Kapitel 10

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Bis Lova und Runna aufbrachen, vergingen noch zwei Wochen. Die Wikingerin hatte sicher gehen wollen, dass der Wechselflügler alle Kraft in den Flügeln hatte, die sie brauchen würde, wenn sie den Ozean nach Viggo absuchten.

Sie wusch ihren hellroten Mantel im Meer aus und überspülte die salzverkrusteten Schuppen anschließend mit klarem Quellwasser. Sie wollte kein Risiko eingehen, denn wenn sie sich nicht richtig unsichtbar machen könnte, könnte das ihren Tod bedeuten. Auch ihre Lederhose und ihr weißes Hemd säuberte sie, mehr aus hygienischen Gründen als aus praktischen, aber irgendwo ging das eine mit dem anderen Hand in Hand. Die Vorstellung, in ihrer schmutzigen Inselkleidung vor dem Anführer der Jäger zu stehen, behagte ihr ganz und gar nicht. Lieber würde sie mit dem Meeresdrachen schwimmen, der sie an ihrem ersten Tag hier angegriffen hatte. Diese Peinlichkeit konnte sie sich wirklich ersparen. Selbst Runna hatte sie so gut wie möglich vom Dreck gereinigt, aus denselben Gründen wie ihren Umhang. Außerdem würde sie es nicht ertragen, ihren geliebten Drachen zu verlieren.

Auch an Essen hatte Lova gedacht, von getrocknetem Obst bis zu Fisch und Fleisch hatte sie alles in einem Lederbeutel verstaut. Im alten Lager der Drachenjäger hatte sie mehr Pfeile aus den Zelten oder den unnütz herumliegenden Köchern gesammelt, als sie verstauen könnte, aber sicherheitshalber hatte sie die Spitzen in einen Sud aus den Wurzeln des Blauen Eisenhuts getaucht und in Leder gewickelt. Sie wäre auf alles vorbereitet gewesen, von wilden Drachen bis zu feindlich gesinnten Wikingern. Nichts hätte sie und Runna überraschen können. Lova hatte sogar nach dem alten Pergament gesucht, welches wohl von Viggo unterschrieben wurden war, damit der Wechselflügler den Geruch vielleicht noch erkannte und den Mann für sie finden oder zumindest erkennen konnte. Man musste der Wikingerin zugutehalten, dass ihr Plan durchaus funktioniert hatte. Vielleicht sogar ein wenig zu gut...

~

Sie flogen kaum einen Tag.

Lova hatte schon viel von dem phänomenalen Geruchssinn der Wechselflügler gehört, aber was Runna hier an den Tag legte, war schlicht unglaublich. Unter Wikingern sagte man sich, dass diese Drachen jeden menschlichen Nesträuber verfolgen und töten könnten, unabhängig von dessen Vorsprung. Sie würden die Welt umrunden, wenn sie so wieder an ihre Eier kommen würden, besonders weibliche Wechselflügler erreichten Extremen, die für Menschen nicht einmal vorstellbar waren.

Aber Runnas Leistung war noch beachtlicher. Der Drache kam erst zum Stehen, als sie direkt über Viggos Zelt flogen. Den ganzen Weg hatte sie ohne eine einzige Pause zurückgelegt, Lova spürte ihre vor Anstrengung bebenden Flanken unter ihren Händen. Sie hätte Runna niemals darum gebeten, doch nachdem der Drache Viggos Geruch auf dem alten Pergament wahrgenommen, gab es für sie kein Halten mehr. Auf irgendeine verquere Weise hatte der Drache ganz genau verstanden, was sie gewollt hatte.

Lobend klopfte Lova dem Wechselflügler gegen den schlanken Hals, sorgsam darauf bedacht, dass keines ihrer Körperteile unter ihrem Mantel sichtbar war. Sie sah keine Wachen in unmittelbarer Nähe, wollte aber kein Risiko eingehen, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. „Setz mich dort hinten im Gebüsch ab, Kleine", flüsterte sie, lautlos fast, aber mit ihren herausragenden Sinnen war Runna imstande, sie zu hören und folgte ihrer Bitte. Im Schatten der Bäume stieß Lova die unbewusst angehaltene Luft aus und stützte sich an Runnas Seite ab. Der Drache leckte ihr nur begeistert über die Wange, zwar noch unsichtbar, aber genauso voller Sabber wie in erkenntlichen Zustand. Doch Lova schob die Schnauze des Wechselflüglers sanft beiseite. „Ich hol dich hier ab, wenn ich weiß, dass alles sicher ist, okay?", fragte sie ihren Drachen leise und wurde mit einem zustimmenden Grollen belohnt. „Du kannst dich gern umsehen und jagen, wenn du möchtest, aber lass dich nicht von den Jägern erwischen." Ein weiteres Grollen und ein neckender Stups gegen Lovas Wange, als wollte Runna sie beschwichtigen. Ihr würde schon nichts passieren, sie konnte auf sich Acht geben... Lova lächelte schwach. „Ich weiß doch", gab sie zurück und strich über die samtweiche Schnauze des Drachen. „Pass einfach auf dich auf."

Den Blick in den grünen Augen erkannte Lova sofort. Der Skrill hatte sie bei ihrem Abschied genauso angesehen. Sie seufzte leise. „Und ich werde auf mich aufpassen, versprochen." Kaum hatte sie ausgeredet, verschwand Runna endgültig und hinterließ nichts als das leise Rascheln der Blätter, die sie hin und wieder streifte. Lova war wieder auf sich gestellt. Die Wikingerin straffte die Schultern, schob sich einige verirrte Strähnen hinter die Ohren und rückte ihren Mantel zurecht. Dann trat sie aus den Schatten und wurde sichtbar.


Ironischerweise war es Ryker, der sie als Erstes sah. Er war gerade aus dem Zelt seines Bruders gekommen, einen undefinierbaren Ausdruck in dem ohnehin stets kalten Gesicht. Aber als er sie sah, entgleisten seine Gesichtszüge. Einen Augenblick lang stand ihm sogar der Mund offen vor Überraschung. Er schien wirklich nicht mit ihr gerechnet zu haben. Lovas Augen verengten sich zu Schlitzen, sie musste sich ein selbstzufriedenes Lächeln verkneifen. Wenn Viggos Handlanger überrascht war, dann würde er es auch sein.

Vielleicht war es aber auch nur ihre Erscheinung, die ihn aus der Bahn warf. Sie war ohne einen Laut aus dem Gebüsch getreten, in einem langen, roten Mantel, der ihren Körper umgab wie eine zweite Haut. Ihre ehemals kantigen, herausstechenden Wangenknochen waren nun unter einer Schicht Fleisch und Muskeln verborgen, die ihr überaus gut zu Gesicht stand. Ihre ewigen, dunklen Augenringe aus albtraumhaften Nächten waren verschwunden und sie hatte nicht nur einige Muskeln mehr, sondern auch ein gesundes Maß Körperfett zugelegt. Regelmäßige, ausgewogene Mahlzeiten und davon so viele, wie sie wollte, hatten ihren Anteil daran.

Aber am meisten hatten sich ihre Augen verändert. Aus den stets müden, leeren Irden, die Ryker zuletzt gesehen hatte, brannte seit ihrer Flucht wieder unleugbar ein Feuer. Sie waren noch immer so grau wie Sturmwolken, aber jetzt stand Intelligenz und Schärfe darin. Sie war kein dummes Mädchen mehr, das zeigte ein Blick in ihr entschlossenes Gesicht. Sie hatte einen Drachen hinter sich, sie hatte einen Bogen und sie hatte ihre eigene Intelligenz. Letzteres konnte, wie sie von Viggo gelernt hatte, eine bessere Waffe sein als jedes Schwert und jede Keule.

Gegen Männer wie Ryker, die sich nahmen was sie wollten und für die ein Nein nichts als aneinandergereihte Buchstaben waren, half nur absolute Selbstüberzeugung, aber davon hatte Lova heute eine Menge zu bieten. Sie starrte ihm direkt in die kalten, braunen Augen und merkte dabei einmal mehr, wie sehr sie sich von denen seines Bruders unterschieden. „Bring mich zu Viggo", forderte sie mit lauter, klarer Stimme.

„Ich fürchte, mein Bruder ist gerade beschäftigt, Vernell", gab er gelangweilt zurück und zog sein abgenutztes Schwert aus der Scheide. Er ließ es so wirken, als ob er es nur mustern wollte, aber sie wusste genau, dass er nicht zögern würde, ihr damit die Kehle aufzuschneiden. „Und ich fürchte, dass er von meiner Anwesenheit unterrichtet werden will", entgegnete sie gefasst und fuhr nahezu beiläufig über die Sehne ihres Bogens.

Sie spürte, wie Rykers Blick der Bewegung folgte. Dann wanderten seine Augen zu dem gut gefüllten Köcher, der an ihrer Hüfte baumelte und sie konnte sehen, wie er seine Möglichkeiten abwog. Er könnte sie hier einfach ermorden und wäre so natürlich ein Problem los, aber sie könnte es schaffen, rechtzeitig einen Pfeil auf ihn zu schießen und dann würde es hässlich werden. Er könnte sie als seine Gefangene zu Viggo führen und den Ruhm einheimsen, aber wenn sie freiwillig hier auftauchte, erschien ihm das offensichtlich nicht als sonderlich sinnvoll. Lova hörte ihn erst abschätzig schnauben, dann verdrehte er die Augen und deutete mit einer ausschweifenden Handbewegung auf Viggos Zelt, welches von glimmenden Fackeln nur noch schwach erleuchtet wurde. Sie meinte, eine aufgebrachte Stimme wahrnehmen zu können, aber vielleicht war das nur Einbildung.

„Dann tritt ein, Häuptling. Den Weg findest du sicher allein", sagte Ryker und machte damit deutlich, dass er sie als seiner Zeit nicht würdig empfand.

Mit diesen Worten war er weg und Lova hatte kaum Zeit sich zu wundern, warum er seinem Bruder so dringend aus dem Weg gehen wollte. Ihre Füße setzten sich wie von selbst in Bewegung, führten sie langsam auf das Zelt zu. Bevor sie eintrat, warf sie durch einen Schlitz im Stoff einen vorsichtigen Blick hinein.

Was sie sah, entsprach kein bisschen ihren Vorstellungen.

Der kleine Innenraum war völlig verwüstet. Tinte floss an einer Seite der Zeltwand hinab, Karten und altes Pergament lagen wahllos auf dem Boden verteilt herum, selbst sein geliebtes Keule-und-Klaue-Spielbrett hatte er von dem Holztisch gestoßen. Die Figuren rollten auf dem Boden hin und her, einige hatten ihre goldenen Verzierungen eingebüßt. Aber Viggo selbst war die größte Überraschung. Sie hatte ihn immer nur gefasst gesehen, er war immer Herr der Lage gewesen. Selbst bei ihrem versuchten Mord hatte er die Fassung bewahrt, selbst mit gebrochener Nase stand er aufrecht und hatte die Kontrolle über seine Armee. Aber jetzt war sein dunkles Haar wirr, seine Augenringe noch tiefer und an seiner Kleidung glänzte getrocknete und noch nasse Tinte. Er hatte die Handflächen auf dem Tisch abgestützt und atmete schwer, als hätte er das Zelt gerade erst so zugerichtet. In seinen Augen stand kalte Wut, wie Lova sie noch nie an ihm gesehen hatte. Jetzt verstand sie, warum Ryker ihm gerade nicht begegnen wollte. An seiner Stelle hätte sie das auch nicht gewollt. Viggo die Kontrolle verlieren zu sehen war so abstrakt, so seltsam, dass Lova es unter anderen Umständen für einen irren Traum gehalten hätte, aber das Feuer der Fackeln spiegelte sich in seinen braunen Augen und sie konnte den schwachen Geruch nach Wald und Meer wahrnehmen, der in der Luft hing. Das konnte sie sich nicht einbilden, das war unmöglich. Kein Traum hätte dieses Bild so realistisch einfangen können. Das hier war Viggo, der gefürchtetste Drachenjäger des Inselreiches.

Bevor der Mut sie erneut verließ, schob Lova den Vorhang beiseite, der das Zelt von der Außenwelt trennte und gleichzeitig als Ein- und Ausgang diente. Sie musste erstaunlich leise gewesen sein, denn Viggo sah nicht auf. Aus dieser Entfernung – oder eher Nähe – war es noch seltsamer, ihn so unbeherrscht zu sehen. Der Dreck auf seiner Kleidung, die zerstörte Frisur, das passte einfach nicht. Was war nur geschehen, dass es ihn so aus der Bahn warf? Vom Starren wirst du es nicht herausfinden, tadelte sie sich selbst. Sie würde jetzt nicht kneifen, nur weil die Umstände ihres Wiedersehens anders waren als erwartet.

„Guten Abend, Viggo." Ihre Stimme durchschnitt die Stille, aber nicht annähernd so selbstsicher wie noch vor einigen Minuten. Dennoch, mit den kämpferischen Auge und den gestrafften Schultern musste Lova einen einigermaßen würdevollen Eindruck machen, denn als Viggos Blick den ihren traf, weiteten sich seine Augen überrascht. „Du bist zurück", sagte er, die Stimme rauer, als sie es gewohnt war, aber noch immer sanft genug, dass ihr ein Schauder über den Rücken lief. „Und das eher als erwartet. Sag, meine Teure, welche Art der Rache hast du für mich gewählt?"

~

Lova überschlug die Beine, schob ihren hellroten Mantel zurück und schenkte Wasser in das zweite Glas auf dem Tisch. Sie nippte vorsichtig daran, während Viggo jeder ihrer Bewegungen aufmerksam folgte. Sie spürte, wie sein Blick an ihrem Körper herauf und herunter wanderte und bemerkte auch, wie seine Augen an ihrem Bogen, ihrem Köcher und besonders lange an ihrem Mantel hängenblieben. Sie fragte sich, ob er die ungewöhnliche Beschaffenheit auch im Halbdunkel erkennen konnte. Als Drachenjäger war es ihm zuzutrauen, aber bevor sie genauer darüber nachdenken konnte, sah er wieder in ihr Gesicht, seine warmen, braunen Augen trafen auf ihre.

Sie räusperte sich, ehe sie zu sprechen begann und kämpfte gegen den Drang an, den Blick zu senken. „Ich habe keine Rachegelüste dir gegenüber, zumindest noch nicht", entgegnete Lova schließlich und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „Du schaffst es immer wieder, mich zu überraschen", sagte Viggo und schenkte ihr ein anerkennendes Lächeln. Sie schob es mit einer beiläufigen Handbewegung beiseite. „Ich habe dein Gespräch mit dem Wachen mitgehört, nichts weiter." Er lachte leise. „Damit hätte ich rechnen müssen", gab er zu und stützte die Arme auf der Tischplatte ab, um sich unauffällig ein wenig näher zu ihr lehnen zu können. Lova bemerkte es nur, weil sie die feinen, goldenen Sprenkel in seinen Augen so besser erkennen konnte.

Sie vertrieb jeden näheren Gedanken darüber und hob stattdessen die Brauen. „Das hättest du", bestätigte sie trocken. „Aber du könntest mir trotzdem erklären, weshalb du mich auf einer Insel voller Wechselflügler aussetzen wolltest, wie wäre das?" Viggo schüttelte den Kopf, sein übliches gewinnendes Lächeln auf den Lippen. „Meine liebe Louvisa", Ihr Name aus seinem Mund hatte noch immer einen ungewohnten Klang in ihren Ohren. „Ich hatte mich bewusst für diese Insel entschieden, da die Wechselflügler gerade ihre jährliche Wanderung aufnehmen", erklärte er und Lova schnaubte. „Eine Insel voller tödlicher Drachen bleibt eine Insel voller tödlicher Drachen. Wie hätte ich von dort entkommen sollen, wenn sie wiederkommen?"

„Meine Liebe, ich bin mir der Gefahren durchaus bewusst", sagte er beschwichtigend. „Der Zeitpunkt passte perfekt, denn die Insel ist zugleich ein Rastplatz bei der Wanderung der Tödlichen Nadder. In wenigen Wochen hättest du auf einem von ihnen von dort entkommen können."

Sie verschränkte die Arme vor der Brust, als könnte sie das vor seinem charmanten Lächeln und seinen sanften Worten schützen. „Du verlässt dich ziemlich auf meine Fähigkeiten, meinst du nicht?", fragte sie und versuchte, ihrer Stimme einen harten Klang zu verleihen. Viggo hatte für ihren Versuch nur ein weiteres Lächeln übrig. „Das tue ich und offensichtlich hatte ich mehr als Recht damit. Immerhin sitzt du vor mir, ohne einen Nadder weit und breit und schöner als zuvor."

Lova hätte sich beinahe an ihrem Wasser verschluckt. Glaubte er, dass sie ihm jetzt zu Füßen liegen würde, weil er sie schön genannt hatte? Ihre Gesichtszüge verhärteten sich und ihre Hand wanderte unwillkürlich zu ihrem Bogen. „Wer Wind sät, wird Sturm ernten, wie man so schön sagt", entgegnete sie, während jeder ihrer Muskeln bereit war, aufzuspringen und zu kämpfen. Eine falsche Bewegung und sie würde ihren Bogen schneller spannen, als er sein Schwert ziehen konnte.

„Du hast mich auf eine Insel voller Wechselflügler geschickt, also kehre ich auf einem Wechselflügler zurück, Grimborn."

Als er die Arme hob, sprang sie in einer fließenden Bewegung auf, riss sich den Bogen von der Schulter und hielt ihn direkt auf den Mann gerichtet.

Es war einer der Eisenhut-Pfeile, eine der giftigsten Pflanzen des Inselreiches. An Viggos Blick konnte sie erkennen, dass er das wusste oder mindestens ahnte. Dennoch ließ er sich nicht beirren und... klatschte ihr Beifall.

Verdutzt ließ Lova den Bogen sinken. Sie hatte ja gewusst, dass Viggo ein Spieler war und genau wie sie Strategie, Taktik und Können schätzte, aber das hier kam ihr trotzdem überaus seltsam vor. Er reagierte eher, als hätte sie ihn in Keule und Klaue geschlagen (so gut wie unmöglich), aber nicht, als ob sie einen der gefährlichsten Drachen dieser Erde gezähmt und hierher gebracht hätte.

„Ich wusste, dass du eine außergewöhnliche, junge Frau bist, aber dennoch... Ein Wechselflügler, bei den Göttern", sagte Viggo ungläubig, sein Blick wanderte wieder zu ihrem Mantel. Im Feuerschein tanzten goldene Flammen über das helle Rot und verliehen ihm eine manische Schönheit. Der Anführer der Drachenjäger sah sie voller Anerkennung an. „Ein Mantel aus Wechselflüglerhaut, natürlich... So bist du nicht von den Wachen bemerkt wurden", stellte Viggo fest und erhob sich. Mit nur drei Schritten war er bei ihr und fuhr mit nachdenklich schief gelegtem Kopf über die schuppige Haut.

Lova spürte seine Berührungen an ihrem Arm, ein Schauder lief ihr über den Rücken, als er weiterwanderte zu ihren Schultern, zu ihrem Hals und schließlich an ihrem Schlüsselbein zum Stehen kam, genau dort, wo der Stoff des Mantels in den ihres Hemdes überging und ihre Haut entblößte. Sie spürte seinen warmen Atem, wich aber nicht zurück. „Er wird dir seine Funktionsweise nicht verraten, wenn du ihn nur berührst, Viggo", erklärte sie und hoffte, dass er die Gänsehaut nicht sah, die sich auf ihrer Haut ausbreitete. „Natürlich nicht", gab er zurück. „Ich frage mich nur, wie du ihn verwendest. Was löst die Unsichtbarkeit aus?"

Lova nutzte die Chance, um einen Schritt zurückzutreten. Da, wo seine Hand bis eben geruht hatte, breitete sich eine unangenehme Kälte aus, doch sie schüttelte diese schnell ab und streifte sich stattdessen die Kapuze über den Kopf. Sofort verschmolz sie mit dem Zeltinneren, einzig ihr freiliegendes Gesicht war noch zu sehen. Doch als sie sich den Stofffetzen, denn sie genau für diesen Zweck angebracht hatte, über die Nase zog, wurde sie völlig unsichtbar.

„Es ist eigentlich recht einfach", sagte sie und trat so leise wie möglich hinter Viggo. Sein Blick hing noch immer an der Stelle, an welcher sie gerade verschwunden war. „Ich könnte hier sein...", fuhr sie fort und sah belustigt zu, wie er herumfuhr. Dann kehrte sie wieder an den Tisch zurück und setzte sich auf seinen Platz, die Beine überschlagen und ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen. „Oder hier." Mit diesen Worten schob sie ihre Kapuze zurück und wurde wieder sichtbar. Sie sah, wie sein Blick ein weiteres Mal über ihren Körper wanderte, bis zum Saum des Mantels und dann wieder hoch zu ihren Augen. Lova erkannte die Anerkennung in seinem Blick, als er sich auf den zweiten Stuhl fallen ließ, aber da war noch etwas anderes, etwas, dass sie nicht deuten konnte.

„Überaus beeindruckend, meine Liebe, wie nicht anders erwartet." Bei seiner Antwort war Viggos Stimme noch rauer als vorher und ihre Gänsehaut kehrte zurück. An seinem Blick, der wieder zu ihrem freiliegendem Schlüsselbein wanderte, konnte sie sehen, dass er es bemerkte. „Das könnte jeder, mit den richtigen Materialien", sagte sie dennoch so lässig wie möglich und betete, dass diese lästige Gänsehaut verschwand. „Aber wer ist in der Lage, ebenjene Materialien zu erhalten?", fragte er. „Ganz sicher nicht jeder, meine teure Lova." Einen Moment lang war sie wie gefesselt von seinem unbeirrten, klaren Blick, ehe sie sich wieder fasste und die Arme vor der Brust verschränkte. „Ich war zur rechten Zeit am richtigen Ort, nichts weiter", gab sie mit fester Stimme zurück. Viggo lachte, kurz und leise zwar, aber unverkennbar amüsiert. „Meine Liebe, lass mich dir eine Sache sagen...", begann er. Sie schwieg, bedeutete ihm aber, fortzufahren. „Du solltest lernen, zu deinen Erfolgen zu stehen."

Lova schnaubte und erhob sich wieder. Das Holz des Tisches knarzte, als sie sich mit den Händen darauf abstützte und sich nach vorn lehnte, um auf Viggo herabzusehen. Es bereitete ihr eine nicht zu verhehlende Genugtuung zu beobachten, wie er den Kopf leicht in den Nacken legen musste, um ihr weiterhin ins Gesicht zu sehen. „Alle meine sogenannten Erfolge konnten nur deinetwegen geschehen", flüsterte sie, wohl wissend, dass sie ihm so nah war, dass er jedes Wort hören oder von ihren Lippen ablesen könnte. „Ohne dich hätte ich nie den Skrill gezähmt, nie meinen Wechselflügler retten können, aber zugleich..."

Lovas Stimme versiegte. Sie drehte sich lediglich herum und schob ihren Mantel beiseite und ihr Hemd nach oben. Das Brandzeichen kam zum Vorschein, eine tiefe Narbe auf ihrer sonst unbefleckten, hellen Haut. Sie spürte Viggos Blick auf ihrem Rücken und ließ den schützenden Stoff wieder herabfallen, ehe sie sich wieder an ihn wandte.

„Ich muss nicht für dich aufzählen, was sonst alles nicht geschehen wäre", sagte sie und brachte es nicht zustande, ihn anzusehen. All die Dinge, die er oder seine Männer ihr angetan, ihr genommen hatten... Sie hatte drei Jahre ihres Lebens in einem Käfig verbracht, mit einem Schloss, dessen Schlüssel Viggo metaphorisch betrachtet sofort in die endlosen Tiefen des Meeres geworfen hatte. Um ihm zu entkommen, hatte sie sich anpassen, hatte sie gehorchen und sich brechen lassen müssen, ehe sie schließlich ihr eigenes Gefängnis förmlich in die Luft gesprengt hatte.

Doch ohne all diese Erfahrungen, was wäre sie dann jetzt? Häuptling auf ihrer Insel, das ja, aber wäre sie jemals auf dem Rücken eines Drachen geflogen? Hätte sie jemals gelernt, ihre Fehler zu bereuen und schließlich ruhen zu lassen? Und, am wichtigsten von allem, hätte sie je gewusst, was Freiheit eigentlich bedeutete? Lova räusperte sich und scheuchte diese Gedanken wie lästige Fliegen davon. Was brachte es, sich darüber den Kopf zu zerbrechen? Es lag in der Vergangenheit, unwiderruflich geschehen und vorbeigezogen wie ein Gewittersturm.

„Meine Teure, glaubst du an das Schicksal?"

Viggos Frage erwischte sie völlig unvorbereitet. Bis eben hatte sie sich in ihren Gedanken verloren, wie es ihr oft geschah, und seine Anwesenheit darüber fast vergessen. Jetzt wurde sie sich dessen bewusst, bemerkte ein weiteres Mal seine aufmerksamen, braunen Augen, die noch immer die ihren gefangen hielten und ihr entging auch nicht, dass sie ihm schon wieder näher war, als es sich eigentlich gehörte. Sie konnte schon wieder die goldenen Sprenkel in seinen Augen sehen, die feine Narbe an seiner Wange und seine Lippen, die wie immer zu diesem charmanten Lächeln verzogen waren. Auch wenn das nicht über sein wirres Haar und seine tintenbefleckte Kleidung hinwegtäuschte, hatte er noch immer die Fähigkeit, sie völlig in seinen Bann zu ziehen.

Lova räusperte sich ein weiteres Mal. „Ich streite jegliche Aussagen ab, die das Schicksal befürworten würden, jedoch nicht aus Unglaube", entgegnete sie, schneller als eigentlich nötig und hauptsächlich darauf bedacht, ihre Überforderung zu überspielen. Viggo schien ihre Antwort allerdings ohnehin deutlich interessanter zu finden, denn seine Stirn legte sich nachdenklich in Falten. „Würdest du mir das erklären?", fragte er, ganz der höfliche Gentleman. „Ich finde die Vorstellung unerträglich, dass das eigene Leben vorherbestimmt ist wie ein Mythos oder eine Legende. Warum leben wir denn, wenn wir nur den uns gegebenen Pfad entlangtrotten, ohne eine Abweichung, ohne Freiheit?" Mit jedem Wort gewann Lova an Selbstsicherheit zurück. In Gesprächen mit Viggo hatte sie stets das Gefühl, mit einem Gleichgesinnten zu sprechen, auch wenn sie diesen Gedanken bisher immer für ein Hirngespinst gehalten hatte. Aber jetzt, wo sie aus völlig freien Stücken hier war, waren sie da nicht genau das? Gleichgestellte?

Er ließ ihr kaum Zeit, genauer darüber nachzudenken. Vielleicht war das auch besser so.

„Ein überaus berechtigter Gedanke", gab Viggo zurück. Interesse lag in dem Blick, mit dem er Lova jetzt betrachtete. „Deine Ansicht auf diese Welt ist immer überaus erfrischend, anders als die meines geschätzten Bruders." Sie lachte und die Anspannung fiel endgültig von ihr ab. „Ich glaube, dass jedermanns Ansicht erfrischender ist als die Rykers", entgegnete sie trocken. Viggos Lächeln wurde breiter. „So sehr ich es bedauere, ich schätze, da muss ich dir Recht geben. Rivalität zwischen Geschwistern, das immer gleiche Spiel, nicht wahr?", fragte er und Lova nickte belustigt.

„Sicher doch", sagte sie, hob dann aber die Brauen und lehnte sich ein kleines Stück nach vorn. „Aber wieso fragst du mich nach dem Schicksal?" Viggo lachte leise. „Meine Liebe, ich vergesse immer wieder, dass du trotz jeder Ablenkung nie den Gesprächsfaden verlierst", sagte er anerkennend. „Das ist eine beeindruckende Eigenschaft." - „Es ist gesunder Menschenverstand", gab sie zurück. „Macht es das in deinen Augen weniger beeindruckend?", fragte Viggo und Lova schnaubte, ehe sie mit der flachen Hand grob auf den Tisch schlug. Bei dem Schlag schwappte das Wasser aus ihrer beider Gläsern über das Holz und benetzte ihre Haut, doch ihre Aufmerksamkeit lag bei Viggo.

„Du weichst mir aus", sagte sie, lauter als eigentlich notwendig. „Beantworte einfach meine Frage. Ich bin keiner deiner Drachenjäger, den du beliebig hin und her schieben kannst wie eine Spielfigur. Ich stehe genau hier, vor dir, auf Augenhöhe, also wag es nicht, mich wie ein dummes Mädchen zu behandeln und..." Er unterbrach sie, sanft kopfschüttelnd und den Zeigefinger als Schweigegeste vor seinen Lippen. „Ich habe dich nach dem Schicksal gefragt", begann er, faltete die Hände und stützte seine Arme auf dem Tisch ab. „Weil ich unser Aufeinandertreffen vor drei Jahren schon seit einer Weile als solches empfinde."

Völlig verwirrt hielt Lova inne, die Lippen geteilt zu weiterem Widerspruch, aber dennoch schweigend. Ihre grauen Augen weiteten sich, als sie seine Worte hörte und ihre Arme, mit denen sie bis zu seiner Unterbrechung gestikuliert hatte, um ihrer Rede Ausdruck zu verleihen, ließ sie – nun nutzlos – sinken. „Du tust... was?"

Doch Viggos gewinnendes Lächeln wurde nur ein wenig breiter. „Du bist für heute entlassen, meine Liebe, ich möchte noch mit meinem Bruder sprechen", erklärte er, als hätte er nicht gerade... was auch immer seine Aussage gerade bedeuten sollte, völlig überraschend und direkt ausgesprochen.

„Du schickst mich weg?", fragte sie fassungslos. „Nenn es nicht wegschicken, das klingt so hart, Lova", gab Viggo zurück und erhob sich. Sie tat es ihm gleich. „Ich verschiebe die Weiterführung unseres Gespräches auf den nächsten Morgen. Das Tageslicht wird viele Dinge in einem anderen Licht erscheinen lassen. Außerdem...", Er schob den Vorhang beiseite, der das Zeltinnere von der Außenwelt abtrennte, um sie hindurchgehen zu lassen.

„Ich möchte nicht, dass sich Gerüchte unter meinen Jägern ausbreiten, wenn du die halbe Nacht hier verbringst. Sie sollen schließlich arbeiten, nicht tratschen." Mit diesen Worten ließ er den Vorhang hinter ihr zufallen und ließ Lova verwirrter als jemals zuvor zurück.

ClematisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt