeitig überkam sie das schreckliche Gefühl, sich rettungslos verlaufen zu haben. Lova verfluchte sich selbst, dass sie keinen Blick auf die Baupläne des Schiffes geworfen oder Viggo mit Fragen gelöchert hatte, denn es war unmöglich, ihren Drachen in diesem Wirrwarr aus Gängen und Abzweigungen zu finden. Es war dabei auch nicht gerade förderlich, dass sie unter gar keinen Umständen den Drachenjägern in die Arme laufen durfte, denn wenn das geschah, wäre das ganz sicher ihr Todesurteil. In ihrer Verfassung hätte sie keine Chance, sich gegen mehrere bewaffnete Männer zur Wehr zu setzen.
„Denk nach", flüsterte Lova, um sich selbst anzuspornen. „Ryker ist simpel gestrickt, es kann nicht so schwer sein, einen verdammten Drachen zu finden."
Für einen Moment erlaubte sie sich selbst, sich an der kalten Metallwand anzulehnen und wieder zu Atem zu kommen. Wenn sie sich weiter durch die schier endlosen Gänge schleppte, würde sie sowieso nichts zum Ziel kommen, sondern vermutlich vorher vor Erschöpfung sterben. In ihrer momentanen Verfassung war das leider nicht einmal sonderlich unwahrscheinlich...
„Vernell?"
Lova fuhr hoch, obwohl dabei ein stechender Schmerz durch ihren Körper schoss und die Wunde wohl erneut aufriss, falls sie sich überhaupt geschlossen hatte. „Wer ist da?", fragte sie misstrauisch. In den hallenden Gängen hätte es wohl selbst Viggos markante Stimme so sehr verzerrt, dass sie nicht in der Lage gewesen wäre, diese korrekt zuzuordnen. Dennoch, etwas an dieser Stimme kam ihr bekannt vor.
„Ich kann dich zu deinem Drachen führen, wenn wir uns beeilen", erklang die Stimme erneut und Lova lehnte sich misstrauisch nach vorn, um in den dunklen Gang neben sich zu spähen. Nach ihrer Flucht durch spärlich beleuchtete, immer gleiche Flure gewöhnten ihre Augen sich schnell an die Dunkelheit. Ein breit gebauter Mann mit dunklem Haarschopf und langem, geflochtenen Bart trat in ihr Blickfeld. Er trug eine Tunika aus schlichtem Leder, war also selbst für einen Drachenjäger auffallend unauffällig gekleidet. Dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, erkannte sie ihn sofort.
„Finn?", fragte Lova ungläubig und trat zwei wacklige Schritte auf ihn zu. Das schmerzerfüllte Keuchen schluckte sie nur mühsam herunter, doch er schien es dennoch zu bemerken. Als er ihr haltgebend den Arm hinhielt, stützte sie sich darauf ab, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Viel länger hätten ihre zitternden Beine sie wohl auch nicht getragen.
„Die gesamte Mannschaft sucht nach dir, Vernell", sagte er, blieb aber dennoch ruhig stehen und wartete, bis sie wieder die Kraft gesammelt hatte, um ihm in die Augen zu sehen. „Ich weiß", gab Lova zurück und seufzte resigniert. „Allerdings braucht jeder verdammte Meter viel zu viel Zeit." Finn nickte verstehend und ließ zu, dass sie sich bei ihm einhakte. „Ryker ist wütender, als ich es je erlebt habe", erklärte er und führte sie vorsichtig in den dunklen Gang hinein. „Die Männer wollen ihn zufriedenstellen und sinnen gleichzeitig nach Rache."
Sie schüttelte bitter lachend den Kopf. „Ryker sollte froh sein, dass ich ihm nicht den Hals umgedreht habe für das, was er mit mir vorhatte." Verständnis trat in Finns Blick und er rückte ein Stück von ihr ab, damit sie sich nicht bedrängt fühlte. „Ich weiß, dass es nach Verrat klingen mag, doch ich verstehe deine Taten voll und ganz, Vernell", sagte er. Erst in diesem Moment fiel sein Blick auf ihr blutverschmiertes Hemd und seine Augen weiteten sich. „Du brauchst ärztliche Hilfe, ehe du..."
Lova fiel ihm ins Wort, bevor er sein Anliegen vortragen konnte. „Wie du bereits gesagt hast, dafür haben wir keine Zeit", sagte sie entschlossen und gab ihr Bestes, die Schmerzen in ihrem Rücken zu verdrängen. Aus den flammend heißen Qualen war mittlerweile ein stetes, stechendes Pochen geworden, welches in keinster Weise eine Besserung darstellte. Dennoch, jede Sekunde, die sie hier verbrachte, brachte nicht nur sie dem Tode näher. „Ich bin dir dankbar für deine Hilfe, doch ich muss so schnell wie möglich zu meinem Drachen. Wenn du geschnappt wirst, bist du deiner Familie keine Hilfe und während wir hier plaudern, könnte Viggo schon längst an der Schwelle des baldigen Todes stehen. Egal, wo er sich befindet, weder Drachenreiter noch -jäger werden zimperlich mit ihm sein." Ehrliche Überraschung trat in Finns Blick, doch er verfiel dennoch in einen schleppenden Schritt, um gleichzeitig ihrer Bitte Folge zu leisten, aber auch Rücksicht auf ihr stark eingeschränktes Tempo zu nehmen. „Ich habe Respekt für deine Treue, doch ich hatte nicht erwartet, dass du dein Leben aufs Spiel setzen würdest, um ausgerechnet nach ihm zu suchen", entgegnete er und warf ihr einen besorgten Seitenblick zu. „Besonders nach dem, was sein Bruder..." Finn beendete seinen Satz nicht, doch sie verstand ihn dennoch.
„Deine Skepsis -", Lova unterbrach sich, um einen tiefen Atemzug gegen die überwältigenden Schmerzen zu nehmen und die Hand auf die noch immer blutende Wunde zu pressen. „Deine Skepsis ist überaus verständlich, doch Viggo ist der Einzige, der Rykers Wahnsinn aufhalten kann. Das, und alles, was danach noch kommen mag." Sie brachte es nicht über sich, ihm von den Feuerschweifen zu erzählen und diesem Mann, der gerade sein Leben für ihre Sicherheit riskierte, mehr Sorgen als nötig zu bereiten.
„Ich verstehe", sagte Finn und kam vor einer Tür aus Metall zum Stehen. Allein diese Tatsache wäre nicht auffällig gewesen, doch im Gegensatz zu dem Rest des Schiffes schien das Metall sich silbern schimmernd von den blaugrauen Wänden abzuheben. Als Lova prüfend mit dem Finger darüberfuhr, verstand sie auch, weswegen. „Das ist Eisen", stellte sie fest und ihre Miene hellte sich auf. „Dahinter haben sie den Wechselflügler untergebracht", erklärte Finn und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Mit einem ehrlichen, wenn auch schiefen Lächeln sah Lova zu ihm hoch. „Ich bringe dir mehr Dank entgegen, als ich es jemals in Worte fassen kann", sagte sie und neigte den Kopf vor dem Mann, ohne den sie wohl noch immer in der Arena um ihr Leben kämpfen würde.„Wenn ich irgendetwas für dich tun kann..."
Doch Finn schüttelte nur den Kopf. „Versprich mir einfach, dass nie wieder ein Dank vonnöten sein wird, Vernell", gab er zurück und erwiderte ihr Lächeln. „Halt dich aus den Geschäften der Jäger heraus, sie bringen nur Ärger." Ein wenig erinnerte seine Art, ihr Ratschläge zu erteilen, an ihren Vater. Auch er hatte immer versucht, sie aus allen Gefahren herauszuhalten. Vermutlich wäre sie mit ihm niemals zu der starken Frau geworden, die sie heute war, doch an manchen Tagen wünschte sie sich ihre damalige Naivität zurück. Wie einfach das Leben gewesen war, als sie sich auf ihren Vater hatte verlassen können, wann immer es brenzlig wurde...
„Deine Tochter kann sich glücklich schätzen." Die Worte kamen über Lovas Lippen, ehe sie es verhindern konnte, doch Finn lachte nur. Ein wenig Bitterkeit schwang darin mit. „Ich kann viel zu selten bei meiner Familie sein", sagte er dann bedauernd. „Aber ich danke dir."
Sie senkte den Blick und löste sanft ihren Arm aus seinem, um ihr eigenes Gewicht wieder selbst zu tragen. „Immer gern", gab sie zurück und nahm Rykers Schlüssel zur Hand. „Wünsch mir Glück, aber bring dich nicht in unnötige Gefahren, ja?", bat sie den Mann. Finn schüttelte verhalten lächelnd den Kopf. „Solange du von den Jägern fortbleibst, wird das nicht nötig sein."
Er wandte sich ab, um davonzugehen und sie den letzten Teil ihrer Flucht allein beschreiten zu lassen, doch ehe Finn sie wirklich verließ, warf er ihr über die Schulter einen letzten freundlichen Blick zu. „Wenn du jemals einen sicheren Zufluchtsort brauchst, steht dir das Heim meiner Familie auf den nördlichen Marktinseln immer offen. Such nach einer Nehemia, meine Tochter ist berühmt für ihren Gesang, irgendjemand wird dich schon zu ihr führen", sagte er, ohne jeden Vorbehalt. „Vergiss nur nicht, ihnen meine besten Grüße auszurichten."
~
Finn war fort, ehe sie sich bei ihm bedanken konnte, doch es gelang ihr nur mühsam, die Tränen der Dankbarkeit und Erleichterung zurückzudrängen, die in ihr aufstiegen. Um nicht doch einige der verräterischen Wassertropfen zu vergießen, schob sie Rykers Schlüssel in das Schloss der Eisentür und drehte ihn, einmal, zweimal, bis sie bei der dritten Umdrehung schwungvoll aufschwang.
Sofort kam ihr der Gestank von Erbrochenem, Blut und Schweiß entgegen, sodass Lova beinahe wieder zurückgewichen wäre. Ein leises, kraftloses Krächzen hielt sie allerdings zurück, der klagende Laut klebte ihre Füße am Boden fest und ließ ihren Körper erstarren, hinderte sie an jeder Bewegung. Eine absurde Mischung aus Angst und Erleichterung flutete ihren Kopf, ließ sie gleichzeitig in die Höhe springen vor Freude und sich zusammenkauern vor Panik.
Runna lebte, doch in welcher Verfassung befand sie sich, welchen Preis hatte es den jungen Wechselflügler gekostet, welchen Schaden hatten die Pfeile angerichtet?
Sie wagte es kaum, den Blick zu heben und ihren Drachen zu mustern, doch letztendlich tat sie es natürlich dennoch – hatte sie denn eine andere Wahl? So gern sie sich auch vor der Wahrheit verschließen würde, durfte sie keine wertvolle Zeit verschwenden. Wenn sie Pech hatte, würde man sie hier entdecken und was dann geschah, wollte sie sich nicht einmal ausmalen. Ihre kurze Begegnung mit Ryker hatte ihr mehr darüber verraten, als sie hatte wissen wollen, doch offensichtlich hatte seine Grausamkeit nicht bei dem Versuch gestoppt, sich an ihr zu vergreifen. Nein, er hatte Runna ebenfalls quälen müssen, hatte ihren schlanken Körper in Ketten gelegt, die ihr die Schuppen aufschürften und feine Rinnsale von Blut hinterließen. Die Pfeilwunden hatte man nur notdürftig mit einem Tuch abgewischt, welches von weinroten Flecken übersät in einer unbeachteten Ecke lag. Gegen die zerstörerische Wirkung des Drachenwurzes musste er ihr allerdings ein Gegenmittel verabreicht haben, denn obwohl Runna sich kaum aufrichten konnte, waren ihre grünen Augen dennoch klar. Sie musste wissen und verstehen, was hier vorging, doch Lova wusste nicht, ob dieser Gedanke sie wirklich beruhigte.
Sie sank neben dem Wechselflügler auf die Knie und strich ihr sanft über die roten Schuppen. Trotz des Maulkorbes drang ein erschöpftes, aber wohlbekanntes Glucksen an ihre Ohren und diesmal konnte Lova nicht verhindern, dass ihr Tränen in die Augen schossen. „Hey, Kleine", flüsterte sie und lehnte ihre Stirn gegen die des Drachen. „Es geht dir gut..." Runna stieß ein Schnauben aus, in welchem Lova ein amüsiertes Lachen erkannte. Offensichtlich machte der Wechselflügler sich über ihre Einschätzung der Situation lustig, doch in der Wikingerin stieg dabei nur noch mehr grenzenlose Erleichterung hoch. Wenn Runna sich über ihren Irrtum vergnügen konnte, ging es ihr besser, als die Wikingerin geglaubt hatte.
„Du brauchst mehr von dem Gegenmittel", stellte Lova fest und erhob sich in einer fließenden Bewegung. Ihre Knie schmerzten schon von dem kurzen Kontakt mit dem harten, kalten Metallboden, sie wollte sich gar nicht ausmalen, wie es ihrem Drachen gehen musste. Als Reptil zählte sie zu den wechselwarmen Geschöpfen, und wenn sie zu lange der Kälte ausgesetzt war, konnte das Folgen haben, die für keinen der Beteiligten erfreulich werden würden.
„Haben die Jäger etwas hier gelassen?", fragte sie Runna und achtete darauf, langsam und deutlich zu sprechen, damit der Wechselflügler sie auch in ihrem Zustand verstand. Der Drache nickte nur träge und hob das Kinn, um auf eine kleine Karaffe zu deuten, die achtlos auf dem Boden lag. Die Erschütterung und das fehlende Gleichgewicht des Schiffes bei dem Angriff des Granatenfeuers mussten sie umgeworfen haben. Lova konnte nur hoffen, dass das Glas dabei keinen Bruch erlitten und das wertvolle Nass verschüttet hatte.
Als sie nach der Karaffe griff, entwich ihr ein erleichterter Seufzer. Keine Scherben gruben sich in ihre Haut, keine Flüssigkeit benetzte ihre Hände. „Wir haben wirklich unverschämtes Glück", bemerkte Lova und neigte den Kopf vor der Güte der Götter. Sie war nicht die Gläubigste unter den Wikingern, doch sie würde die Geduld der Götter sicher nicht allzu lange überstrapazieren, indem sie sich nicht dankbar zeigte. Außerdem konnte sie jede Unterstützung gebrauchen, die ihr dargeboten wurde, und wenn es sich nur um eine der Art handelte, die nicht aus dieser Welt und somit nicht greifbar war.
Mit diesem Vorsatz schraubte sie die kleine Flasche auf und roch probeweise daran. Die Farbe konnte sie nicht erkennen, doch das Gegenmittel schwappte träge gegen die Innenwände der Karaffe und der Duft war genauso sanft und wohltuend, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Statt, wie unter Heilmitteln üblich, Gift mit Gift zu behandeln, schien dieses Gemisch eher ein totales Gegenteil zu dem stechend scharf riechenden Drachenwurz darzustellen. Allerdings war Lovas Wissen über die Herstellung bedauerlicherweise stark begrenzt, weswegen sie sich kein Urteil erlaubte. Solange es wirkte, hätte ihr in diesem Augenblick auch kaum etwas weniger wichtig sein können.
Die Hälfte des Mittels verabreichte sie Runna direkt, den Rest tupfte sie mit den Fingerspitzen auf die Einstichstellen der betäubenden Pfeile. „Fühlst du dich besser?", fragte sie ihren Drachen und strich ihr sanft über die Schnauze. Die Haut des Wechselflüglers war beunruhigend kühl, doch nicht so schlimm, dass sie flugunfähig wäre. Zumindest konnte Lova das nur hoffen.
Ein zustimmendes Schnauben bestätigte ihre Vermutung. Und wenn sie sich nicht irrte, war dieses sogar ein wenig lauter und kräftiger als noch bei ihrem Eintreffen.
„Dann dürfen wir keine Zeit verlieren", sagte Lova und strich sich das störende Haar auf der Stirn. „Wir müssen hier verschwinden, ehe die Jäger uns erwischen." Mit diesen Worten half sie Runna, sich aufzurichten und nahm ihr den Maulkorb ab. Es zischte, als der Wechselflügler die Ketten mit seiner Säure verätzte und sich schließlich zu ihrer vollen Größe aufrichtete. Ein Lächeln schlich sich auf Lovas Züge. „Lass uns von hier verschwinden, ja?"
Runna knurrte zustimmend und ging probeweise ihre ersten, noch etwas wackligen Schritte, die von den aufmunternden Worten und der stützenden Schulter ihrer Reiterin begleitet wurden. Die Muskeln des Drachen waren verkrampft vom Liegen in derselben, unbequemen Position für einige Stunden, doch mit jedem Pfote-vor-Pfote setzen wurden ihre Bewegungen lockerer, bis sie schließlich das typische Schleichen der Wechselflügler wiederaufnahm und mit den Flügeln schlug, um wieder Gefühl in diese zu bekommen. Erst, als das Drachenweibchen wieder voll bewegungsfähig war, folgte sie Lova zur offenstehenden Eisentür.
„Kannst du dich unsichtbar machen?", fragte diese und sah sich mit zusammengekniffenen Augen in dem dunklen Flur um. Kein Laut drang daraus hervor, keine Bewegung teilte die undurchdringlichen Schatten. Dennoch lag eine hektische Dringlichkeit in Lovas grauen Augen, als sie prüfend über die mittlerweile wieder etwas wärmeren Schuppen ihres Drachen fuhr. Blut und Staub blieben an ihren Fingern kleben, als sie ihre Hand zurückzog. Runna schnüffelte neugierig daran und wich schließlich mit einem frustrierten Fauchen zurück. Als Wechselflügler war sie voll und ganz auf ihre Unsichtbarkeit angewiesen, immerhin war ihre Haut dementsprechend nicht so robust wie die anderer Drachen. Das war einer der Gründe, warum es sich bei dieser Reptiliengattung um überaus reinliche Geschöpfe handelte, die Wasser so sehr schätzten, dass Lova sie ohne zu zögern in die Gezeitenklasse verortet hatte. Das war wohl einer der Gründe, warum man sie vorzugsweise auf Inseln fand – hier konnte sie allerdings nur Vermutungen anstellen.
„Also keine Tarnung", stellte Lova schließlich fest und straffte die Schultern. „Auch gut."
Ihren eigenen Mantel hatte sie schließlich verloren, also musste sie sich genau wie Runna auf ihr Glück verlassen. „Keinen Laut", flüsterte Lova also und legte zur Verdeutlichung einen Finger auf ihre Lippen. „Wenn du etwas wahrnimmst, was auf einen Fluchtweg hindeutet, sollten wir so schnell und leise wie möglich darauf zu, ja?" Der Wechselflügler gurrte zustimmend und stieß ihrer Reiterin aufmunternd die Schnauze in die Seite. Lächelnd strich Lova ihr über die Stirn und reckte kampfbereit das Kinn. „Dann lass uns beten, dass die Götter in gnädiger Stimmung sind."
~
Das Kriegsschiff Rykers war in drei verschiedene Teile in ebenso vielen Etagen eingeteilt; die Lager, die Aufenthaltsräume und Schlafsäle und schließlich ein halbes dutzend riesige, leere Kammern. Lova vermutete, dass diese das Schiff zur Wasseroberfläche treiben lassen sollten, falls es aus irgendeinem Grund vom Rücken des Granatenfeuers getrennt werden sollte. Viel Ahnung von Physik hatte sie allerdings nie gehabt, wie die meisten Wikinger hatte sie nicht geglaubt, dass sie es brauchen würde. Wann baute man schon einmal ein Schiff aus Metall, befestigte es am Rücken eines absolut tödlichen Titanflüglers und schipperte damit quer durch das Inselreich?
Die richtige Antwort lautete, oh Wunder: Nie.
Eigentlich könnte ihr all das auch ziemlich egal sein, denn die Hauptsache war, dass die dritte Etage völlig verlassen war. Die Dunkelheit bot zudem mehr als genug Verstecke, falls sich doch ein Jäger hierher verirrte, aber Lova machte sich darum keine großen Sorgen. Was sollten sie hier schon machen? Um die Säuberung dieser großen Hallen schien sich zumindest niemand Gedanken zu machen, denn eine Staubschicht hatte sich auf dem Metallboden abgesetzt. Im schwachen Licht des orangenen Feuers, welches in Runnas Rachen glomm, erkannte Lova außer ihren eigenen Fußspuren auch keinen Hinweis darauf, dass jemals jemand hier gewesen war.
„Wir scheinen hier absolut allein zu sein", sagte sie und wechselte einen skeptischen Blick mit dem Wechselflügler. Jedes Wort hallte unangenehm laut in den leeren, verlassenen Räumen wieder, ganz gleich, wie leise man sprach. „Mir ist das genauso suspekt wie dir, Kleine."
Der Drache knurrte ungehalten und trat unwillkürlich einige Schritte näher an ihre Reiterin heran, suchte hinter ihr Schutz. Vielleicht war es aber auch einfach Lovas Körperwärme, die den unterkühlten Wechselflügler anzog. Tatsächlich war es hier deutlich kälter als in den übrigen Etagen, was vermutlich an der direkten Nähe zum Meer lag. Nachdenklich legte Lova den Kopf schief und sah zur Decke der Kammer. Runna folgte ihrem Blick und tauchte das Metall in ein kupfernes Leuchten, welches die einzelnen, miteinander verbundenen Platten und einige, auffällig geformte Vertiefungen zum Vorschein brachte. Sie waren in etwa fünf Meter Abständen angebracht und breit genug, um es als ziemlich deplatzierte Tür zu verwenden. Abgegriffene, bereits leicht rostende Hebel bestätigten Lovas Vermutung und die Wikingerin stieß ein triumphierendes: „Bei all den Göttern, ja!", aus.
Sie drehte sich zu ihrem Drachen, ein aufgeregtes Funkeln in den grauen Augen. „Wenn der Wasserdruck nicht zu heftig ist, könnte das der sicherste Weg sein, zu entkommen, ohne uns-"
Eine heftige Erschütterung warf die Wikingerin von den Füßen und brachte das Schiff in eine Schieflage, die ihren Magen rebellieren und ihre Alarmglocken läuten ließ. Eine solche Wucht hatte der Granatenfeuer nicht erreicht, als er sich das letzte Mal aufgerichtet hatte, da war sie sich sicher. Etwas anderes musste der Auslöser sein, etwas viel Schlimmeres.
Und als Wasser durch die Türen über ihren Köpfen drang und sich sintflutartig über ihren Köpfen ergoss, wurde Lova klar, dass sie ein deutlich größeres Problem hatten als den Wasserdruck, die seltsame Erschütterung oder sogar die rachsüchtigen Jäger.
Denn wenn sie jetzt nicht sofort ihren Weg nach draußen fanden, würden sie hier ertrinken.
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Clematis
FanficWieso verriet Ryker seinen Bruder? Wie gelang es Viggo, aus dem Vulkan zu entkommen? Wie erhielt er die Narben an seinem Hals? Wer rettete ihn, als er in der Basis der Drachenjäger bereit war, sich für Hicks zu opfern? Und noch viel wichtiger; gab e...