Kapitel 35 (2)

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Als Lova erwachte, stieg ihr zuerst der salzige Geruch des Meeres in die Nase, vermischt mit dem Gestank von ungewaschener Kleidung. Sie runzelte verwirrt die Stirn und quälte sich ächzend in eine sitzende Position, während ihr noch verschlafener Körper träge protestierte und ihre Augen gegen die Dunkelheit anblinzelten, die sie umgab. Der Boden unter ihr war kalt und hart, ihr Rücken schmerzte und ihre Hände waren taub. Das Gefühl von rauen Seilen um ihre Handgelenke verriet ihr auch, weswegen. Jemand musste sie gefesselt haben, während sie schlief. Das erklärte auch, warum der für getrockneten Baldrian typisch ranzige Geruch in der Luft lag, denn das Kraut war für seine einschläfernde Wirkung bekannt. Ohne ein Beruhigungsmittel wäre wohl jeder Mensch bei der Prozedur erwacht, die Lova anscheinend durchlaufen haben musste, selbst wenn er schlief wie der sprichwörtliche Stein.

„Viggo?", fragte sie mit gesenkter Stimme und tastete nach weiteren Hinweisen auf das Geschehene. „Bist du hier?" Keine Antwort folgte.

„Also nein...", murmelte Lova, an sich selbst gewandt, und stemmte sich mühsam hoch in den Stand. Ihre Arme hingen noch immer nutzlos herab, doch so fühlte die Wikingerin sich deutlich sicherer. Zusätzlich schienen ihre Augen sich langsam an das spärliche Licht zu gewöhnen, welches durch die Holzplanken drang.

Offensichtlich befand sie sich im halbleeren Frachtraum eines Schiffes, lediglich ein paar Fässer standen in den Ecken des Raumes. Die Tür dagegen war aus Metall und ziemlich sicher abgeriegelt, denn durch das Schlüsselloch drang nicht das kleinste Quäntchen Licht. Dennoch ging Lova mit entschlossenen Schritten voran und beugte sich herunter, um mit dem Kinn die Klinke zu betätigen. Der Erfolg blieb aus, sie hatte lediglich einen blauen Fleck mehr zu verbuchen, als der verdammte Metallgriff zurück in seine alte Position schnipste und ihr dabei einen linken Haken verpasste.

„Bei allen Göttern", zischte sie ungehalten und stolperte hastig einige Schritte zurück. Dabei verfing sie sich in zwei Schnüren und hätte beinahe unliebsame Bekanntschaft mit den Planken gemacht, wenn sie sich nicht rechtzeitig an einem der umstehenden Fässer abgefangen hätte. Dennoch ließ sie sich – zugegebenermaßen recht erschrocken – auf den Boden zurückgleiten und zog mit den Füßen das seltsame Ding mit den Schnüren näher zu sich heran.

Wie es sich herausstellte, handelte es sich dabei um einen für Händler üblichen Seesack, den man meist mit allerhand Reiseutensilien füllte und sich dann lässig um die Schulter schwingen konnte. Fast war die Wikingerin versucht, ihn aus Achtung der Privatsphäre nicht zu öffnen, doch andererseits hatte der vermeintliche Besitzer sie entführt, also konnte sie sich ihre Höflichkeit wohl sonst wo hinstecken. Wenn es sich bei ihrem Entführer um Krogan handelte, würde es sogar eine besondere Genugtuung für sie sein.

Es war ziemlich mühsam, einen Seesack ohne verfügbare Hände zu öffnen, also schälte sie ihre Füße aus ihren Stiefeln und betete nur, dass sie ihr in der nordischen Kälte nicht abfrieren wurde. Dann schob Lova ihre Zehen in die zu Schlaufen geknoteten Schnüre und zog, bis der Seesack endlich seinen Inhalt preisgab.

Der Dolch fiel ihr als erstes ins Auge, denn selbst in dem spärlichen Licht schimmerte die frisch polierte Schneide. Ein triumphierendes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen und sie biss sich auf die Unterlippe, um einen Jubelruf zurückzuhalten. Damit würde es ein Leichtes sein, ihre Fesseln zu lösen. Lova musste nur die Hände nach dem Griff ausstrecken und mit ein wenig Konzentration und Geduld die Fasern durchtrennen, was kaum eine Minute in Anspruch nahm. Zufrieden ließ sie ihre verkrampften Handgelenke kreisen und seufzte wohlig, als endlich das Blut in ihre Finger zurückfloss. Die unangenehme Taubheit klang ab und die Wikingerin rieb sich die Hände, um auch die Kälte zu vertreiben. Erst jetzt erlaubte sie sich, den Dolch näher in Augenschein zu nehmen.

Er war kaum größer als ein Küchenmesser und mit filigranen Schnitzereien versehen. Es war nicht wirklich ersichtlich, ob er praktischen Zwecken diente oder lediglich als Dekoration zu verwenden war, denn für einen Kampf wäre er gänzlich ungeeignet. Dennoch war er scharf genug, um selbst robuste Drachenhaut zu durchdringen.

Lova stieß ein entrüstetes Schnauben aus und verstaute den Dolch an ihrem Gürtel. Es war ihr ein Rätsel, wann sie ihre Alltagskleidung angezogen haben sollte, denn in ihrer letzten Erinnerung war sie sicher nicht derartig gekleidet gewesen. Dennoch beruhigte es sie, das gewohnte Leder an ihren Beinen zu spüren. In Adajas Rock war sie zwar schön anzusehen gewesen, doch ihre Knie schmerzten noch immer von dem ungedämpften Aufprall nach Krogans Angriff. So war sie definitiv besser für einen Kampf gerüstet, sollte es zu einem kommen.

Entschieden zog sie den nächsten Gegenstand aus dem geöffneten Seesack und erstarrte vor Unglauben, als sie ihn erkannte. Mit zitternden Fingern hielt sie ihren eigenen Bogen in die Höhe, dicht gefolgt von einem leeren Köcher. Als sie über die Markierungen fuhr, die sie selbst in dem glatten Holz hinterlassen hatte, hatte sie Gewissheit. Aus irgendeinem Grund hatte jemand ihre Privatsachen entwendet, als er oder sie Lova entführt hatte. Doch warum überließ man ihr einfach eine Waffe? Ein Bogen ohne Pfeile mochte zwar nutzlos wirken, doch man sollte niemals die reißfeste Sehne unterschätzen. In der Theorie wäre es durchaus möglich, jemanden damit zu erdrosseln.

Mit einem Kopfschütteln schob Lova diese Fragen beiseite, auf die es doch ohnehin keine Antwort gab, und tastete im Inneren des Seesacks nun nach den letzten Gegenständen, den sie schwer am Grund liegen spürte. Ihre Hände schlossen sich darum und Lova holte sie eilig hervor. Etwas raschelte unter ihren Fingern, während sie ein hartes, kühles Material erkannte, welches rau und kantig an ihre Haut aneckte. In starkem Gegensatz dazu stand der entrindete Ast, der sich anscheinend ebenfalls in dem Sack befunden hatte. Es handelte sich um einen Brief, einen Feuerstein und eine mit Kohle präparierte Fackel. Und Lova kannte nur eine Person, die ihr Briefe hinterlassen würde.

~

Viggo warf einen abfälligen Blick auf den Sonnenstand, als der verhüllte Mann neben ihm zum Stehen kam. „Nicht einmal mit deiner Pünktlichkeit konntest du mich beehren, nachdem du mich zu diesem Bündnis gezwungen hast", sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das ist ganz die mangelnde Höflichkeit, die ich von dir erwartet habe."

Krogan ließ ein verächtliches Schnauben hören und zog das Tuch von seiner Nase bis zu seinem Kinn herunter, um frei sprechen zu können. „Und das war ganz die rechthaberische Antwort, die ich erwartet hatte", gab er zurück, die Hände angriffslustig zu Fäusten geballt, während Viggo nur den Kopf schüttelte und trocken auflachte. „Ich darf doch bitten", sagte der Drachenjäger amüsiert. „Eigentlich ist ja ein Glückwunsch angebracht, nicht wahr?"

Krogans Hand zuckte zu seiner Waffe. „Spar dir deine Rätsel, Grimborn", entgegnete er. Doch wenn Viggo ehrlich war, bereitete ihm das lediglich ein wenig mehr Belustigung. Hätte er den klügsten Mann des Inselreiches erfolgreich in eine Falle gelockt, wäre er weitaus enthusiastischer gewesen, aber da konnte man schließlich nur für sich selbst sprechen. In seinen Augen sprach es allerdings ein weiteres Mal dafür, dass Krogan überaus schwer von Begriff war. Mit Humor, Anspielungen und der Kunst des Verlierens schien er auch nicht sonderlich viel am Hut zu haben, was Viggo allerdings nicht weiter überraschte. Allerdings war es ziemlich enttäuschend, dass das die intellektuellste Gesellschaft sein würde, die ihm für eine ganze Weile geblieben war.

„Glückwünsche dafür, dass du mich erfolgreich an deinen Plan gebunden hast", sagte Viggo und sprach extra langsam, damit sein Gegenüber ihn verstand. Er war sich noch immer nicht ganz sicher, wie viel Intelligenz er Krogan tatsächlich zutrauen durfte. Bisher hatte er keine besonderen Glanzleistungen hervorgebracht.

„Ich will dein Lob nicht", meinte Krogan und verengte die Augen zu Schlitzen. „Ich bin nicht hier, damit du mir Honig ums Maul schmieren kannst." Viggo hob die die Brauen und hatte Mühe, ein spöttisches Auflachen zurückzuhalten. „Ach ja?", fragte er. „Und was schwebt dir stattdessen vor in deiner endlosen Voraussicht?"

Als Krogan ein wütendes Knurren ausstieß und seine Axt zückte, wusste Viggo, dass das ein überaus gefährliches Bündnis werden würde. Schon jetzt gab ihm ein einziges, kurzes Gespräch das Gefühl, an einem Abgrund zu stehen, während jedes von Krogans Worten ihn näher an einen freiwilligen Sprung in die Tiefe brachte. Er kannte sich aus mit tödlichen Tiefen und Stürzen, die einem alles kosten konnten, doch bei diesem hier fehlte selbst der abenteuerliche Kick, den das Risiko ihm sonst brachte. Bei Krogan handelte es sich um den Typ Mensch, den Viggo unter normalen Umständen meiden würde. Er war wie Ryker; brutal und nicht gerade mit einem Sinn für Feinheiten ausgestattet. Als gäbe es noch nicht genug Männer von diesem Schlag im Inselreich.

„Wir kehren zur Basis der Jäger zurück", sagte Krogan dann drohend, doch Viggo verdrehte nur gelangweilt die Augen. „Klar", entgegnete er, so betont sarkastisch, dass selbst der schwerfälligste Geist die Ironie verstanden hätte. „Falls du die letzten Monate auf einer einsamen Insel verbracht haben solltest; mein letzter Aufenthalt dort endete in einer Rebellion, den Angriffen des Granatenfeuers unter Befehl meines Bruders, meiner Gefangennahme durch die Drachenreiter und, nicht zu vergessen..." Viggo deutete auf die Brandnarben auf seinem Gesicht. „Damit."

Statt den Worten seines Gegenübers Gehör zu schenken, schleuderte Krogan seine Axt mit Schwung auf den gefrorenen Erdboden und grinste zufrieden, als Viggo bei der Wucht des Aufpralls kaum merklich zusammenzuckte. Einige Zentimeter mehr und er hätte ihm wohl die Zehen von den Füßen getrennt.

„Jetzt", stellte Krogan klar.

„Eine Sache noch", sagte Viggo, ohne sich von seinem feindseligen Tonfall abschrecken zu lassen. „Du magst über mich, mein Wissen und meine Männer verfügen, aber dennoch gelten drei Regeln, damit ich nicht zufällig..." Ein verschlagenes Grinsen schlich sich auf Viggos Lippen. „... deinen Plänen in die Quere komme. Es wäre ja überaus schade, wenn du durch einen dummen Zufall von den berüchtigten Drachenreitern geschlagen wirst, nicht wahr?"

Krogan ballte die Hände zu Fäusten, bis seine Gelenke knackten und seine Knöchel weiß hervortraten. „Ich höre", presste er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. „Ich wusste doch, dass wir uns verstehen würden", gab Viggo zurück und lächelte zufrieden. Dann hob er, um seinen Feind noch ein wenig weiter zu reizen, drei Finger in die Höhe.

„1. Das Drachenauge wird, ohne Streitigkeiten oder plötzliche Änderungen des Handels, sofort nach der Rückeroberung an mich zurückgegeben und kein weiteres Mal entwendet", begann er und verdeutlichte seine Worte mit einem Tappen seiner Stiefel auf den harten Boden. Es war befriedigend mitanzusehen, wie Krogans wütende Grimasse sich bei jedem Mal ein wenig mehr verzog. „Außerdem werde ich auf Nimmerwiedersehen verschwinden, sobald du deinen Plan erreicht hast. Auch hier akzeptiere ich keine Umwege oder Ausflüchte."

Krogan nickte, auch wenn man ihm seinen Unmut deutlich ansah. „Du bist ja doch ein Mann klarer Worte", gab er zurück und Viggo lachte kalt auf. „Wenn die Umstände es erfordern...", sagte er und ließ den ersten Finger sinken.

„2. Von dieser Stunde bis zur letzten deines Lebens wirst du weder Louvisa, noch irgendeine andere Person als Druckmittel benutzen, um mich zur Zustimmung zu bewegen. Das ist überaus ermüdend und selbst für dich würdelos."

Dieses Mal lachte Krogan nur, statt sich weiter zu erzürnen. „Da habe ich wohl einen wunden Punkt gefunden?", fragte er amüsiert. „Wer hätte gedacht, dass der große Viggo Grimborn sich zu einem Helden für heimatlose Frauen und kleine Mädchen entwickeln würde und dann noch die Nerven hätte, mir etwas von Würde zu erzählen?"

Viggo hätte jetzt wütend werden können, hätte seine Waffe ziehen und einen Kampf anzetteln sollen. Er hätte jede Berechtigung gehabt, Krogan den Hals umzudrehen. Doch er tat nichts dergleichen. Er hob nur den letzten verbliebenen Finger und hielt ihn direkt vor sein grinsendes Gesicht. Sowohl Belustigung als auch kalter Stolz und Triumph lagen in seinem Blick.

„3." sagte Viggo und ließ den Finger langsam sinken. „Wir werden eine weitere Begleitung bekommen." Er stieß ein Pfeifen aus, welches wohl über den gesamten Markt schallte. Diese Lautstärke wäre nicht nötig gewesen, denn Wechselflügler hatten ein sensibles Gehör, doch es unterstützte den dramatischen Effekt. Und als Krogans verwirrte Gesichtszüge langsam aber sicher entgleisten, wusste Viggo, dass es sich allein für diesen Anblick gelohnt hatte.

Immerhin ragte hinter ihm ein fünfzehn Meter langer Drache auf, von dessen knallroten Lefzen Säure tropfte und den Boden zischend zur Verätzung brachte.

Auf Viggos Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. „Habe ich dir Runna bereits vorgestellt?"

ClematisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt