Kapitel 15

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Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren, als sie in dem Zelt saß und dem Kommen und Gehen der Jäger lauschte. Hin und wieder warf sie dem dösenden Wechselflügler ein Stück Fisch von ihrem Teller zu oder trank einen Schluck Wasser, während sie nur darauf wartete, dass die Sonne erneut den Mond ablöste und die Nacht wieder in den Tag verwandelte. Aus den lauten Gesprächen der Männer bei jedem Schichtwechsel entnahm sie, dass die Drachenreiter wohl erst gefasst worden waren, ehe sie vor knapp... Lova legte nachdenklich den Kopf schief und versuchte, die Geschehnisse zeitlich einzuordnen. Es musste etwas eine Stunde her sein, dass eine Gruppe Jäger mit den Neuigkeiten hereingestürmt war. Die Drachenreiter hatten wohl eine spektakuläre Flucht hingelegt und dabei sogar die drachensicheren Ketten gesprengt. Wie viel davon wirklich der Wahrheit entsprach und was die aufgeregten Jäger sich nur ausgedacht hatten, würde sie wohl entweder später von Viggo oder niemals erfahren.

Von den gestohlenen Bauplänen schien bisher keiner zu ahnen, also verlor Lova sich wieder in Gedanken und streichelte ihrem Drachen sanft über die Schnauze. Runna hatte ihren Kopf auf ihrem Schoss abgelegt und sah hin und wieder aus aufmerksamen, grünen Augen zu ihrer Reiterin hoch, aber die meiste Zeit döste sie einfach vor sich hin. Obwohl Lova von all diesen Gesprächen umgeben war, konnte sie das dumpfe Gefühl der Einsamkeit nicht wirklich von sich abschütteln. Außerdem war ihr viel zu warm in dem mittlerweile völlig überfüllten Zelt und ihr verstauchter Knöchel schmerzte.

Sie seufzte leise und stützte den Kopf auf ihren Armen. Ihr Kopf schwirrte von dem süßen Duft des Honigweins, der schon den ganzen Abend in der Luft lag und sie spürte, wie die Müdigkeit sie überwältigte. Sie hatte kaum geschlafen, gestern nicht, vorgestern auch nicht und heute noch weniger. Ob es schaden würde, wenn sie für einen Moment die Augen schloss? Noch ehe Lova das Für und Wider gegeneinander abwägen konnte, sank ihr Kopf auf die Tischplatte und sie fand gerade noch die Kraft, ihren Arm als notdürftiges Kissen unter ihre Stirn zu schieben, ehe sie einschlief.

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Eine plötzliche Erschütterung auf der Tischplatte und ein forderndes: „Du schuldest mir mehr als eine einfache Erklärung, Louvisa." rissen sie einige Stunden später aus dem Schlaf. Verwirrt hob Lova den Kopf und fuhr sich durch die wirren braunen Locken, um die störenden Haare aus ihrem Gesicht zu verbannen. Ihr geflochtener Zopf war nur noch ein einziges Chaos und sie spürte den roten Abdruck, den das unebene Holz des Tisches auf ihrer Wange hinterlassen hatte. Als wäre all das nicht genug, hatte sie dank der tief und fest schlafenden und leise schnarchenden Runna Drachensabberflecken auf ihrer Hose und ihrem Hemd. Dennoch rieb sie sich eilig den Schlaf aus den Augen und sah zum Ursprung der Stimme hoch.

„Viggo? Was im Namen aller Götter..." Er schlug ein weiteres Mal mit der flachen Hand auf den Tisch und bedachte sie mit einem wutentbrannten Blick. „Die Baupläne für das Projekt Granatenfeuer", sagte er, geradezu bedrohlich langsam und ruhig, während der Zorn in seinen Augen sich regelrecht in ihre Haut brannte. „Warum hast du zugelassen, dass der Drachenreiter sie in die Hände bekommt?"

Lova starrte ihn für einen Moment nur verständnislos an, ehe sie die Müdigkeit endgültig aus ihrem Kopf verbannen und wieder klar denken konnte. „Der Jäger hat also geplaudert?", fragte sie interessiert und obwohl sie spürte, wie Angstschweiß sich auf ihrer Haut ausbreitete, strich sie ihrem Wechselflügler beruhigend über den Hals. Wenn Runna hörte oder sah, dass Viggo ihr drohte, würde sie aus dem Mann schneller einen Haufen Knochensplitter machen, ehe einer von ihnen auch nur blinzeln konnte. Und obwohl Lova ihre Nervosität kaum verbergen konnte, wollte sie das lieber vermeiden. Sie war schon dankbar genug, dass die Nachricht ihres Verrates nicht an Rykers Ohren gedrungen war, sonst wäre sie jetzt vermutlich schon längst tot.

„Woher wusstest du, dass ich es war?", fragte sie weiter, ohne auf seine Frage zu beantworten. Viggo stieß ein abfälliges Schnauben aus. „Ich bitte dich, eine Frau mit Pfeil und Bogen, einem dunkelroten Mantel und der Fähigkeit, sich binnen weniger Sekunden aus dem Staub zu machen? Nicht gerade ein großes Rätsel." Lova schüttelte innerlich den Kopf über sich selbst. Das war vermutlich die dümmste Art Verrat gewesen, die sie jemals erlebt hatte... Wahrlich eine absolute Glanzleistung. Dennoch konnte sie nicht gerade sagen, dass sie ihre Taten bereute, im Nachhinein hätte sie sich nur deutlich klüger angestellt.

„Willst du mir jetzt erklären, was dich dazu bewogen hat, mich derartig zu hintergehen?", fragte Viggo. Sein drohender und ruhiger Tonfall war wieder seiner sanften Stimme gewichen, obwohl noch ein Hauch Wut darin mitschwang. Sie konnte beim besten Willen nicht sagen, was von beidem ihr mehr Angst machte. „Habe ich dich hintergangen?", fragte sie dennoch zurück. „Oder habe ich Ryker hintergangen?" - „Momentan bedeutet das eine auch das andere, auch wenn es dir nicht so erscheinen mag, meine Teure", entgegnete Viggo und stützte sich mit den Händen auf der Tischplatte ab, um sich gleichzeitig näher zu ihr zu lehnen. Wenn er es darauf abzielte, sie nervös zu machen, hatte er sein Ziel erreicht, aber Lova erwiderte seinen stechenden Blick dennoch so selbstsicher wie möglich.

„Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass du den Verrat deines Bruders eines Tages nicht mehr hinauszögern kannst? Dass du irgendwann keinen verdammten Spielraum mehr hast?", fragte sie und merkte kaum, wie sie ihre Stimme gegen ihn erhob. „Eines Tages retten die Pläne vielleicht dein Leben, weil diese Drachenreiter Ryker aufhalten können, ehe er deinen Platz einnimmt und mit deinem Granatenfeuer die Inselreiche bombardiert." Sie reckte das Kinn, ohne zu bemerken, dass sie ihm mittlerweile so nah war, dass ihre Nasenspitzen sich beinahe berührten.

Auf Viggos Lippen breitete sich ein Lächeln aus. „Meine Liebe, wo sind deine optimistischen Reden, dass ich meinem geschätzten Bruder vielleicht doch noch das Handwerk legen kann?" Lova fuhr sich ein weiteres Mal durch die Haare, dieses Mal aus Frust. „Du hast gerade eine weitere Niederlage erlitten, glaubst du, dass das spurlos an deinen Männern vorbeigehen wird? Wie viele hast du dieses Mal verloren?", hakte sie nach, während sein Grinsen verblasste. „Fünf? Zehn? All das für nichts und wieder nichts, so sieht es für deine Jäger zumindest aus. Wie oft werden sie das wohl noch geschehen lassen, ehe sie genug haben?"

„Was soll Ryker an ihrer Lage ändern können?", entgegnete Viggo, völlig überzeugt davon, dass sie kein Argument mehr gegen seine Worte finden würde. „Nichts", gab sie zu. „Aber du vergisst, dass nicht jeder deine Intelligenz teilt. Für dich ist das möglicherweise eine Rebellion ohne Sinn und Verstand, für sie steckt darin so lange eine Chance, bis sie von Drachenfeuer versengt am Boden liegen."

Er musterte sie einen Moment lang nachdenklich, ehe er kopfschüttelnd entgegnete: „Ich sage nicht, dass du Unrecht hast mit dem, was du da sagst, meine Liebe. Aber ich bezweifle dennoch stark, dass du dem Drachenreiter nur geholfen hast, um mich zu schützen." Lova senkte den Blick, um seinen forschen Blick nicht weiter entgegensetzen zu müssen. „Selbstverständlich nicht", bestätigte sie ihm mit leiser Stimme. Sie vergrub die freie Hand in ihrem Hemd und holte tief Luft, ehe sie weitersprach. „Für dich mag das vielleicht unwahrscheinlich erscheinen, aber..." Lova stockte und suchte nach den richtigen Worten. „Wenn dein Bruder an die Macht kommt, gibt es nichts und niemanden mehr, der ihn aufhalten kann. Was wird mit mir geschehen, sobald ich nicht mehr unter deinem Schutz stehe, Viggo?"

Er wartete mit seiner Erwiderung ab. Bevor er sprach, ließ er sich auf dem freien Stuhl neben ihr nieder, faltete die Hände und stützte diese dann auf der Tischplatte ab. Sein Blick wurde weich, als er sie ansah.

„Was glaubst du, kann ich tun, um den Schaden zu begrenzen?", fragte Viggo schließlich mit ehrlichem Interesse in der Stimme. Lova sah zu ihm hoch, während sie spürte, wie Erleichterung die Kontrolle über ihre Gesichtszüge übernahm. Es beruhigte sie ungemein zu sehen, dass er ihre Bedenken ernst nahm. „Ich habe nicht annähernd so viel Ahnung von all dem hier wie du", erklärte sie dennoch sofort. Er nickte, aber sein aufmerksamer Blick ruhte weiterhin auf ihr. Viggo schien weiterhin auf eine Antwort zu warten. „Du hast gerade all deine Jäger hierher rufen lassen, richtig?", fragte Lova nachdenklich. „Das ist richtig, wegen der Beendigung des Projekts", antwortete er und sie nickte langsam. „Ich würde als ersten Schritt alle Flotten, die noch nicht in der Basis angekommen sind, auf schnellstem Wege zurück in ihre jeweiligen Einsatzbereiche schicken", sagte Lova und spürte, wie ihr Selbstbewusstsein zurückkehrte. „So sind sie vor Rykers Rebellionsversuchen geschützt und du hast einige Verbündete in der Hinterhand."

„Habe ich dir bereits gesagt, dass du eine bemerkenswert intelligente Frau bist?", erwiderte er mit seinem üblichen charmanten Lächeln. Lova hob die Brauen. „Danke", gab sie skeptisch zurück. „Aber das habe ich tatsächlich schon einmal von dir gehört." Viggo lachte leise und schüttelte amüsiert den Kopf. „Meine Liebe, kein Grund zur Skepsis", sagte er belustigt. „Ich wollte dir lediglich ein berechtigtes Kompliment machen."

„Misch dich wieder mehr unter deine Männer", fuhr Lova fort, ohne auf seine Aussage einzugehen. Sie hoffte nur, dass das Halbdunkel des Zeltes ihre geröteten Wangen vor ihm verbarg. „Mach ihnen klar, dass du dich für sie und ihre Sicherheit interessiert. Veranlasse ein Training, in welchem sie den Umgang mit Waffen und Drachen üben können. Mit den ranghöheren Jägern dagegen könntest du die Strategie besprechen. Das klingt vielleicht banal, aber wenn sie sich miteinbezogen fühlen, werden sie dir gegenüber wieder Vertrauen fassen." Er nickte und sie bemerkte, dass er genau wie sie den Kopf leicht schief legte, wenn er nachdachte. „Daran hatte ich bisher nicht gedacht", gab Viggo zu. „Ich gebe zu, dass ich die letzten Tage zu sehr mit der Planung von Projekt Granatenfeuer beschäftigt war, um mich meinen Verbündeten zu widmen..." - „Noch ist es nicht zu spät", erwiderte Lova und zuckte die Schultern. „Aber es freut mich, dass ich dir helfen konnte."

Seine Augen trafen auf ihre. „Oh, das hast du, meine Liebe", sagte er. „Gibt es etwas, womit ich mich für deine Hilfe bedanken könnte?"

„Da wäre durchaus etwas", entgegnete Lova und räusperte sich verlegen. Viggo sah sie interessiert und aufmerksam an. „Ja?", fragte er. „Und was wäre das?" Sie sah, wie sein Lächeln ein wenig breiter wurde, als sie weitersprach. „Ich würde gern Schwertkampf lernen", sagte sie entschlossen. „Von dir, genauer gesagt."

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„Warum ausgerechnet Schwertkampf?", fragte Viggo, als er mit ihr den ausgetretenen Pfad zur Trainingslichtung der Jäger entlangging. Hinter ihnen kletterte Runna durch das undurchsichtige Geäst der Bäume und machte sich nur hin und wieder durch ein paar abgeknickte Zweige bemerkbar. Lova konnte nicht ganz genau sagen, ob es ihrem Drachen einfach nur Spaß machte, die Vögel aufzuschrecken und sie bei ihrem Gespräch zu beobachten, oder ob Runna Viggo nicht genug über den Weg traute, um ihre Reiterin mit ihm allein zu lassen. Lova entschied sich, diese Frage fürs Erste beiseite zu schieben und sich stattdessen auf den Mann neben ihr zu konzentrieren. Es war beruhigend genug, wenn sie wusste, dass ein sehr treuer, sehr vorsichtiger und sehr, sehr tödlicher Wechselflügler auf sie aufpassen würde.

„Du trägst ein Schwert, Ryker zwei", antwortete Lova ihm schließlich. „Ich dagegen bin in einem Nahkampf nur auf Körperkraft angewiesen, was bei deinem Bruder nicht unbedingt eine Erfolgstaktik ist." Sie zuckte die Schultern. „Wenn ich ihn also nicht mit meinem Bogen erdrosseln soll, stehen meine Chancen verdammt schlecht." Auf Viggos Lippen machte sich ein belustigtes Lächeln breit. „Ich würde viel Gold bezahlen, um das sehen zu dürfen", gab er zurück und entlockte ihr damit ein Lachen. „Allerdings verstehe ich natürlich, worauf du hinauswillst, meine Liebe. Aber eine Frage muss ich dir durchaus noch stellen..." Fragend sah Lova zu ihm hoch und versuchte dabei den Fakt zu verdrängen, dass die aufgehende Sonne sich golden in seinen Augen spiegelte.

„Glaubst du wirklich, dass ich ein Schwert gegen dich richten würde, Lova?"
Sie brauchte einen Moment, um eine Antwort auf seine Frage zu finden, für einige Sekunden starrte sie einfach nur verblüfft zu ihm hoch. „Ich schätze nicht, nein", gab Lova dann zurück und er nickte zufrieden. „Das ist gut, denn beim Training mit Waffen ist Vertrauen wohl die wichtigste Grundlage", sagte Viggo und sie verlor sich in dem Blick, den er ihr bei diesen Worten schenkte. Was an und für sich nicht sonderlich schlimm gewesen wäre, aber dieser kurze Moment der Unachtsamkeit reichte, um sie ins Straucheln zu bringen. Hätte er nicht geistesgegenwärtig die Hand nach ihr ausgestreckt, wäre sie wohl vornüber in den Staub gekippt. „Bei den Göttern", fluchte Lova und rieb sich den schmerzenden Knöchel. „Bist du dir sicher, dass du mit deiner Verstauchung trainieren willst?", fragte Viggo sie zweifelnd, während er den Arm als Stütze um ihre Taille schlang.

„Mit dieser Verstauchung habe ich einen Tödlichen Nadder besiegt", gab sie unbeeindruckt zurück. „Genau genommen hast du ihn nur vertrieben, meine Liebe", entgegnete er und Lova schnaubte. „Macht das einen Unterschied?", meinte sie und belastete den verstauchten Fuß prüfend. Es schmerzte, aber nicht mehr so schlimm wie noch im Essenszelt und nicht annähernd so mörderisch wie in der vergangenen Nacht. Als sie ihren Knöchel prüfend abtastete bemerkte sie auch, dass die Schwellung zurückgegangen war. „Theoretisch ist es ein gewaltiger Unterschied, in der Praxis gibt dir dein Erfolg Recht", sagte Viggo neben ihr schließlich und Lova nickte zufrieden. „Da hast du es. Und du glaubst nicht wirklich, dass mein Gegner in einem Kampf auf meine Genesung warten würde." - „Nun...", erwiderte er. „Wohl kaum."

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Etwa eine Stunde später hatte Lova zwei Dinge gelernt:
1. Mit einem verstauchten Knöchel gegen einen erfahrenen Schwertkämpfer anzutreten, war vielleicht lehrreich, aber nicht sonderlich von Erfolg gekrönt.
2. Viggo hatte mehr Talent und mehr Durchhaltevermögen, als sie ihm zugetraut hätte, was sie in ihrem momentanen Zustand nur bedingt als etwas Gutes betrachten konnte.

Ihr momentaner Zustand, das war – zum hundertsten Mal an diesem Morgen – der Boden zu Viggos Füßen. Im Gegensatz zu ihr war er kein bisschen außer Atem, hielt und führte sein Schwert mit unbestreitbarem Können und grinste gerade siegessicher zu ihr herunter. Lova wischte sich frustriert den Schweiß von der Stirn und griff halbherzig nach ihrem eigenen Schwert, welches er ihr schon vor einigen Minuten aus der Hand geschlagen hatte. Natürlich bemerkte er ihre viel zu langsame und vorhersehbare Bewegung sofort und Lova musste ihre ausgestreckte Hand eilig zurückziehen, um nicht von ihm getroffen zu werden. Obwohl beide Schwerter mit einer schützenden Lederkappe versehen waren, war sie nicht gerade scharf darauf, sich einen weiteren blauen Fleck verpassen zu lassen, denn auch ohne scharfes Metall schmerzte ein gut ausgeführter Schlag mehr als genug.

„Konzentrier dich und denk nach, Liebes", trieb Viggo sie an. „Ich hätte dich schon drei Mal erstechen können, wenn ich gewollt hätte." Lova verkniff sich ein Augenverdrehen und erhob sich in einer schnellen Bewegung. „Wie gut, dass du das nicht willst", entgegnete sie trocken, während sie sich knapp unter einem erneuten Schwerthieb wegduckte. Noch während sie halb hockend, halb stehend in ihrem Ausweichmanöver verharrte, schaffte sie es, ihr eigenes Schwert vom Boden zu fischen und damit seinen nächsten Schlag zu parieren. „Schon besser", sagte er anerkennend, aber Lova nahm sich nicht die Zeit für eine sarkastische Erwiderung. Hätte sie das getan, würde sie jetzt wieder entwaffnet auf dem Boden liegen, denn seinem nächsten Manöver konnte sie nur knapp mit einem Sprung zur Seite entkommen. Stattdessen hob sie den Arm, um ihn auf Brusthöhe zu erwischen.

Was ein Fehler war, wie sie zwei Sekunden später feststellte, denn er musste ihren Oberarm mit seinem Schwert nur leicht antippen und sie verlor wegen ihres verlagerten Körperschwerpunkts bereits das Gleichgewicht. Fluchend taumelte sie zur Seite und musste sich an einem in der Nähe stehenden Baum abfangen, um nicht umzukippen.

„Niemals den Arm über Schulterhöhe heben, wenn du gleichzeitig ein leichtes Ziel für deinen Gegner darstellst", erklärte Viggo ihr und ließ sie einen Moment verschnaufen. „Danke für den rechtzeitigen Tipp", erwiderte Lova mit kaum verborgenem Sarkasmus in ihrer Stimme, ehe sie einen tiefen Atemzug nahm, die Schultern straffte und ihre Haltung korrigierte. Aufmerksam sah sie ihm in die Augen, wartete geduldig seine nächste Handlung ab. Die letzten Male hatte sie den Angriff ausgeführt und es hatte jedes Mal mit einem Verlust ihrerseits geendet... Vielleicht war es klüger, Viggo den ersten Schritt machen zu lassen und eventuelle Fehler auszunutzen.

Er war kein Angreifer, wie Lova wenig später triumphierend feststellte. Er wartete, bis seine Feinde ihn angriffen, nicht andersherum, um dann abzuwehren. Dementsprechend war seine Verteidigung exzellent, aber wo kein Angriff war, da brauchte es auch keine ausgeklügelten Paraden.

Sie riss ihr Schwert in die Höhe und lauschte triumphierend dem dumpfen Aufprall von Leder auf Leder. Sie schenkte ihm ein selbstsicheres Lächeln, während sie sich mit all ihrer Kraft gegen sein Schwert auflehnte und es tatsächlich schaffte, ihn gegen den Baum in seinem Rücken zu drängen. Dort hielt sie ihn auch für einige stolze Sekunden, ehe er sie mit einem gezielten Hieb zum Ausweichen zwang. „Interessante Taktik", gab Viggo zu, während er sich kleine Rindenstücke aus den Haaren fischte. „Gegen meinen Bruder vermutlich nicht sonderlich effektiv, aber dennoch überaus spannend, meine Liebe, das muss ich zugeben." Lova deutete eine Verbeugung an. „Stets zu Diensten", erwiderte sie, ehe sie seinen nächsten Schlag entgegennahm und mit einem Schwung zur Seite an ihrer Waffe abprallen ließ. Sein Schwert kam nicht ganz so gut weg, denn als er wegen der Wucht ihrer Parade nach rechts taumelte, wäre es ihm beinahe aus der Hand gefallen.

Lovas Augen verengten sich zu Schlitzen, all ihre Konzentration lag auf seiner Schwerthand. Das war die beste Chance, die sie heute bekommen würde.

Sie verpasste ihm einen gezielten Tritt gegen den Schenkel, der ihn nicht nur ablenkte, sondern auch aus dem Gleichgewicht brachte. Während er noch um seine Balance rang, musste sie nur mit der Schneide ihres Schwertes gegen seine Handinnenfläche schlagen und seine Waffe landete mit einem endgültigen Klirren auf dem Boden. Bevor er danach greifen konnte, trat sie mit ihrem Stiefel dagegen und stieß es so außerhalb seiner Reichweite.

„Ich habe es geschafft", sagte Lova ungläubig und ließ einen kleinen, begeisterten Freudenschrei zu, ehe sie wieder ernster wurde und Viggo die Hand reichte, um ihm beim Aufstehen zu helfen. Er ergriff sie und warf ihr einen beeindruckten Seitenblick zu, während er sich den Staub von der Tunika wischte. „Das hast du", bestätigte er ihr amüsiert. „Für deinen ersten ernstzunehmenden Versuch war das eine bewundernswerte Leistung, meine Liebe." Sie lächelte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Du hättest mich sicher mehrmals töten können", gab Lova zurück, während sie ihre mittlerweile völlig zerzausten Haare grob mit den Fingern kämmte und anschließend zu einem notdürftigen Pferdeschwanz band.

„Ich bin nicht der Maßstab in dieser Situation", widersprach er ihr und strich beiläufig einige verirrte Strähnen aus ihrer Stirn. Lova lachte leise, um ihre Verlegenheit zu überspielen. „Vielleicht nicht, aber in einem ernsten Kampf..." Viggo unterbrach sie. „In einem ernsten Kampf müsstest du dich so oder so an die Taktiken deines Gegners anpassen. Und da dieser in deinem Fall vermutlich mein Bruder ist, wäre deine heutige Performance fehlgeschlagen, damit magst du Recht haben, aber genau darum geht es ja. Du musst selber denken und die richtige Strategie finden, statt stumpfe Verteidigungsmuster auswendig zu lernen. Dafür fehlt uns ohnehin die Zeit."

Sie bemerkte die Veränderung in seinem Tonfall sofort. Mit jedem Wort war er düsterer geworden, eine dunkle Vorahnung stand darin. „Wie lange noch, bis Ryker das nächste Mal zuschlagen wird?", fragte sie leise. Viggo schüttelte nur leicht den Kopf. „Ich weiß es nicht", gab er zu. „Und genau das bereitet mir zunehmend Sorgen."

ClematisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt