Kapitel 19

100 6 0
                                    

Die kalten Wände von Rykers Kriegsschiff waren schlimmer als jede Zelle, in der Lova bisher hatte verharren müssen. Sie konnte die Wellen des Meeres nicht hören, obwohl sie am Schwanken des Schiffes erkannte, dass sie sich auf hoher See befanden. Das drachensichere Metall hielt nicht nur Feuer ab, sondern auch jedes noch so laute Geräusch von draußen. Die einzigen Laute, die im Inneren des Kerkers zu hören waren, waren ihr eigener Atem, die schweren Schritte der Wachen auf den Holzdielen, ein vereinzeltes Rasseln der Gitterstäbe und das konstante Tropfen ihres Blutes, welches an ihrem Hals entlanglief und schließlich eine rote Pfütze auf dem Boden bildete.

Seit man sie hier eingesperrt hatte, hatte Lova sich zudem keinen Millimeter mehr bewegt, sie saß auf einem umgedrehten Eimer in der Mitte der Zelle und hatte die Hände in ihren dunklen Locken vergraben. Mühsam drängte sie die heißen Tränen der Wut zurück, die sich immer wieder ihren Weg in ihre Augen bahnten, ihre Beine wippten unkontrolliert auf und ab. Selbst wenn sie es versuchen würde, bezweifelte Lova, dass sie in der Lage wäre, aufzustehen oder auch nur einen einzigen rationalen Gedanken zu fassen. Jeder Teil von ihr, der nicht von dieser wütenden Apathie befallen war, schien aus purer Sorge und düsteren Szenarien zu bestehen.

Noch immer wusste sie nicht, was mit Runna geschehen war, auch Viggos Schicksal stand in den Sternen. Auch wenn er ihr den Krokus geschickt hatte, hieß das noch lange nicht, dass alles in Ordnung war. In welcher Verfassung befand er sich? Waren noch immer Jäger auf der Insel, die ihn suchten? Und was war, wenn die Wirkung des Drachenwurzes in Runnas Blut schon längst nicht mehr aufzuhalten war? Lova wusste natürlich, dass die Pflanze eigentlich nur eine stark betäubende Wirkung hatte, doch sie war sich nicht sicher, ob das auch nach etwa fünf Pfeilen noch zutraf, die alle versetzt waren mit der hochkonzentrierten Lösung.

Sie stieß einen erstickten Verzweiflungsschrei aus und raufte sich die Haare. All diese Gedanken, die Bilder, die sie in ihr weckten, trieben sie noch in den Wahnsinn. Es gab für sie allerdings auch keinen wirklichen Weg, Gewissheit zu bekommen. Sie könnte natürlich versuchen, eine der Wachen zu befragen, doch ob dieser ihr die Wahrheit sagte, war ungewiss. Ungewiss war auch, ob für Lova überhaupt ein Überleben vorgesehen war. Soweit sie wusste, könnten sie und ihr außer Gefecht gesetzter Drache auch eine Zwischenmahlzeit für das Granatenfeuer sein.

Dieser Titanflügler erreichte eine so immense Größe, dass Lova sich den dazugehörigen Hunger nicht vorstellen wollte. Von dem riesigen Hornpanzer, den er als Schutz auf dem Rücken trug, wollte sie gar nicht anfangen. Sein Körper war riesig und von weinroten Schuppen bedeckt, seine eisblauen Augen kälter und tödlicher als jeder Gletscher. All dieses Wissen, welches ihr schon ein kurzer Blick auf den gigantischen Drachen eingebracht hatte, als man sie in das Schiff geführt hatte, war mehr als ausreichend, um ihr eine Heidenangst vor diesem Vieh einzujagen. Seinem Maul, in welches sicher Rykers ganze Flotte auf einmal passen würde, wollte sie unter keinen Umständen zu nahekommen. Jeder seiner dutzenden Zähne war sicher mannshoch und allein ein Stich durch einen von ihnen würde ausreichen, um Lova eine tödliche Wunde zuzufügen und sie schließlich qualvoll verbluten zu lassen.

Allein die Erinnerung an dieses Monster könnte wohl Albträume verursachen, dachte sie und erschauderte. Eines war sicher, von diesem Biest gefressen zu werden stand verdammt weit hinten auf ihrer Agenda. Da hätte Ryker ihr auch auf klassische Weise die Kehle durchschneiden können. Da er das aber offensichtlich nicht getan hatte, würde sie eine weitere Chance erhalten und nicht allzu schnell im Magen eines Drachen enden. Beschwingt von diesem zugegebenermaßen eher makabren als aufmunterndem Gedanken erhob sie sich von ihrer ungemütlichen Sitzgelegenheit und ging ein paar Schritte, um ihre steife Muskulatur wieder zu lockern. Wenn sie ehrlich mit sich selbst war, dann war die Messlatte für Dinge, die ihre Laune heben konnten, gerade beunruhigend niedrig. Allein die Tatsache, dass sie nicht von einem monströsen Titanflügler gefressen werden würde, ließ sie wieder etwas positiver denken. An und für sich natürlich keine schlechte Sache, doch wenn man bedachte, dass sie sich noch immer in Rykers Gewahrsam befand und ihr Leben mit einem Wort seinerseits doch enden könnte, brachte sie das keinen Schritt weiter.

Auch eine Flucht kam kaum in Frage. Selbst wenn sie es irgendwie aus dieser Zelle schaffen würde, war sie noch immer auf einem Schiff. Mitten im Ozean. Mit sehr deutlicher Betonung auf „im", denn bei diesem Kriegsgefährt handelte es sich nicht um ein übliches, auf dem Wasser herumdümpelndes Schiff, sondern um... Lova fehlte der ausgeprägte Wortschatz, um genau zu beschreiben, was Viggo gemeinsam mit seinem Bruder auf die Beine gestellt hatte. Einfach ausgedrückt könnte man es wohl ein Unterwasserboot nennen, denn das metallene Schiff war dank des Granatenfeuers in der Lage, abzutauchen und so gut geschützt vor neugierigen Augen unglaubliche Strecken zurückzulegen. Diese Tatsache war zwar perfekt für den Plan der Drachenjäger, aber jede Fluchtmöglichkeit für Lova wurde so perfekt vereitelt. Wenn der ungeheure Druck sie nicht umbringen würde, dann würde spätestens der Sauerstoffmangel das erledigen.

Ihre einzige Chance war es, abzuwarten und zu beten, dass irgendeine unwahrscheinliche Wendung des Schicksals sie retten würde...

~

„Vernell?"

Eine fragende Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Die letzte Stunde war sie lediglich unruhig hin und her gelaufen und hatte versucht, doch noch einen wahnsinnigen Plan auszutüfteln, der sie und ihren Drachen retten würde. Es war unnötig zu erwähnen, dass jeder Erfolg ausgeblieben war.
Umso erleichterter war sie über die seltsam bekannte Stimme, die sie mit einem freundlichen, aber auch vorsichtigem Tonfall ansprach. Sie hatte nichts mit der Rykers gemein, doch sie hätte schwören können, sie bereits irgendwo einmal gehört zu haben. Neugierig trat Lova näher an das Gitter heran und hob den Kopf, um ihrem deutlich größeren Gesprächspartner in die Augen zu sehen.

„Finn", begrüßte sie den Mann überrascht. „Ich hatte nicht erwartet, dich hier zu sehen."
Er lachte leise und schüttelte leicht den Kopf. „Ich genauso wenig, Miss Vernell", gab er zu. „Ich war nie der Typ für eine Revolte." Sie legte den Kopf schief und die Stirn in Falten. „Was machst du dann hier? Rykers Pläne passen nicht wirklich zu dem Bild, welches ich von dir habe", sagte Lova. Ohne es wirklich zu wollen, ballte sie die Hände zu Fäusten. Es war gut möglich, dass sie Finn trotz seiner netten Fassade nicht trauen konnte.

Er schien ihre Skepsis zu bemerken, denn er trat einen Schritt von den Gittern zurück und hob die Hände hoch genug, um sie sehen zu lassen, dass er keine Waffe hielt. „Ryker drohte allen Verweigern mit Gehaltskürzungen", erklärte Finn und rieb sich verlegen den Nacken. „Ich weiß, das klingt jetzt, als würde ich nur nach dem großen Geld jagen, aber meine Familie..." Lova fiel ihm mit sanfter Stimme ins Wort. „Ich weiß, sie brauchen jede Münze", beendete sie seinen Satz voller Verständnis. „Es sind harte Zeiten für uns alle", sagte Finn leise und sie nickte bestätigend zu seinen Worten.

„Und warum bist du hier?", fragte Lova dann. „Hat Ryker dich geschickt?" Ein wenig Hoffnung keimte in ihr auf und sie schloss die Hände um die kalten Gitterstäbe. „Weißt du, wie es dem Wechselflügler geht, der vor etwa zwei Stunden an Bord gebracht wurde? Sie muss unter dem Einfluss von Drachenwurz gestanden haben, aber Ryker hat den Befehl gegeben, sie zu behandeln und..." Finn schüttelte nur den Kopf. „Ich habe keinerlei Kenntnis über Ihren Drachen, Vernell", sagte er entschuldigend. „Also Rykers Befehl?", hakte Lova nach und senkte den Blick, den sie zuletzt hoffnungsvoll an ihn gerichtet hatte.

Diesmal nickte Finn. „So leid es mir tut, genau darum handelt es sich", bestätigte er das, was sie insgeheim von Anfang an geahnt hatte. Obwohl ihr kurzfristiger Optimismus völlig umsonst gewesen war, zuckte sie nur die Schultern. „Und was will er?", fragte sie, mit unverhohlener Abneigung in der Stimme. Sie konnte soviel Gleichmut vortäuschen, wie sie wollte, ihren Hass gegen den Anführer der Jäger konnte sie kaum verbergen. „Wir werden bald unser Ziel erreichen", erklärte Finn und bei dem mitleidigen Blick, den er ihr jetzt zuwarf, stieg Misstrauen in ihr hoch. „Was hat das mit mir zu tun?", fragte sie und ihre Hände ließen von den Gittern ab, um zu Fäusten geballt ihre Position vor ihrer Brust einzunehmen. Etwas an dieser Situation behagte ihr ganz und gar nicht, auch wenn sie den Drachenjäger immer sehr geschätzt hatte, ihre Skepsis stieg rapide.

„Die Männer wollen Unterhaltung", sagte Finn und Lovas Gesichtszüge entgleisten.

„Bitte?", fragte sie fassungslos und hätte Ryker am liebsten den massigen Hals umgedreht. Hielt er sie für eine hübsche Puppe, die er nach seinem Belieben hin und her schubsen konnte?

„Es tut mir wirklich von Herzen leid, Vernell", erklärte der Jäger und das Mitleid in seinem Blick machte sie krank. Sie verpasste dem Gitter, welches sie trennte, einen heftigen Faustschlag und stieß einen halblauten, frustrierten Schrei aus. „Wie lautet Rykers Befehl?", hakte Lova nach und sah ernst zu dem Mann hoch. „Lass mich nicht im Unwissen, Finn." Er hob die Hände zu einer beschwichtigenden Geste. „Ich verstehe, dass du aufgebracht bist, aber..." - „Wie lautet sein verdammter Befehl?", wiederholte Lova, lauter diesmal und untermalte die Dringlichkeit mit einem weiteren Schlag gegen die Gitter, so heftig, dass ein Klirren durch den Kerker hallte. Finn zuckte zurück.

„Ich soll dich in die Arena bringen", erklärte er ihr dann endlich und Lova fuhr sich angespannt durch die dunkeln Locken. Eigentlich war es mehr ein Haare raufen, denn an ihren Händen blieben einige Haarsträhnen hängen, die sie mit einer beiläufigen Bewegung auf den Zellenboden fallen ließ. Das unangenehme Zippen dabei ignorierte sie, denn ihre Kopfhaut brannte noch immer so heftig von Rykers brutalem Verhör, dass sie es kaum spürte.

„Und was wird dort mit mir geschehen?", fragte sie und ließ nicht zu, dass sich auch nur der leiseste Hauch von Angst in ihre Stimme schlich. Finn trat einen Schritt näher zu ihr und warf einen prüfenden Blick über die Schulter. Lova runzelte die Stirn. Kontrollierte er gerade, dass kein noch so aufmerksamer Wache sie belauschen konnte?

„Besonders die jüngeren Jäger sind gelangweilt, uns steht eine längere Zeit auf hoher See bevor", erklärte Finn und senkte seine Stimme erst nach einem weiteren Blick über seine Schulter. „Ryker verlangt Training, doch nicht nur Theorie und Übungen wie bei seinem Bruder. Da sich aber kein Freiwilliger findet, der sich gern der Brutalität von zwei Dutzend jungen Männern ausliefert..."

Lova lief allein bei dem Gedanken daran ein eiskalter Schauder über den Rücken. Auch wenn „Training" nicht so schlimm wie die Horrorszenarien klang, die sie sich ausgemalt hatte, sie konnte nicht leugnen, dass lähmende Angst in ihren Körper kroch, als sie Finns Worte vernahm. Bei allen Göttern, sie wollte keinem einzigen der Jäger ausgeliefert sein, besonders nicht, seit Viggo nicht mehr da war, um sie zu schützen. Erst jetzt wurde ihr wirklich bewusst, was ein Leben bei den Jägern ohne ihn für sie tatsächlich bedeutet hätte. Davon abgesehen, dass Ryker sie in einem theoretischen Szenario sofort an die Haie verfüttert hatte, gab es für eine Frau weitaus mehr Risiken unter all diesen Männern, die nur dem Wort ihres Anführers unterstanden.

Sie nahm einige tiefe Atemzüge der abgestandenen Luft, ehe sie sich ein halbherziges Nicken abringen konnte. „Weißt du, was genau mit diesem Training gemeint ist?", fragte Lova und verdrängte die Panik, die in ihr hochstieg. Es brachte nichts, sich ihren Ängsten auszuliefern. Da könnte sie sich den Jägern auch gleich auf dem Silbertablett ausliefern, wenn sie sich nicht zusammenriss.

„Nicht viel", gab Finn zu. Er schien ihre steigende Angst zu bemerken, denn sein Blick wurde noch ein wenig weicher. „Du wirst eine Waffe mitnehmen dürfen und je gegen ein Zweierteam-Jäger antreten." Lova verkniff sich nur mühsam ein abschätziges Schnauben. Es war ja nicht so, dass eine einzelne Waffe, so gefährlich sie auch sein würde, gegen die geballte Muskelkraft und das Können zweier Drachenjäger ankommen könnte.

„Sieht Ryker in seinem amüsanten Nachmittagsprogramm auch vor, dass ich es lebend aus der Arena schaffe?", fragte sie und ihre Stimme triefte förmlich vor Sarkasmus.

„Wenn alles gut läuft, wird es gar nicht soweit kommen, Miss Vernell", sagte Finn mit noch weiter gesenkter Stimme und neigte den Kopf zu ihr herunter. Erst jetzt, als die kleine, lilafarbene Blume ihr beinahe ins Auge stach, bemerkte sie den mittlerweile verwelkenden Krokus an seinem Hemd. Die Ähnlichkeit zu dem, den der tote Jäger ihr gebracht hatte, war nicht zu übersehen. Trotz der matten Farben der Blume an Finns Kleidung hätte sie aus dem Wappen ihres Stammes stammen können. Auch wenn Krokusse keine großen Variationen aufwiesen, war das mehr als nur auffällig.

Lova legte den Kopf schief, weil ihr Gehirn einerseits auf Hochtouren arbeitete und andererseits, weil sie nicht sonderlich scharf darauf war, wegen einer vorwitzigen Blume ihr Auge zu verlieren, egal wie auffallend, schön oder erinnerungsvoll sie auch sein mochte. „Sprich weiter", forderte sie und lehnte sich näher zu ihm, um ja kein Wort zu verpassen. Finn sah ein weiteres Mal prüfend über die Schulter und fuhr erst fort, als er sich versichert hatte, dass sie die einzigen lebenden Wesen in diesem Kerker waren. „Um den geplanten Angriff durchzuführen, wird Ryker nicht all einmal annähernd all seine Männer brauchen. Das ist die gute Nachricht", begann er schließlich und Lova runzelte die Stirn. „Und die schlechte Nachricht?", fragte sie befremdet. Was könnte schlimmer sein als ein Kampf in einer Arena, der bei ihrem Glück mindestens mit einigen weiteren Wunden enden würde?

„Wir werden nicht einmal in die Nähe von festem Boden kommen", antwortete Finn. „Das Granatenfeuer hat eine derartig hohe Schussweite, dass man uns vermutlich nicht einmal bemerken wird." Lovas graue Augen weiteten sich voller Unglauben. „Sprechen wir gerade über eine Flucht?", hakte sie nach und richtete sich unwillkürlich ein wenig auf. „Meine Befehle dahingehend sind deutlich, Miss Vernell", gab er zurück. „Allerdings haben wir keine Zeit dafür, also hör mir zu, ja?" Ihr Blick wanderte zu dem Krokus an seinem Hemd, während sie fahrig nickte. Die Frage, ob auch er von Viggo beauftragt wurde, lag ihr förmlich auf der Zunge, doch sie drängte sie zurück. Nach dem, was mit dem letzten „Verräter", wie Ryker ihn nannte, geschehen war, würde sie sich kein weiteres Spiel mit der Zeit erlauben.

„Der Granatenfeuer erhält seine Befehle über Erschütterungen, die durch einen Hammerschlag auf dem Metall der Schiffswände ausgelöst werden", begann Finn seine Erklärung und Lova saugte jedes seiner Worte auf. Jede noch so kleine Information über ihr schwimmendes Gefängnis könnten nützlich werden, wenn sie wirklich von hier fliehen wollte. „Die so erzeugten Vibrationen sind so heftig, dass man sie im gesamten Schiff spürt. Das ist dein einziger Weg zur Flucht, Vernell."

Sie sah skeptisch zu ihm hoch. „Finn, ich würdige deinen Einsatz, aber... wie soll ich aus der Arena entkommen?" - „Der Drache muss zumindest mit dem Maul das Wasser verlassen, um seine tödlichen Geschosse abzugeben. Das dabei entstehende Ungleichgewicht..."

Lovas Augen leuchteten auf, als sie verstand. „... löst vermutlich Chaos aus, sodass die Aufmerksamkeit für einen einzigen Moment nicht auf mir liegen wird", fiel sie ihm aufgeregt ins Wort. „Richtig", sagte Finn und lächelte verhalten aufgrund ihrer Freude. „Allerdings ist das noch der einfache Teil."

Sie verzog das Gesicht und stieß ein kleines Schnauben aus. „Einfach ist ein Euphemismus", stellte sie klar. „Wenn ich mich in der Arena nicht lange genug halten kann..." Finn schüttelte nur den Kopf, um ihre Bedenken beiseitezuschieben. „Du musst optimistisch bleiben, das ist der einzige Weg, der uns bleibt", erklärte er und legte ihr damit nüchtern dar, dass ihr keine andere Wahl blieb, als durchzuhalten, wenn sie überleben wollte.

„Und wie kommen wir von diesem Schiff herunter?", fragte Lova zweifelnd. Obwohl sie wusste, dass es keinen anderen Weg gab, es erschien ihr wie ein einziges großes „Wenn".
Wenn sie es schaffte, sich nicht von zwei gut trainierten Jägern außer Gefecht setzen zu lassen.
Wenn der Drache im rechten Moment auftauchte.
Wenn sie aus der Arena entkommen konnte.
Wenn man sie nicht erwischte.
Wenn sie tatsächlich einen Weg fand, das U-Boot schnell und sicher zu verlassen.
Wenn sie es lebend ans nächste Ufer schaffte.

Finns reservierte Antwort trug ebenfalls nicht dazu bei, ihre zahlreichen Sorgen zu zerstreuen. „Unsere einzige Chance ist es wohl, deinen Wechselflügler zu finden, Vernell", sagte er schulterzuckend. „Auf seinem Rücken wirst du entkommen können, wenn er denn bereits wieder flugfähig ist." Lova schüttelte eilig den Kopf. „Wenn ich dich hier zurücklasse, wird Ryker früher oder später deinen Verrat bemerken und dich ermorden, das kann ich nicht zulassen", stellte sie klar. Finn wich ihrem stechenden Blick aus und ein ergebenes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Meine Familie braucht das Geld, das ich für meine Arbeit hier bekomme. Sie sind darauf angewiesen, ich kann das Schiff nicht verlassen", sagte er und hielt ihr einen rostigen Schlüssel entgegen. „Nimm ihn, er wird die meisten Käfigtüren öffnen."

Lova machte keine Anstalten, den Schlüssel zu ergreifen. „Wenn ich ihn nehme, wird Ryker bemerken, wem er fehlt", meinte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. „Dann wird deine Familie keinen Taler mehr von dir erhalten, weil du tot sein wirst."

Sie sah an seinen Augen, dass er zögerte. Er schien seinen Befehlen Folge leisten zu wollen, doch die Sorge um seine Familie bremste ihn aus. Finn war ein denkbar ungeeigneter Spion, doch so, wie es schien, hatte Viggo nicht viele Möglichkeiten gehabt. Es war immerhin geschickt gewesen, den Krokus als Erkennungszeichen zu verwenden, das musste sie ihm lassen. Ryker war zu blind für solche Kleinigkeiten, selbst wenn sie die erste Blüte nicht der Pfütze aus Blut auf dem Zeltboden überlassen hätte, er hätte kaum die richtigen Schlüsse gezogen. Lova dagegen hatte allein wegen ihres Stammes genug Bezug zu den kleinen Frühblühern, um sie zu bemerken, von ihrer eindeutigen Bedeutung einmal abgesehen.

„Vernell, das ist deine einzige Möglichkeit", meinte Finn und schien sie trotz der Risiken überzeugen zu wollen. Lova schüttelte nur den Kopf und legte eine Hand auf seine Schulter. „Ich bin dir dankbar, dass du das für mich tun würdest", sagte sie und versuchte ein aufmunterndes Lächeln, obwohl ihre Beine angesichts des Kommenden zitterten. „Aber ich werde irgendeine nichtsahnende Wache finden, der ich den Schlüssel stehlen kann."

„Das ist riskant", hielt er weiterhin dagegen, doch die Hand, die den Schlüssel hielt, ließ er langsam sinken. „Ich mag riskant", sagte Lova trocken. „Hab ein wenig Vertrauen und versprich mir, dass du auf dich aufpasst." Finn brachte ein ehrliches Lächeln zustande und nickte, während er den Schlüssel zurück in seine Tasche gleiten ließ. „Ich danke dir", entgegnete er aufrichtig. Sie straffte die Schultern und reckte das Kinn. „Dank mir, wenn ich es lebendig hier raus geschafft habe."

~

„Arena" war eine zutiefst lächerliche Bezeichnung für den Sandkasten im Zentrum des Schiffes. Es war lediglich eine zehn mal zehn Meter große Fläche, umrahmt von übrig gebliebenen Metallplatten und Gitterstäben, gefüllt mit körnigem Sand und kleinen Kieseln, die einem wohl nicht nur die Handflächen aufreißen würden, wenn man ungünstig darauf landete. Als Eingang diente ein ausrangiertes Tor, welches irgendein Schwachkopf mit Stacheldraht versehen hatte. Alles in allem passte die Arena perfekt zu dem rauen, kalten Eindruck, den das Kriegsschiff vermittelte, doch nach einem fünfminütigen Gang durch unzählige identische, von metallenen Wänden umgebenen Fluren hatte Lova sich etwas mehr erwartet. Projekt Granatenfeuer schien voll und ganz auf Zweckmäßigkeit ausgelegt zu sein, was sie natürlich bereits irgendwie erwartet hatte, sie aber dennoch in seiner Glanzlosigkeit schockierte. Sie hätte Viggo deutlich mehr Extravaganz zugetraut, statt diesen endlosen Gängen, die alle nur zu Schlafsälen für die Flotte oder zu Waffenlagern führten. Das ganze Schiff schrie so sehr Rykers Namen, dass sie sich fragte, ob sein Bruder überhaupt etwas zur Planung beigetragen hatte, von dem dazugehörigen, absolut tödlichen Drachen einmal abgesehen.

Die Arena schien nun also alles zu sein, was der Mannschaft zur Beschäftigung geboten wurde.

Wenn Lova ehrlich war, gehörte sie damit nicht gerade zu den Orten, an denen sie sich jetzt am liebsten aufhalten würde, doch sie wurde ja nicht gefragt. Tatsächlich hatte selbst Finn, der ihre flatternden Nerven zumindest etwas beruhigen konnte, sie schon vor einer Weile in der Sandgrube zurückgelassen. Einzig ein Schwert hatte er ihr noch in die Hand gedrückt und ihr viel Glück gewünscht, doch angesichts der johlenden Menge Drachenjäger, die sich um die Arena versammelt hatten, war sie sich nicht wirklich sicher, inwieweit ihr das etwas nutzen sollte.

Wenn sie ehrlich mit sich selbst war, hielt sie diesen Fluchtplan für absolut hirnrissig und bereute es gewaltig, Finns Schlüssel nicht doch an sich genommen zu haben. Allerdings wollte sie nicht diejenige sein, die Schuld daran trug, dass eine unschuldige Familie seines Todes wegen auseinander gerissen wurde. Diese Flucht war ihre einzige Chance und sie war ihm dankbar, dass er ihr ihre Möglichkeiten aufgezeigt hatte, doch sie wollte nicht erfahren müssen, dass seine freundlichen Augen niemals mehr die Sonne sehen würden, weil sie zu selbstsüchtig gewesen war.

Dieser Gedanke hielt sie aufrecht, als das erste Jägerteam unter großem Applaus in die Arena marschierte und mit identischem, dreckigem Grinsen zu ihr herabsah.

Das Schwert, welches schwer in ihren Händen lag, war gänzlich ungeschliffen und ohne jede Schärfe. Um eine wirklich ernsthafte Wunde zu erzielen, müsste sie wohl mit all ihrer Kraft auf die beiden Männer einschlagen, ohne gleichzeitig von ebenjenen verletzt zu werden. Lova sparte sich die Mühe einer Beschwerde, schließlich war den Jägern Fairness sicher völlig egal, wenn es um ihren Spaß ging, doch sie musste kein Genie sein, um zu wissen, dass ihre Chancen wohl niedriger als Null lagen. Mit bloßen Händen zu kämpfen wäre effektiver gewesen als dieses nutzlose Stück Metall, welches für einen längeren Kampf viel zu unhandlich war.

Nein, Schwertkampf lag ihr absolut nicht. Doch als die beiden Männer in Angriffsstellung gingen, wusste sie, dass es keinen Zweck hatte, sich darüber zu beklagen. Vermutlich würde sie dann nur einige Gliedmaßen oder ihren Kopf verlieren, weil sie nicht aufmerksam genug war. Ihre einzige Chance war es, Zeit herauszuschlagen und zu entkommen, sobald die erste Erschütterung Chaos in die Massen brachte. Und sei es nur für eine Sekunde.

Denn völlig egal, was Ryker noch mit ihr vorhatte, die tobende Menge um die Arena hatte sicher nicht vor, sie lebendig gehen zu lassen.

ClematisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt