Kapitel 11

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Gemeinsam mit Runna hatte Lova sich einen Schlafplatz gesucht, möglichst weit weg von den Jägern und noch viel weiter weg von Viggos Zelt. Sollte er sie doch morgen suchen, wenn er denn dann mit ihr sprechen wollte, für heute hatte sie genug von seinen verwirrenden Reden.

So hatten die Beiden sich stattdessen unter einer Trauerweide niedergelassen, in der Nähe der Drachenkäfige. Obwohl die tiefhängenden Äste den Anblick der gefangenen Tiere vor ihnen verbarg, konnten sie doch hin und wieder ein Knurren hören oder ein Zischen. Runna, die in einem Wechselflüglerrudel gelebt hatte, machte das glücklicherweise wenig aus, sie schnarchte vor sich hin und diente Lova als wärmende Lehne. Im Gegensatz zu ihrem Drachen fand die Wikingerin keine Ruhe, so gemütlich ihr Platz am weichen Bauch des Wechselflüglers auch war. Die – wenn auch entfernte – Anwesenheit der Jäger machte sie nervös und sie fühlte sich angreifbar, obwohl sie neben einem sehr gefährlichen und verdammt aufmerksamen Drachen lag, der sie wohl selbst gegen einen Nachtschatten verteidigen würde.

Sie fand kein bisschen Schlaf, das tat sie weder hier, noch hätte sie es an irgendeinem anderen Ort. Ihr Gespräch mit Viggo schwirrte ihr im Kopf herum. Besonders seine letzte Äußerung wollte einfach keinen Sinn ergeben. Was hatte er damit gemeint, ihre Begegnung wäre Schicksal gewesen? Lova schnaubte und trat frustriert gegen eine Wurzel. Warum versuchte sie überhaupt, diesen Mann zu verstehen? Im Große-Reden-schwingen war er doch schon immer gut gewesen. Sie sollte aufhören, seinen Worten soviel Bedeutung beizumessen, sonst... Lova hielt inne, lauschte. Da waren Geräusche gewesen, die da nicht hingehörten. Ein erstickter Schrei, ein Keuchen und ein Knurren, da war sie sich sicher. Und das Knurren klang, im Gegensatz zu dem Schrei, kein bisschen menschlich.

Sie griff nach ihrem Bogen und dem Köcher, die sie beide an den Stamm der Weide gelehnt hatte. Den Bogen behielt sie gespannt in der Hand, den Köcher befestigte sie an ihrem Gürtel. So leise wie einem Menschen eben möglich tauchte sie unter den Blättern hindurch, damit das leise Rascheln keine ungewollte Aufmerksamkeit erregte. Würde Runna ihr folgen, hätte Lova sich sicherer gefühlt, aber sie wollte ihren Drachen nicht in Gefahr bringen. Das war ein idiotischer Gedanke, kein bisschen rational, dessen war sie sich bewusst, aber sie wollte nicht, dass sie den Wechselflügler ein weiteres Mal aus den Händen des Todes reißen musste. Also ging sie allein.

Kaum war sie bei den Käfigen der Drachen angekommen, fiel ihr schon auf, dass etwas nicht stimmte. Denn eine der gesicherten Türen stand sperrangelweit offen. Jemand hatte den Käfig geöffnet und sich dann aus dem Staub gemacht, wie die Fußspuren zeigten. Es musste ein schwerer, recht großer Mann gewesen sein, das verrieten Form und Tiefe der Abdrücke, aber da die Drachenjäger alle so aussahen, half ihr das kein bisschen weiter. Interessanter war da schon der etwa menschengroße Abdruck direkt vor dem geöffneten Käfig. Das Gras war plattgedrückt und die geknickten Halme neigten sich von dem Käfig weg, als hätte die Person verzweifelt versucht, aus der Reichweite des vermutlich entflohenen Drachen zu kriechen. Und einige in der Erde steckende Stacheln gaben ihr einen deutlichen Hinweis darauf, um welche Art es sich handeln musste...

„Tödlicher Nadder", murmelte sie und zog einen der Stacheln heraus. Sie waren nicht sonderlich spitz, wie sie feststellte, aber wenn ein Drache sie mit genug Kraft abfeuerte, könnten sie ernsthafte Verletzungen verursachen. Lova ging vor dem menschlichen Abdruck in die Hocke und strich mit den Fingerspitzen über das Gras. Etwas nasses, warmes blieb an ihrer Haut kleben, etwas, dass sie im Dunkel der Nacht nicht hatte erkennen können. Als sie prüfend daran roch, stieg ihr der Gestank nach frischem Blut in die Nase. „Bei den Göttern", flüsterte sie entsetzt.

Der entlaufene Drache hatte sein Ziel offensichtlich getroffen.

Lova nahm einen tiefen Atemzug der kühlen Nachtluft, ehe sie sich wieder erhob und dem zweiten, schmaleren Paar Fußabdrücke folgte. Dunkle Tropfen begleiten den Pfad des Flüchtenden und es war offensichtlich, dass es sich um Blutspuren handelte. Würde es hier nicht so nach Feuer, Rauch und Fisch stinken, hätte sie den charakteristischen Eisengeruch vermutlich schon deutlich eher wahrgenommen. Nachdem sie ihn jedoch einmal gerochen hatte, war es unmöglich, ihn zu ignorieren. Statt sich allerdings mit einer angeekelten Reaktion aufzuhalten, legte sie einen ihrer Eisenhut-Pfeile an den Bogen, hielt ihn aber noch gesenkt. Sie würde ihn erst endgültig spannen, wenn sie sich dem Drachen gegenüber sah, sonst war ihr das Risiko zu hoch, versehentlich in einer Kurzschlussreaktion das Opfer zu treffen.
Dieser Gedanke kam keine Sekunde zu früh.

Ein Fauchen erregte ihre Aufmerksamkeit, dicht gefolgt von einem kurz aufflammenden Feuerstrahl ein paar Baumreihen weiter. Der Flüchtende keuchte wieder, offensichtlich am Ende seiner Kräfte. Wenn Lova nicht handelte, würde er es vermutlich nicht schaffen. Die Chancen, sich verletzt und allein gegen einen Tödlichen Nadder zur Wehr zu setzen, standen gegen Null. Faktisch gesehen war es ein Wunder, dass er oder sie noch am Leben war...

Sie verschwendete keinen weiteren Gedanken daran, sondern setzte Kapuze und Mundschutz auf, um mit dem dunklen Wald zu verschwimmen. Ihre Hände und ihr Bogen waren noch sichtbar, doch deswegen machte sie sich keine Sorgen. Es war ihr nur wichtig, dass der Drache sie nicht sofort bemerkte, dann würde es für sie nämlich genauso brenzlig werden. Lova schlich sich von hinten an den Nadder heran, was überraschenderweise nicht sonderlich schwierig war, denn er war ziemlich abgelenkt von seinem Opfer. Jenes konnte sie von ihrem Standpunkt aus kaum erkennen, zielte aber dennoch mit ihrem Pfeil auf die Flanke des Drachen. Dort würde es zwar schmerzen, sollte aber für ein so zähes Lebewesen nicht tödlich enden, Eisenhut hin oder her. Also schoss sie.

Der Pfeil traf, wie erwartet, genau sein Ziel, drang durch die widerstandsfähigen Schuppen des Nadders und entfaltete seine Wirkung. Ein kleines Rinnsal Blut trat aus der Wunde aus, schien aber keine Ader oder Vene getroffen zu haben, genau wie beabsichtigt. Der Nadder sackte zur Seite, eine dünne Schweißsicht hatte sich auf seinen Schuppen ausgebreitet. Binnen weniger Minuten würde seine Körpertemperatur rapide absinken, womöglich kam es auch zu Erbrechen, aber der Drache würde einige Tage später wieder völlig auf dem Damm sein, darum musste sie sich keine Sorgen machen. In ihrer Kindheit hatte sie oft genug beobachtet, wie die Krieger ihres Stammes Blauen Eisenhut gegen die angreifenden Drachen einsetzten, sie konnte die Wirkung durchaus einschätzen. Um den Verletzten machte sie sich allerdings deutlich mehr Sorgen.

Lova eilte an dem Nadder vorbei, ohne ihm einen zweiten Blick zu schenken, und zerrte sich gleichzeitig die Kapuze vom Kopf. Noch im Gehen wurde sie sichtbar, aber das könnte jetzt kaum weniger von Bedeutung sein. Entschlossen sank die Wikingerin neben dem Mann auf die Knie, schenkte seinem Gesicht keine Beachtung und presste stattdessen die Hände auf die Wunde an seinem Bauch. Neben ihm lag der Stachel des Nadders blutverschmiert im Dreck, er hatte ihn offensichtlich herausgezogen. Viel Erfahrung mit Verletzungen dieser Art konnte er nicht haben, sonst würde er wissen, dass das den Blutfluss nur noch steigerte und auch dazu führen könnte, dass man noch schneller verblutete.

Es dauerte nicht lange und ihre Hände waren rot von seinem Blut. „Bei Thor", murmelte sie entsetzt und verkniff sich weitere, deutlich schlimmere Flüche. Sie musste sich die Wunde genauer ansehen, um sie anständig versorgen zu können, sie schien tiefer zu sein als gedacht. „Tut mir leid", entschuldigte Lova sich leise und zog das blutige Hemd des Mannes mit einem Ruck nach oben.

Eine noch immer stark blutende Wunde kam zum Vorschein, Breite und Tiefe konnte sie nur schwer einschätzen, der Stoff seiner Kleidung hatte das austretende Blut zu sehr verschmiert. Sofort presste sie wieder die Hände darauf, in der Hoffnung, dass die Blutung so zumindest etwas nachließ. So konzentriert, bemerkte sie weder das leise Husten, noch die vorsichtige Bewegung, mit welcher der Verletzte den Kopf hob, um sie anzusehen.

„Ich war noch nie so unendlich dankbar, dich zu sehen, Lova, meine Teure."

Sie erkannte die Stimme sofort, wie hätte sie auch nicht. Ihr Blick wanderte von der Wunde weg zu dem Gesicht des Mannes, welches verzerrt war von Schmerz, aber dennoch leicht zu identifizieren, selbst in der Dunkelheit. „Viggo", stellte sie fest, verdrängte aber ihre Neugier und ihre vielen Fragen. Er versuchte zu lächeln, scheiterte aber und ließ seinen Kopf wieder ins Gras sinken. „Was hast du mit dem Drachen gemacht?", fragte er und keuchte überrascht auf, als sie die Hände noch heftiger auf seine Wunde presste. „Außer Gefecht gesetzt, hoffe ich zumindest", erklärte sie knapp. „Du hättest den Stacheln nicht herausziehen sollen, das hat die Blutung verstärkt." - „Du..." Er musste husten und hielt einen Moment inne. „...belehrst mich wirklich in einer solchen Situation?"

Lova verdrehte die grauen Augen. „Wenn du wegen dieser Dummheit draufgehst, wollte ich dich auf jeden Fall noch belehren", sagte sie und griff mit einer Hand nach der seinen, um sie auf die Wunde zu pressen. „Festhalten und so viel Druck ausüben wie möglich." Er lachte, auch wenn ein leises Röcheln darin mitschwang. „Jeden anderen hätte ich für so eine Aussage bestrafen lassen, meine Liebe", sagte Viggo leise. Als sie zu ihm sah, erkannte sie die tiefen Schatten in und unter seinen beeindruckenden, braunen Augen.

„Verschieb es auf später", gab sie zurück, zog ihr Hemd von ihrem Körper weg und riss zwei lange Streifen davon ab, ohne mit der Wimper zu zucken. „Meinst du, du kannst dich umdrehen?", fragte sie ruhig, obwohl ihre Hände zitterten angesichts der Menge Blut, die über seinen entblößten Bauch rann und im Gras versiegte. Viggo folgte ihrem Blick und nickte dann. „Ich vermute es." Lova erwiderte nichts, sondern half dem verletzten Mann, sich auf die Seite zu legen. Mit einstudierten Bewegungen wickelte sie die erste Lage Stoff um seinen Körper. Bei der zweiten wandte sie mehr Kraft an und knotete den provisorischen Verband erst zu, als Viggo ein leises Ächzen von sich gab. Anders würde der Druckverband nicht wirken und die Blutung auch nicht stoppen. Er war ein erwachsener Mann, er würde das aushalten.

Prüfend betrachtete sie ihr Werk und strich sich mit blutbefleckten Händen einige wirre Strähnen aus der Stirn. Erst, als sie wirklich zufrieden war, half sie Viggo, sich aufzurichten und zum nächsten Baumstamm zu humpeln, an welchem seine Beine wieder einknickten und er sich keuchend gegen die raue Rinde sinken ließ.

„Danke", sagte er leise, ohne seine übliche, gewählte Ausdrucksweise. Verwundert über die knappe Antwort fuhr Lova zu ihm herum. Viggo war ungewöhnlich blass, was nicht verwunderlich war, seine Tunika war noch immer von vergossener Tinte, nun aber auch von Blut bedeckt, bedeckte nun aber wieder seinen Oberkörper. Vermutlich war sie heruntergerutscht, als er zu dem Baum gehumpelt war, was einen erneuten Blick auf die Wunde und den Verband unmöglich machte. Wenn die Wunde noch tiefer war als gedacht und die zwei Lagen Stoff bereits durchweicht waren von seinem Blut? Sie hatte alles angewandt, was sie in ihrer verzwickten Lage tun konnte, sie hatte kein weiteres Ass im Ärmel, falls all das nichts geholfen hatte.

„Hast du den geöffneten Käfig gesehen?", fragte Viggo dann und Lova verkniff sich ein erleichtertes Aufatmen. „Das habe ich, ja", gab sie stattdessen zurück. „Hast du einen Verdacht, wer es gewesen sein könnte?" Er schüttelte den Kopf und lachte bitter. „Nein", entgegnete er, eine ungewöhnliche Kälte in seiner Stimme. „Ich habe weitaus mehr als einen Verda-" Viggo stockte abrupt, seine Augen weiteten sich.

„Lova, RUNTER."

Sie folgte seiner Aufforderung ohne einen zweiten Gedanken und fuhr herum, noch während sie in die Hocke ging. Ein Stachel, so lang wie ihr Unterarm, schoss haarscharf an ihrer Wange vorbei und traf – dem Geräusch nach zu urteilen – einen morschen Baumstamm, denn das Holz knirschte.
Als Lova den Blick hob, starrte sie direkt in das geöffnete Maul des Nadders. Speichelfäden hingen an seinen bedrohlich gefletschten Zähnen, der Gestank nach Fisch und Erbrochenem stieg ihr in die Nase. Ihr Pfeil musste Wirkung gezeigt haben, aber wieso bei den Göttern war der Drache dann voll angriffsbereit?

Sie hatte keine Zeit, genauer darüber nachzudenken, denn ein glühend heißer Feuerstrahl zwang sie, sich mit einem hektischen, unbeholfenen Sprung außer Reichweite zu bringen. Es schmerzte wie die Hölle, als sie umknickte, doch auch dafür hatte sie keine Zeit. Wieder und wieder wich sie dem zerstörerischen Feuer des Nadders aus, obwohl sie mit dem linken Fuß kaum auftreten konnte. Ihr Bogen hing nutzlos über ihrer Schulter, die Pfeile wurden mit jedem Ausweichmanöver durch- und gegeneinander geschüttelt. Das verräterische Geräusch machte es ihr unmöglich, den toten Winkel des Drachen für eine Verschnaufpause zu nutzen. Noch nie hatte sie sich so sehr ein Schwert oder wenigstens einen Dolch gewünscht, doch seit sie Viggo ihren überlassen hatte, hatte sie stets nur mit Fernkampfwaffen hantiert. „Warte...", murmelte sie, als sie einem erneuten Schwall Stacheln auswich, der sie nur um Millimeter verfehlte. Lange würde sie so nicht mehr durchhalten...

„Viggo!", schrie Lova hektisch, als sie dann doch stolperte und ihm Dreck landete. „Wirf dein verdammtes Schwert!"

Jeden einzelnen der Drachenzähne sah sie im Mondlicht aufblitzen, als er triumphierend das Maul öffnete, um sie endlich zu erledigen. Sie konnte das Feuer im Rachen des Nadders hochsteigen sehen. Schweiß brach auf ihrem Gesicht aus, während die unerträgliche Hitze unaufhaltsam näher kam. Es war, als würde die Zeit immer langsamer laufen, um ihren Tod voll und ganz auszukosten. Sie hätte sich wegrollen können, aber selbst dann hätte sie noch wehrloser als zuvor im Dreck gelegen und den Gnadenstoß abgewartet. Für Lova war es in diesem Moment nicht mehr als eine einfache Frage der Ehre. Abwartend schloss sie die Augen.

Dann spritzte Blut auf ihr Gesicht, welches ganz sicher nicht zu ihr gehörte.

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