Kapitel 32

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„Ihr seid zurück!", hörte Lova Nehemias begeisterten Schrei, kaum, dass sie im Hinterhof des alten Wirtshauses landeten. Das Mädchen stürmte durch die Tür und rannte barfuß auf sie zu, bis sie sich in Lovas Arme warf. „Ihr müsst mir alles erzählen", forderte sie, doch es klang lediglich dumpf durch das Hemd der Wikingerin hindurch. „Gab es dort Drachen? Und wo sind die Schätze?" Nehemia hielt es keine Sekunde länger in der Umarmung aus und wippte aufgeregt auf ihren Fußsohlen auf und ab. „Habt ihr mir was mitgebracht?"


Viggo und Lova wechselten einen wissenden Blick und nickten sich schließlich in stummer Einheit zu. Sie würden dem Mädchen nichts von dem Drachen oder den Unmengen von Gold erzählen, die in der Höhle warteten. Vermutlich würde die 12-Jährige sich dann in einer idiotischen Nacht und Nebel Aktion davonschleichen und wenn Adaja Glück hatte, würden von ihrer Tochter Knochen übrig bleiben, die sie beerdigen konnte. Nein, das war unter keinen Umständen eine Option, und das wussten sie beide. Sogar Viggo, der sich sonst nicht wirklich um die Sicherheit anderer sorgte, würde die Kleine nicht in diese Todesfalle tappen lassen. Er würde behaupten, es wäre wegen Adaja, deren Zorn nun wirklich niemand auf sich ziehen wollte, doch Lova wusste ziemlich sicher, dass er Nehemia zumindest ein wenig lieb gewonnen hatte.

„Es gab keinen Schatz", erklärte Louvisa also, während sie ihrem Drachen lobend auf den Hals klopfte. „Lediglich eine leere Höhle." Sie hob die freie Hand, in der noch immer einige blutige Glassplitter steckten. „Die Decke ist instabil, vermutlich sind die Händler hineingestürzt und hatten keinen Drachen, der sie retten konnte."

Nehemia verzog enttäuscht das Gesicht. „Ich hatte auf eine spannende Geschichte gehofft", murmelte sie, ehe sie nach Lovas Hand griff und sich fachmännisch die Verletzungen besah. „Das musst du behandeln lassen, aber Mama ist gerade beschäftigt." Nehemia zuckte die Schultern, der Schatz schien bereits wieder vergessen. „Wenn du willst, kann ich dir helfen." Sie machte Anstalten, Lovas Handgelenk zu packen und sie ins Haus zu ziehen, doch Viggo hielt sie mit einem höflichen Räuspern davon ab. „Ich versorge sie", sagte er und warf Lova im selben Atemzug einen fragenden Seitenblick zu.

Die Wikingerin nickte verstehend. Wenn Nehemia ihre Wunden untersuchte, würde sie möglicherweise doch noch etwas finden, was auf Drachen hindeutete – oder ihr würden die fehlenden Pfeile in ihrem Köcher auffallen, die sie ganz sicher nicht in einer einfachen Höhle zurückgelassen hätte. Es war auch nicht gerade unauffällig, dass die Splitter in ihrer Haut aus Glas waren und nichts aus Stein oder Holz, doch auch das hatte das Mädchen bisher nicht bemerkt. Immerhin verwendete man hier kaum Glas, das wäre also noch das geringste Risiko.

„Ich bin voll und ganz einverstanden", sagte sie und lächelte zu Nehemia herunter. „Du solltest dich auf deinen Auftritt heute konzentrieren, Kleine, nicht?"

Die Miene des Mädchens erhellte sich binnen weniger Sekunden, sie strahlte förmlich. „Das hatte ich ja völlig vergessen", sagte sie begeistert und tippte Viggo fordernd gegen die Schulter, damit er sich zu ihr herunterbeugte. „Wegen des Festes..." Ihre Stimme wurde mit jedem Wort ein wenig leiser, bis Lova nicht mehr in der Lage war zu verstehen, was Nehemia so fröhlich grinsend in Viggos Ohr flüsterte. Seine Gesichtszüge waren außerdem so freundlich-neutral wie eh und je, sodass nicht einmal das ihr wirklich Aufschluss gab. Dann, als hätte dieser seltsame Austausch nie stattgefunden, eilte Nehemia zurück ins Haus, dicht gefolgt von einer hungrigen Runna, die in der Küche des Wirtshauses den ein oder anderen Leckerbissen abstauben wollte. Ehe Lova sich versah, war sie ein weiteres Mal allein mit Viggo, der sie besorgt musterte.

„Ich hatte nicht gesehen, dass du verletzt bist", gab er zu, doch sie schob das mit einer beiläufigen Handbewegung beiseite. „Was hat sie dir gesagt?", fragte die Wikingerin, ohne auf seine Äußerung einzugehen. „Etwas über den Anlass ihres Auftrittes", sagte Viggo ausweichend und nickte auffordernd in Richtung des Hauses. „Lass uns reingehen, meine Liebe."

~

„Ich verstehe noch immer nicht, wieso du es plötzlich für eine gute Idee hältst, dieses Mal Nehemia zuzuhören, obwohl wir uns die letzten Wochen so gut wie möglich von der Öffentlichkeit ferngehalten haben", presste Lova zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während Viggo nach und nach die Glassplitter aus ihrem Handballen zog. Eine verdammt schmerzhafte Angelegenheit, da die meisten auch noch ziemlich tief in ihrer Haut steckten und sich nicht ohne weiteres entfernen ließen. „Du hast jedes Mal – autsch! - abgesagt, als sie dich gefragt hat." Sie sog scharf die Luft ein, als er mit ruhigen Händen ein besonders scharfkantiges Stück Glas aus ihrer Haut zog. Viggo dagegen ließ sich weder von ihren Fragen, noch von ihren Schmerzensbekundungen abhalten. Er saß seit sicher einer Stunde auf einem wackligen Hocker ihr gegenüber und gab sein Bestes, mit einer ziemlich primitiven Pinzette Splitter für Splitter zu entfernen. Obwohl er überaus behutsam vorging, schmerzte jede Berührung des Metalls an ihrer aufgeschürften Haut.

„Ich werde mich nicht für den Rest meines Lebens in einem Wirtshaus verstecken, Louvisa", entgegnete er und klang amüsiert. „Wenn Krogan uns weiterhin verfolgt, haben wir wenigstens Gewissheit, und falls nicht, ebenfalls."

„Kein ziemlich sicherer Plan", sagte Lova zwischen zwei mühsam unterdrückten, schmerzerfüllten Aufstöhnern. „Ein wenn zu viel für meinen Geschmack." Viggo lachte auf und sie spürte die Vibration seines Brustkorbes dicht an ihrem Körper. Da er sie verarztete, war er ihr natürlich näher, als es für ihre ohnehin schon flatternden Nerven zuträglich wäre. Dennoch bemühte die Wikingerin sich um Fassung, denn in seiner Sitzposition würde er ihren veränderten Herzschlag wohl sofort bemerken, falls er sich beschleunigte. Und es wäre nicht sonderlich schwer zu erraten, dass es seinetwegen wäre.

„Es ist auch nicht meine beste Taktik", gestand Viggo und griff nebenbei nach ihrer Hand, um sie nach weiteren Splittern abzusuchen. Seine Berührung war sanft, aber bestimmt und Louvisa versuchte verzweifelt, ihre Gedanken auf andere Dinge zu bringen – alles, bloß nicht dieses verdammte Gefühl, welches in seiner Nähe immer häufiger in ihr aufstieg. Das letzte Mal, dass sie etwas Vergleichbares empfunden hatte, war in ihrer Jugend gewesen und dort hatte es sich als idiotische Schwärmerei herausgestellt. Sie war nur ein Mädchen gewesen, die Liebe für ein wenig zu romantisch hielt. Lova hatte wirklich geglaubt, darüber hinausgewachsen zu sein. Hatten die letzten Jahre ihr nicht gezeigt, dass gefährlich war, jemanden zu lieben? Waren nicht alle, die ihr je etwas bedeutet hatten, tot? Hatte sie denn wirklich gar nichts daraus gelernt?

„Ist die Aussicht auf Nehemias Gesang wirklich so schrecklich?", fragte Viggo sie neckend und riss Lova damit unsanft aus ihren Gedanken. Sie räusperte sich verlegen und bemerkte jetzt erst, dass er ihre Hand losgelassen und sich zurückgelehnt hatte. Sein Blick lag auf ihr, doch sie konnte außer einem amüsierten Funkeln darin keine weitere Regung erkennen, die ihr sagen könnte, ob er ihre Gedanken möglicherweise erraten hatte.

„Nicht doch", sagte sie eilig und zog eilig ihre Hand zurück, die bis dahin Millimeter von seiner entfernt verharrt hatte. „Es ist nur... gibt es wirklich keine andere Möglichkeit, sich von Krogans Abwesenheit zu überzeugen?" Jetzt, wo Viggo ihr nicht mehr so nahe war und sie wieder klar denken konnte, war das tatsächlich eine ihrer größten Sorgen. Krogan war gefährlich, ohne Zweifel, und es stand ziemlich sicher nicht auf ihrer Agenda, ihm zu begegnen. Lova musste zugeben, dass sie diesen Mann und das, wozu er im Stande war, fürchtete.

„Es gibt sicher einige", sagte Viggo und zuckte die Schultern. „Doch eine ist gefährlicher als die andere." Die Wikingerin schnaubte und warf ihm einen zweifelnden Blick zu. „Ich weiß nicht", murmelte sie in sich hinein. „Das ist ziemlich riskant." - „Wenn du dich nicht in meiner Nähe aufhältst, wird er dich nicht erkennen, falls er es überhaupt tut", erklärte er ihr und es schien, als würde er versuchen, sie zu beruhigen. „Und was ist dann mit dir?", hakte Louvisa nach und legte skeptisch den Kopf schief. „Er hat dir bereits einmal gedroht, was hält ihn dieses Mal ab?"

„Die anderen Anwesenden", sagte Viggo gleichgültig, doch Lova wusste, dass er alles einkalkuliert haben musste, was schiefgehen konnte. Und das war leider eine ganze Menge. Sie sah natürlich ein, was er meinte; jede andere Möglichkeit war deutlich gefährlicher. Auf den Märkten waren schon oft Menschen verschwunden, die Umgebung um die Inseln war nicht weniger risikoreich und wenn Krogan ihnen wirklich folgte, würde er sie auch an jedem anderen Ort wiederfinden. Es war wirklich die sicherste Möglichkeit, ihn in Adajas Wirtshaus herauszufordern – nicht sicher genug, dass er einen Angriff nicht wagen würde, doch ausreichend bewacht, dass sein Versuch nicht ohne Folgen bleiben würde.

„Ich werde dich ihm sicher nicht wie auf dem Silbertablett servieren, Viggo", stellte Lova klar und stemmte die Arme in die Hüften. „Mit all deinem Wissen, deinem Talent und deinen Plänen wärst du in seinen Händen wohl das Todesurteil des Inselreiches. Wenn er dich durch irgendeinen idiotischen Zufall doch in die Finger bekommt, dann..."

Sie stockte, erst in dieser Sekunde wurde ihr bewusst, dass sein aufmerksamer Blick während ihres gesamten Ausbruchs auf ihr gelegen hatte. Eine winzige Spur Überraschung lag darin, ein versonnenes Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln. Lova kam ein weiteres Mal nicht umhin sich vorzustellen, wie seine Lippen sich auf ihren anfühlen würden. Diese Spannung zwischen ihnen, die die ihr beinahe die Luft zum Atmen abschnürte, während sie in seinen Augen versank, war ein Fluch und Segen zugleich. Sie fragte sich, ob das, was sie in seinem Blick sah, nur das war, was sie dort zu sehen begehrte.

„Dann?", fragte er nach, nicht annähernd so gefasst wie sonst. Oder war auch das nur ein weiterer Schein, den ihre Sinne ihr vorspielten?

„Dann würde ich wohl alle neun Welten in Bewegung setzen, um... Oh, ihr Götter", unterbrach sie sich fluchend, als ihr bewusst wurde, was sie da so unbedacht ausgesprochen hatte. Nervös fuhr Lova sich durch die Haare und betete, dass er nichts von den Gefühlen hinter ihren Worten ahnte. „Tut mir leid, das war unangebracht", entschuldigte die Wikingerin sich eilig und stieß ein unsicheres Lachen aus. „Ich will einfach keine Risiken eingehen."

„Das ist überaus charmant, meine Liebe", entgegnete Viggo und schenkte ihr ein Lächeln, welches ihre Knie weich werden ließ. Wann hatte er begonnen, eine solche Wirkung auf sie zu haben? „Ich hatte geglaubt, dass diese Beschreibung besser zu dir passen würde", kam es über Lovas Lippen, ehe sie sich beherrschen konnte, doch Viggo lachte nur leise. „Wie schmeichelhaft", gab er zurück „Es ist doch erstaunlich, wie gegensätzlich die Meinungen zweier Menschen sein können, nicht?" Mit diesen Worten ließ er die Pinzette mit einem endgültigen Klirren in die Schüssel voller Glassplitter fallen. „Ich bringe das runter zu Adaja, in Ordnung, meine Teure?" Viggo ließ ihr gar keine Zeit, zu antworten, sondern erhob sich und griff nach der hölzernen Schüssel. Lova dagegen hielt ihn am Handgelenk zurück und sah entschlossen zu ihm hoch.

„Warte, bitte."

Sie würde ihn kein zweites Mal einfach verschwinden lassen, ohne endlich Gewissheit zu haben. Sogar ein Blinder hätte mittlerweile gespürt, dass er ihrem Interesse an ihm nicht völlig abgeneigt sein konnte, all seine Gesten und Worte deuteten darauf hin, all die kleinen Andeutungen, die er hin und wieder in den Raum warf, seine Blicke und die Tatsache, dass er in der Höhle des Sandspuckers wohl sein Leben riskiert hatte, um sie wiederzufinden. Es war surreal, geradezu abstrakt, das konnte Lova nicht abstreiten, doch etwas in ihr begehrte ihn und wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als ihre Bitte zu wiederholen und zu erfahren, ob er ihr dieses Mal den Gefallen eines Kusses gewähren würde.

„Du kannst mich nicht schon wieder im Regen stehen lassen", stellte Lova klar und tippte ihm mit dem Zeigefinger ihrer freien Hand anklagend gegen die Brust. „Du hast es in der Höhle getan, damals in deinem Zelt nach deinem Gerede über das Schicksal und ich muss dich nicht an deinen plötzlichen Abgang am Tag unserer Ankunft hier erinnern, oder?" Sie trat einen Schritt näher zu ihm, um ihren Worten Ausdruck zu verleihen. „Jedes Mal hast du mich weggestoßen, machst aber dennoch diese Andeutungen, die sich kein vernünftig denkender Mensch erklären kann! Gib mir einmal in deinem Leben ein klares Zeichen und lass diese Anspielungen sein, denn mir liegt etwas an dir, bei den Göttern!" Lova unterbrach sich, ehe sie sich selbst völlig um Kopf und Kragen reden konnte. Viggos Blick hatte während ihrer gesamten Rede auf ihr gelegen, eine Mischung aus Überraschung, Unglaube und der unverkennbaren Wärme, die sie schon immer in seinen Augen gesehen hatte. Zum ersten Mal hinterfragte sie wirklich, ob er nur ihr diesen Ausdruck schenkte und für die meisten anderen Menschen stets nur der skrupellose, kalte Geschäftsmann blieb. Doch als seine Hand ihren Weg an ihre Taille fand und er sie näher zu sich zog, war ihr Kopf wie leergefegt.

„Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, wie du auf mich wirkst, meine Teure?", fragte Viggo sie und Lova spürte sein Herz dicht an ihrem Körper, wie es ein wenig schneller schlug, als es eigentlich sollte. „Nein", gab sie zurück und ein neckendes Funkeln blitzte in ihren Augen auf. „Erleuchte mich, Grimborn."

Er legte seine andere Hand an ihre Wange und hob so behutsam ihr Kinn, sodass nur noch wenige Zentimeter ihre Gesichter voneinander trennten, doch ehe ihre Lippen sich trafen, verharrte er. „Willst du das wirklich?", fragte Viggo leise und musterte sie aufmerksam, um jede mögliche, noch so kleine Änderung ihres Gesichtsausdruckes zu bemerken. Sie sah die Sorge in seinem Blick und legte beruhigend ihre Hand auf die seine. „Wirke ich so, als würde ich es nicht?", fragte Lova zurück und nickte zufrieden, als er langsam den Kopf schüttelte. „Mach dir keine Gedanken", bat sie ihn. „Ich bin erwachsen, Viggo. Ich kann mittlerweile auf mich aufpassen."

„Das habe ich nie bezweifelt", gab er zurück und rückte ein Stück von ihr ab. „Aber ich möchte nichts tun, was du später bereust." - „Du könntest es genauso bereuen", warf Lova ein und zuckte betont lässig die Schultern, doch der eindringliche Blick, den Viggo ihr zuwarf, jagte ihr eine angenehme Gänsehaut über den Rücken. „Ich glaube nicht, dass ich das würde", entgegnete Viggo und stieß überrascht die Luft aus, als Lova ihn daraufhin am Kragen seiner Tunika zu sich zog.

„Dann hab ein wenig Vertrauen in mein Urteilsvermögen", sagte sie entschieden, legte den Kopf leicht schräg und schloss die Augen. Sie spürte seinen Arm um ihre Hüfte, seine Hand an ihrer Wange. Ihre selbst gewählte, kurzzeitige Blindheit verstärkte ihre anderen Sinne und ließ sie jede noch so kleine Bewegung seinerseits wahrnehmen. Den leichten Luftzug, als er einen Schritt näher trat, seinen charakteristischen, doch zugleich undefinierbaren Duft, seinen Körper, der sich noch etwas dichter an ihren drängte.

Lova konnte ihre Herzen im gleichen, beschleunigten Takt schlagen hören, bis seine Lippen endlich auf die ihren trafen und sie in der sanften, süßen Berührung versank. Viggo schmeckte nach dem warmen Honigmet, der stets unten im Wirtshaus ausgegeben wurde, und nach dem verführerischen Reiz des Verbotenen. Das, zusammen mit der Aufregung und des Unglaubens wegen des unerwarteten Kusses brachten sie dazu, die Hand in seinem kurzem, dunklem Haar zu vergraben und ihn so noch dichter zu sich zu ziehen. Sie würde es niemals laut aussprechen, schon gar nicht ihm gegenüber – es würde seinen Hochmut ins Unermessliche steigern – doch sie liebte das Gefühl seiner weichen Lippen auf ihren. Lova hatte sich in ihrer alten Heimat den ein oder anderen Kuss gestohlen, und auch wenn sie keine ausschweifenden Eskapaden als Erfahrung vorlegen konnte, wusste sie doch, dass dieser Augenblick mit nichts vergleichbar war, was sie bisher erlebt hatte. Vielleicht waren es ihre Gefühle, die das hier so bedeutend erscheinen ließen. Lova wusste nur, dass keines dieser Experimente in Besenkammern oder nächtlichen Gassen, wie sie in jugendlichem Leichtsinn eben geschahen, jemals das in ihr ausgelöst hatte, was ihm in wenigen Sekunden gelungen war.

Ein genießerisches Seufzen verließ ihren verräterischen Mund und Lova spürte, wie Viggos Lippen sich zu einem amüsierten Lächeln hoben. Doch ehe er sich von ihr lösen konnte, um sie damit zu necken, vergrub die Wikingerin die Hand im Stoff seiner Tunika und vertiefte den Kuss. Dieses Mal war er es, der einen überraschten, aber zufriedenen Laut nicht zurückhalten konnte, was Lova ein selbstsicheres Funkeln in die Augen trieb. Nach der Leichtigkeit, mit der er sie an ihre Grenzen bringen und diese Anziehung zwischen ihnen so sehr verstärken konnte, dass Lova sie beinahe in Flammen stehen sah, war es nur fair, dass sie ihm diese kleine Genugtuung hatte nehmen können. Und wenn sie ganz ehrlich war; es gefiel ihr zu sehen, wohin sie Viggo bringen konnte, nachdem er sich dieses Spiel auch mit ihr erlaubt hatte.

Erst, als die Tür zum Gästezimmer mit einem Knarren aufgeschoben wurde, lösten die Beiden sich eilig voneinander und sahen erschrocken zu Nehemia herunter, die mit einem breiten Grinsen im Türrahmen stand. Das Mädchen schien nicht bemerkt zu haben, was sie gerade unterbrochen hatte, denn sonst hätte sie sich einen für sie absolut typischen Kommentar nicht verkneifen können. Dennoch hob sie skeptisch die Brauen, als ihr Blick auf Lovas gerötete Wangen und Viggos wirres Haar fiel.

„Störe ich?", fragte Nehemia, während Viggo seelenruhig seine Frisur richtete und Louvisa nur stumm betete, dass ihre Situation nicht zu verräterisch gewesen war. Es könnte besonders für sie verheerende Folgen haben, wenn jemals herauskam, dass das zwischen ihnen über eine rein geschäftliche Beziehung hinausging. Immerhin war Viggo nicht der beliebteste Mann im Inselreich und Nehemia konnte mit ihren 12 Jahren ganz sicher keine aufregenden oder sogar skandalösen Geheimnisse für sich behalten. Von der unmittelbaren Gefahr durch die Reiter einmal abgesehen, die jede seiner eventuellen Schwächen sicher liebend gern ausnutzen würden, war auch Krogan kein zu bestreitendes Risiko. Lova wollte lieber nicht herausfinden, wie weit ihr rätselhafter Feind noch gehen würde.

„Nicht doch", gab Viggo dennoch zurück. „Du störst nicht."

Lova zwang sich, ihre pessimistischen Gedanken fallenzulassen und ein Lächeln aufzusetzen. „Was willst du, Kleine?", fragte sie und fuhr dem lachend protestierenden Mädchen zur Begrüßung durch die schwarzen Haare. „Ich muss mit dir reden", antwortete Nehemia kichernd, wurde dann aber schlagartig ernst und stellte sich auf die Zehenspitzen, um Lova zuzuflüstern: „Es geht um die Feier heute Abend!"

Das freudige Funkeln in den Augen des Mädchens brachte die Wikingerin zum Lächeln. „Erzähl mir mehr", forderte Lova sie auf und Nehemias Grinsen wurde noch ein wenig breiter. „Kommt ihr denn dieses Mal wirklich-wirklich?", hakte sie nach und stieß triumphierend die Faust in die Luft, als Viggo und Lova nach einem kurzen Blickwechsel schließlich nickten. Auch wenn Lova noch immer skeptisch war, was die damit verbundenen Gefahren anging, so stimmte sie Viggo doch in einer Sache völlig zu: Sie konnten sich nicht ihr restliches Leben lang verstecken und alle Gefahren gut geschützt in Adajas Wirtshaus aussitzen.

„Ich brauche deine Hilfe mit meinem Haar", sagte Nehemia dann laut und sah flehend zu Lova hoch. „Mama hat keine Zeit dafür, sie bereitet das Wirtshaus für die Gäste vor und ich kann an diesem besonderen Tag nicht an so etwas banales denken wie Zöpfe flechten!"

„Du bist ein eitles Ding", entgegnete die Wikingerin amüsiert und sah über die Schulter zu Viggo, um ihm einen entschuldigenden Blick zuzuwerfen. „Aber ich helfe dir gern." Bei Nehemias ohrenbetäubenden Jubel hätte sie wohl fast ihr Gehör verloren, doch ehe sie das Mädchen bitten konnte, ein wenig leiser zu sein und sich zu beruhigen, packte Nehemia Lova am Handgelenk und zog sie mit hüpfenden Schritten zur Tür. „Du bist großartig, Louvisa", stellte das Mädchen klar und schenkte der Wikingerin ein ganz besonderes Lächeln.

„Das ist sie wirklich", hörte Lova plötzlich Viggos Stimme, seine Lippen dicht an ihrem Ohr. Es jagte ihr eine angenehme Gänsehaut über den Rücken, während sie sich um eine neutrale Miene bemühte. Es wäre auffällig, wenn sie sich auf einmal sichtlich von seinen gelegentlichen Komplimenten beeinflussen ließ. Immerhin gab es noch keinen Begriff, der beschreiben konnte, was das zwischen ihnen war. „Danke", entgegnete Lova also, so unbeteiligt wie möglich, obgleich das warme Gefühl bei seinen Worten in ihrem Bauch sie Lügen strafte. „Und du bist ein Schmeichler."

„Charmant wie eh und je", raunte Viggo in ihr Haar. „Dabei würde ich all mein Gold darauf verwetten, dass es dich nicht annähernd so kalt lässt, wie du gerade vorgibst, meine Liebe."

Er sprach leise genug, dass Nehemia ihn nicht verstehen konnte, doch Lova verfluchte ihn dennoch dafür, dass er ihre Knie weich werden ließ. War es zu viel verlangt, dass er ihr Herz einmal nicht zum Höherschlagen brachte? Sie hoffte nur, dass sich dieses Mal kein verräterisches Rot auf ihre Wangen schlich. Doch der Hitze nach zu urteilen, die ihr ins Gesicht stieg, war es dafür zu spät.

Nehemia musterte sie misstrauisch, ehe sie die Augen zusammenkniff und langsam nickte. Offenbar hatte sie ihr finales Urteil zu der Situation gefällt, denn das Mädchen zog Lova am Handgelenk durch die offenstehende Tür und winkte Viggo im Hinausgehen zu. „Wir sehen uns später", erklärte sie begeistert nickend und hob dann drohend den Zeigefinger. „Und denk gar nicht erst darüber nach, nicht aufzutauchen. Ich habe Lova als Druckmittel!" Mit diesen Worten zog das Mädchen die Wikingerin wie ein Schutzschild vor sich, bis nur noch ihr dunkler Haarschopf hervorlugte. „Wie überaus eindrucksvoll", entgegnete Viggo mit hochgezogenen Brauen, während Lova ihm ein entschuldigendes Lächeln schenkte.

Nehemia dagegen lachte nur und machte Anstalten, ein weiteres aufregendes Manöver zu vollführen, bis Lova sie entschieden am Kragen packte und ohne große Anstrengung zurückhielt. „Hey!", beschwerte das Mädchen sich und verzog das Gesicht. „Nicht fair!"

„Willst du zu spät zu deiner eigenen Aufführung kommen?", fragte Lova unbeeindruckt und Nehemia schüttelte eilig den Kopf. „Niemals!", sagte sie erschrocken. Die Wikingerin verdrehte amüsiert die Augen und schickte das Mädchen vor, um noch ein, zwei Worte mit Viggo wechseln zu können.

„Pass auf dich auf", murmelte sie und griff nach seiner Hand. Wie von selbst verschränkten sich ihre Finger miteinander, hielten einander fest, als würde ihre Welt ohne diese Geste aus den Fugen geraten. Und vielleicht war dem auch so, denn sonderlich viel Halt hatte man ihnen nicht gelassen. „Wenn du mir dasselbe versprichst", entgegnete Viggo und ihr Blick fand den seinen. Ein schiefes Lächeln schlich sich auf seine Lippen, und obwohl dieses Gespräch keinen sonderlich romantischen Hintergrund hatte, wünschte sie sich bei dem Anblick dennoch, ihn erneut zu sich herunterziehen zu können, um sich einen Kuss zu stehlen. Vielleicht würde ein anderes Mal dafür Zeit bleiben, irgendwann, wenn sie nicht in Problemen ertranken und sie Klarheit in ihre Gefühle für ihn gebracht hatte. Vielleicht auch in einem weiteren unbedachten, verstohlenen Moment wie diesem. Sicher war, dass sie das Gefühl, welches seine Lippen auf ihren in ihr auslösten, nicht wieder missen wollte.

„Warte ab mit den risikoreichen Aktionen, bis ich wieder an deiner Seite bin, ja?", sagte Lova noch, ehe sie mit schnellen Schritten und noch schnellerem Herzschlag hinter Nehemia her eilte und seinen intensiven Blick in ihrem Rücken spürte.

Doch kaum war das Glücksgefühl abgeklungen, fragte sie sich, ob sie gerade ihr Leben aufs Spiel setzte für etwas, dass sie alles kosten könnte.

ClematisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt