Kapitel 23

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Lova drängte all die Ängste zurück, die in ihr aufstiegen, als das Schiff erneut in die Schieflage geriet und der Wasserdruck sich stärker und stärker auf ihre Ohren legten. Bald hatte sie das Gefühl, ihr Kopf würde explodieren und ihre Lungen bersten, obwohl sie genügend Luft zur Verfügung hatte. Vielleicht hyperventilierte sie auch einfach vor Panik und hatte sich doch nicht so im Griff, wie sie glaubte. Was immer der Fall war, sie schwang sich auf Runnas Rücken, ehe ihre kreisenden Gedanken sie zu einem emotionalen Wrack degradieren konnten.

Ihr Drache schien ebenfalls völlig aufgewühlt zu sein, sie schüttelte orientierungslos den Kopf, um das Wasser aus ihren Augen zu vertreiben und das glühende Feuer in ihrem Rachen erlosch, glomm wieder auf und wurde schließlich von den Tränen des Meeres über ihnen wieder erstickt. Als die Kälte und Hoffnungslosigkeit der Dunkelheit vollends über den Wechselflügler hereinbrach, verlor dieser trotz der Präsenz ihrer Reiterin völlig den Kopf und erhob sich orientierungslos in die Höhe.

„Du musst dich beruhigen", schrie Lova ihrem Drachen zu, ihre Stimme übertönte nur schwer das Prasseln der Wassermassen auf dem Metall und überschlug sich beinahe vor Panik. Wenn sie gegen eine der Wände rasten, wären sie tot. Selbst wenn Runna nicht völlig ziellos herumflattern würde, hätte eine weitere Erschütterung des Schiffes gereicht, um sie gegen die nächste Wand zu schleudern und ihnen das Genick zu brechen. Allerdings schien die aufgewühlte Stimme ihrer Reiterin Runna nur noch kopfloser werden zu lassen, statt sie zum Stehenbleiben zu bewegen.
Lova hätte am Liebsten ihren Kopf gegen die Wand geschlagen, doch so, wie es schien, würde das sowieso jeden Augenblick passieren. Es war nur logisch, dass Runna sich nicht beruhigen konnte, wenn ihre Reiterin noch panischer war als der Drache selbst.

„Ich lasse nicht zu, dass wir hier sterben", sagte die Wikingerin, so gefasst es ihr möglich war. Mit den Händen strich sie sanft über Runnas Schuppen, ließ den Drachen spüren, dass sie nicht allein war. Dieses Mal legte sie keinen Wert darauf, ob ihre Worte verständlich oder auch nur hörbar waren. In ihrem Zustand hätte Runna der Bedeutung ihrer Worte doch ohnehin keine Beachtung geschenkt. Der Wechselflügler musste spüren, dass alles in Ordnung war, nur so würde sie wieder zur Ruhe kommen und diese halsbrecherischen Manöver unterlassen.
„Kleine, wenn wir lebendig hier raus kommen wollen...", Lova gab ihr Bestes, beruhigend zu klingen, doch ihre Stimme zitterte. Götter, an ihr war wirklich keine Drachenbändigerin verloren gegangen.

„Es ist alles gut", versuchte sie es weiter und fuhr im Rhythmus ihrer Worte über Runnas Hals, ihren Rücken, ihre hektisch schlagenden Flügel. „Ich bin hier, ich lass dich nicht allein."

Sie wurden langsamer, das panische Keuchen des Drachen klang ab und wurde durch Lovas leises Summen ersetzt. Sie wusste nicht einmal, welche Melodie sie da nachahmte, doch es bremste Runnas Flug, bis sie schließlich inmitten von Wassermassen, kalter, feuchter Luft und Metallwänden, die ihnen beinahe das Leben gekostet hätten, zum Stehen kamen.

„So ist es gut", sagte Lova mit ruhiger Stimme, obwohl sie innerlich vor Stolz und Erleichterung platzte. Schweiß stand ihr auf der Stirn, wurde aber sofort vom Meerwasserregen fortgetragen. Dennoch, ihr nahezu tödlicher Ritt hatte Spuren hinterlassen; ihre Hände schmerzten von dem festen Griff um Runnas Hals, ihr Nacken war völlig verkrampft und ohne all das Adrenalin in ihren Körper wäre sie von den Schmerzen der Wunde in ihrem Rücken sicher ohnmächtig geworden.

Gäbe es einen Preis für die mieseste Verfassung in der ungünstigsten Situation, so hätte Lova ihn sicher gewonnen. Doch das Leben war keine Partie Keule und Klaue, es war kein Spiel und es gab ziemlich sicher keine Belohnung für puren Leichtsinn. Einzig und allein ihr Kampfgeist und ihre Sorge um Viggo trieben sie an, ihren Körper zu unmenschlichen Höchstleistungen anzuspornen, die offene Wunde zu ignorieren, aus welcher noch immer leuchtend rot ihr Blut floss, und ihren Drachen achtsam, aber eilig zwischen den Wasserfällen, die mittlerweile durch die verbeulten Türen drangen, hindurchzulenken.

Jede Sekunde, die sie in dem sich langsam flutenden Kammern verbrachten, waren ein weiterer Schritt in Richtung des hoffnungslosen Ertrinkens. Gleichzeitig klangen die Erschütterungen des Schiffes kein bisschen ab, was das Navigieren im Stockdunkeln noch schwerer machte, als es ohnehin schon war. Jeder Versuch Runnas, die Halle mit ihrem Feuer zu erhellen, wurde sofort von stetig fließendem Meerwasser zunichte gemacht, bis der Wechselflügler schließlich ein beleidigtes Schnauben und einen Rauchkringel ausstieß. Lova dagegen kniff die Augen zusammen und streckte die Arme nach oben, um die sich nähernde Decke zu spüren, ehe sie und der Drache eine unliebsame Bekanntschaft mit dem Metall machen konnten.
„Langsam höher fliegen, Kleine", flüsterte sie ihrem Wechselflügler beruhigend zu. „Es ist sicher nicht mehr weit."

Keine zwei Sekunden später streiften ihre Fingerspitzen eine unebene, raue und feuchte Fläche, bei welcher es sich nur um die metallene Decke handeln konnte. Lova stieß einen ungebändigten Triumphschrei aus, welcher hundertfach verstärkt in der Kammer widerhallte und ihre Ohren zum Klingeln brachte. Dennoch stieg Runna mit ein und grollte zufrieden, während ihre Reiterin die Decke nach einem der Hebel zum Öffnen der Falltüren abtastete. „Einen Moment", murmelte Lova konzentriert, die Augen geschlossen wegen des Salzwassers, welches über ihr Gesicht rann und die freie Hand als zusätzlichen Schutz über ihrem Kopf erhoben. Einzig ihre angespannte Beinmuskulatur hielt sie auf dem Rücken ihres Drachens, doch sie verließ sich darauf, dass Runna ruhig halten würde. Wenn sie ihrem Drachen nicht vertrauen würde, wäre das ohnehin ihr Todesurteil, das hatte sie ja vorhin am eigenen Leibe erfahren dürfen. „Wir sind bald draußen", sagte die Wikingerin sanft, erhob ihre Stimme gegen das Tosen der Wassermassen. Runna gurrte zustimmend, sie spürte die Vibration an ihrem Körper. Die wortlose Zustimmung gab ihr mehr Sicherheit, als sie es sich hätte ausmalen können und in ihr stieg jähe Dankbarkeit hoch. Wäre Lova allein hier, hätte sie wohl schon längst den Kopf verloren.

Eine Unebenheit im Metall ließ die Wikingerin innehalten. Ihre Hand glitt zurück zu der betreffenden Stelle, ihre Finger schlangen sich um den Griff. Der Hebel war kalt und nass unter ihrer Haut, vermutlich rieb sie sich zusätzlich zu den blutigen Lippen nun auch noch die Handflächen auf. Dennoch verstärkte sie ihren Griff, um an dem feuchten Metall nicht den Halt zu verlieren. Sie wusste nicht, ob sie die Zeit hatte, ein weiteres Mal nach ihm zu suchen, sollte sie ihn verlieren. Das Wasser hatte mittlerweile ihre Beine erreicht, obwohl Lova auf dem Rücken ihres Drachens deutlich über dem Boden schwebte, und das war ihr Warnzeichen genug.
Mit einem heftigen Ruck zog sie an dem Griff, zerrte ihn nach rechts und nach links, bis sie endlich die richtige Position fand und der Hebel mit einem zufriedenstellenden Klicken einrastete. Sofort drängten sich Wassermassen gegen die Falltür, die nun keinen unüberwindbaren Widerstand mehr bot und nur von Lovas bereits zitternden Armen gehalten wurde. Der Angstschweiß, der ihr über die Stirn lief, wurde sofort von dem Meerwasser weg gewaschen, welches sich immer schneller, immer mehr seinen Weg ins Innere der Halle bahnte.

„Wir werden schwimmen müssen", stieß Lova zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und ächzte wegen des Gewichts des Wassers, welches sich gegen ihren erschöpften Körper stellte. „Sobald ich die Tür öffne, musst du so schnell wie möglich nach oben, ja? Schau nicht zurück, lass dich nicht ablenken. Einfach nur nach oben." Mittlerweile musste sie mehr als schreien, um gegen das Tosen, Prasseln und Dröhnen anzukommen. Dazu hatte sich das gierige Schwappen und Saugen der Wellen gegen das kalte Metall gesellt, welche sich sicher mit demselben Eifer ihren toten Körpers annehmen würden, sollten sie nicht rechtzeitig entkommen können.
Doch Runna knurrte, zustimmend und grimmig zugleich. Obwohl sie nur ein Drache war, schien sie zu wissen, was von ihr abhing – entweder sie würden sterben oder ihren Weg in die Freiheit finden.

Deswegen zögerte der Wechselflügler keinen Augenblick, als Lova sich gegen den Druck des Meerwassers aufbäumte, die Falltür aufstemmte und das Schiff im selben Moment erneut ins Wanken geriet. Pfeilschnell schoss sie heraus, in den unbarmherzigen Ozean und jagte davon, zum verführerischen Leuchten der Wasseroberfläche, ohne einen einzigen Blick zurück.


Lova hatte das Gefühl, ihre Lungen würden bersten.
Unbarmherzige Klauen hatten sich um ihren Brustkorb gelegt, schienen den letzten Rest Sauerstoffs aus ihrem Körper pressen zu wollen, ganz gleich, ob sie dann den nächsten Morgen nicht erleben würde. Dennoch hielt sie sich weiterhin stur an Runna fest, die Arme um den schlanken Hals des Wechselflüglers geschlungen und der Versuchung widerstehend, über die Schulter zu dem Granatenfeuer zu sehen. Doch jede Sekunde, die sie ohne Luft unter Wasser verbrachten, könnte eine zu viel sein. Sie konnte und durfte nicht das kleinste Risiko eingehen, wenn sie nicht mit ihrem Leben dafür bezahlen wollte.
Stattdessen hielt sie den Blick fest auf die Sonnenstrahlen gerichtet, die das Meer erleuchteten und ihnen den Weg wiesen. Mit jedem von Runnas Flügelschlägen, mit jedem Peitschen ihres Schweifs kamen sie dem klaren blauen Himmel ein wenig näher. Lova konnte die Sonne fast auf ihrer Haut spüren, das Prickeln der kühlen Luft auf ihrer Haut fühlen. Sie schloss die Augen, um sie nicht dem brennenden Salzwasser auszusetzen, und beugte ihren Oberkörper nach vorn, um sich Runnas stromlinienförmigen Körperbau anzupassen und den Wasserwiderstand zu verringern, während sie die Sekunden zählte, bis sie endlich wieder frische Luft atmen und die Düfte der Natur riechen konnte.

Die Beiden brachen in einem Regen aus funkelnden Wassertropfen aus dem Meer, durchnässt bis auf die Knochen und nach Luft ringend. Die Wunde an Lovas Rücken schmerzte und brannte wegen des Salzwassers, doch die Euphorie über ihre erfolgreiche Flucht vertrieb die schwarzen Flecken, die vor ihrem inneren Auge tanzten. Mittlerweile war es wohl nur noch Adrenalin, welches ihren Körper dazu zwang, bei Bewusstsein zu bleiben. Was eigentlich ein abschreckender Gedanke hätte sein sollen, war in Lovas Zustand nur eine Erleichterung. Wenn sie Glück hatte, würde die Angst solange bleiben, bis sie Viggo gefunden hatte und ihn in Sicherheit wusste. Dann könnte sie sich auch erlauben, die Kontrolle über ihre zitternden Glieder und ihren bebenden Körper zu verlieren. Doch bis dahin würde sie sich zwingen müssen, nicht in die beruhigenden, schwarzen Tiefes der Ohnmacht abzutauchen.

„Erinnerst du dich an Viggo Grimborn?", flüsterte sie ihrem Drachen zu, die Stimme kaum mehr als ein Hauchen, wirbelnd und davongetragen vom Wind. Selbst diese wenigen Worte schmerzten in ihrem Hals, obwohl sie sich nicht erinnern konnte, sich dort verletzt zu haben. Waren es die Male von Rykers Würgegriff, die nun ihren Tribut forderten? Oder doch nur die Schmerzen ihrer aufgeplatzten Lippen, die blutige Bissspuren trugen und Phantomschmerzen verursachten? Ihr war so übel und schwindelig, dass sie Runnas besorgten Blick nicht bemerkte, als der Wechselflügler ein zustimmendes Grummel erklingen ließ. Ebenso wenig bemerkte sie, dass der Drache schon längst Witterung und Route aufgenommen hatte. Stattdessen sank Lova nun doch in die wartenden Arme der Bewusstlosigkeit, während die Winde sie in jene Richtung wehten, die ihr Herz und ihr Verstand gleichermaßen begehrten.

~

Inmitten von unbarmherzigen Sturmböen, die an ihre ohnehin schon zerstörten Kleidung rissen und ihr eine Gänsehaut bescherten, kam Lova wieder zu Bewusstsein. Der Schwindel war abgeklungen, doch auf einem ihrer Ohren hatte sich ein unangenehmes Piepen breit gemacht und zerrte an ihren Nerven. Auch ihre Sicht war noch ziemlich verschwommen, doch sie konnte die Umrisse eines Waldes ausmachen, in welchem Berge mit schneebedeckten Spitzen ihre Gipfel dem Himmel entgegenstreckten. Einzig ein orange-rotes Leuchten zerstörte die Idylle der malerischen Landschaft und brachte Lova dazu, sich gegen ihre schemenhafte Wahrnehmung die Augen zu reiben, in der naiven Hoffnung, dass ihre Sicht sich dann bessern würde.

Das tat sie tatsächlich, denn nun konnte Lova erkennen, dass es sich bei dem Glühen um Lava und bei dem dazugehörigen Berg um einen Vulkan handelte. Verwirrt kniff sie die Augen zusammen und beugte sich auf Runnas Rücken nach vorn, um vielleicht etwas zu erkennen, was sich ihr bisher verborgen hatte. „Warum hast du mich hierher geführt, Kleine?", fragte die Wikingerin und war überrascht, wie rau und erschöpft ihre Stimme klang. Auch die Schmerzen in ihrem Rücken waren kaum abgeklungen, viel mehr hatten sie sich verschlimmert, doch mit jeder Sekunde stieg in ihr mehr und mehr eine aufgeregte Rastlosigkeit hoch, die ihre Qualen fürs Erste in den Hintergrund rückte. Sie hatte das Gefühl, kurz vor ihrem Ziel zum Stehen gekommen zu sein, als wäre Viggo beinahe zum Greifen nah, doch gleichzeitig zu weit weg, um ihn wirklich zu erreichen.

Runna stieß ein drängendes Schnauben aus und machte den Hals lang, die Spitze ihrer scharlachroten Schnauze deutete genau auf die brodelnde Lava im Inneren des Vulkans und Lovas Augen weiteten sich, als sie verstand. „Er ist hier, nicht?", fragte sie und ignorierte das verräterisch kribbelnde Gefühl der Aufregung, die in ihr hochstieg, als sie endlich begriff. Sie konnte kaum glauben, wie lang ihr Verstand gebraucht hatte, um vollständig in sich aufzunehmen, was hier vor sich ging und was ihr Drache während ihrer Bewusstlosigkeit geleistet hatte. Runna hatte ein weiteres Mal das nahezu unmögliche vollbracht und ihre Reiterin quer über den Ozean zu Viggo geführt, so unglaublich das auch erscheinen mochte. Keine einzige der zahllosen Geschichten über der Wechselflügler hatte die Unwahrheit gesagt, doch hätte Lova es nicht selbst erlebt, hätte sie es wohl kaum glauben können.

„Kannst du mich näher heranbringen?", fragte Lova ihren Drachen, stumm betend, dass sie ihr nicht zu viel abverlangte. Sie wusste, dass dieser Tag ein abscheulicher gewesen war, voller unerwarteter Wendungen und Strapazen, doch sie konnte nicht kurz vor ihrem Ziel zurückschrecken und somit möglicherweise Viggo dem Tod und das Inselreich Ryker, oder noch schlimmer, diesem skrupellosen Mann namens Krogan ausliefern. Sie wusste nicht wirklich, wen der beiden sie mehr fürchtete, doch eines war sicher; beide Männer wären schon ohne Einfluss höchst gefährlich, mit der entsprechenden Macht waren sie tödlich. Sie wusste nicht einmal, ob die Drachenreiter sich der Gefahr bewusst waren, die auf sie zukommen würde, wenn Viggo tatsächlich verstarb, denn dann würde jeder kleine Patzer, jeder gefangene Drache und jeder gefangene Reiter deren sofortigen Tod bedeuten, ohne Strategie, ohne Kompromiss.

Mit diesem Gedanken im Hinterkopf trieb die Wikingerin Runna weiter an, näher zu der wohltuenden Hitze des Vulkans und fort von den eisigen Winden, die sie aus ihrer Ohnmacht gezerrt hatten. Inwiefern das für ihren Verstand förderlich war, wusste sie nicht, doch wenn sie Glück hatte, würde sie sich ohnehin nicht lang auf dieser Insel aufhalten müssen.

In dem kleinen Waldstück, kurz vor der kleinen Klippe, die schließlich zu dem tiefen Abgrund des Vulkans wurde, landete Runna vorsichtig und gut versteckt zwischen zwei mannshohen Büschen, als ob sie es vermeiden wollte, gesehen zu werden. Lova schwang sich von dem Rücken ihres Drachen und senkte automatisch den Kopf, genau wie der Wechselflügler neben ihr es vormachte. Auch wenn sich ihr bisher noch nicht erschloss, weswegen Runna sich so bedacht verhielt, würde sie die Instinkte und natürlich auch die deutlich besseren Sinne ihrer Gefährtin unter keinen Umständen anzweifeln.
„Wo...?", flüsterte Lova fragend und so leise, wie es ihr möglich war. Statt einer Antwort in Form eines Schnaubens oder Knurrens schob Runna ihre Reiterin bestimmt bis an den äußersten Rand des geschützten Wäldchens, sodass sie gerade noch in den Schatten der Bäume verborgen war. Erst in diesem Moment erschloss sich ihr voll und ganz, wo sie war und was sie hier machte. Oder eher, noch viel bedeutender; wer sich hier ebenfalls aufhielt.


Hicks Silhouette war unverkennbar, allein wegen des wirr abstehenden Haares und dem großen, aber schlanken Körperbaus, doch selbst wenn Lova ihn daran nicht erkannt hätte, wäre spätestens der Nachtschatten an seiner Seite der ausschlaggebende Faktor gewesen. Auch die hübsche blonde Kriegerin stand bei ihm am Rand des Vulkans, begleitet von ihrem hellblauen Nadderweibchen. Alle Vier sahen nicht gerade danach aus, als hätten sie sich zu einem freundlichen Gespräch bei Met und Gebäck versammelt, sondern eher, als stünden sie einem sehr wütenden und angriffslustigem Flüsternden Tod gegenüber.
Verwirrt beugte Lova sich nach vorn, um die Szenerie, die sich vor ihr abspielte, voll und ganz zu erfassen, doch genau in diesem Moment drang ein panischer Hilfeschrei an ihre Ohren.

„Hicks, hilf mir!"

Lova kannte diese Stimme.
Die Betonung jeder einzelnen Silbe war ihr bekannt, sie hatte sie schon hundert Mal vernommen, doch in genau diesem Moment ließ ihr sonst so messerscharfer Verstand sie im Stich. Sie war sich sicher, wäre der Schrei des Mannes nicht so verzerrt vor Verzweiflung, nicht so ungezügelt vor Angst und so laut wegen des Schrecks, den er erlitten haben musste, dann hätte sie ihn erkannt. Wäre seine Stimme so gewesen, wie sie es sonst immer war, dann wäre sie überglücklich gewesen vor Erleichterung, dann wäre die nagende Sorge von ihr abgefallen, doch die Schmerzen in ihrem Rücken machten ihr jeden logischen Gedanken zunichte.

Die Realisation brach erst über sie herein, als sie sah, wie Hicks und seine Begleiterin sich über den Rand des Vulkans beugten, mit gesenkten Schultern zwar, doch ohne Anstalten zu machen, dem Mann zu helfen, der in die tödliche Lava gefallen sein musste. „So hätte es nicht enden müssen", sagte der Brünette leise und schüttelte bedauernd den Kopf. Die junge, blonde Frau an seiner Seite legte ihm die Hand auf die Schulter, redete auf ihn ein, doch Lova nahm ihre Worte schon nicht mehr war.

Denn es gab nur eine Person, bei dessen Tod sich diese Erleichterung in die Haltung der Drachenreiter schleichen würde, dessen Stimme sie unter normalen Umständen überall erkannt hätte und zu welcher Runna die Wikingerin überhaupt erst geführt hätte.

Viggo.

ClematisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt