Lovas Sicht war verschwommen, als sie zu dem Ursprung der Stimme herumfuhr, die ihren Namen gerufen hatte. Vor ihrem inneren Auge sah sie noch immer die ausgefransten Ränder der Wunde an Runnas Hinterkopf und all das Blut, welches sich um ihre Schnauze herum sammelte. Doch das, was wirklich vor ihr geschah, war kaum weniger schrecklich und hätte ebenfalls direkt aus ihren schlimmsten Albträumen stammen können.
Sie sah, wie Viggo sich nur mühsam an dem glatten Gold riesigen Statue halten konnte, wie seine Hände an dem Metall abrutschten und er all seine Kraft in das letzte bisschen Halt legen musste, um sich nicht bei einem Fall aus fünf Metern Höhe das Genick zu brechen. Doch Lova wusste aus eigener Erfahrung, wie schnell man in einer solch riskanten Lage ins Schwitzen geriet – was sich in dieser Situation schnell als tödlich herausstellen würde. Und als wäre all das nicht genug, war da auch noch der Sandspucker, der sich nun auf den wehrlosen Viggo stürzte. Lova blieben nur wenige Sekunden, um zu handeln, ehe sie den berüchtigten Anführer der Drachenjäger nur noch als toten Mann wiedersehen würde.
Sie wusste nicht, ob sie richtig entschied oder auch nur logisch handelte, als sie einen ihrer Pfeile aus dem Köcher zog und den Bogen spannte. Es könnte die falsche Entscheidung sein, und damit auch Viggos Tod. Lovas Finger zittern, als sie zum Zielen die Augen zusammenkniff. Ihre Chance zu treffen war so niedrig wie nie, denn ihre Haut schweißnass war und ihre Hände bebten vor Anspannung, doch glücklicherweise war ihr Ziel ein ziemlich großes. Sie schloss die Augen, ein stummes Gebet an Freyja, die Göttin des Glücks richtend. Wenn sie es wollte, würde Lova ihr Ziel finden.
Ihre Pfeile stammten von einem der Stände auf den Marktinseln und waren, im Gegensatz zu den zerbrechlichen Geschossen der Jäger, nicht auf das bloße Betäuben eines Drachen ausgerichtet, sondern auf das Töten. Sie dienten dazu, die Händler und ihre Familien gegen mögliche angreifende Drachen zu verteidigen und waren selten von Nöten. Diese Pfeile verfügten über einen deutlich dickeren und damit auch stabileren Schaft samt einer messerscharfen, verlängerten Spitze, die sich selbst durch die robustesten Schuppen bohrte. Von den Jägern wurden sie nicht eingesetzt, denn ein toter Drache verlor natürlich an Wert. Lova hatte sich dennoch entschieden, zu ihren üblichen Pfeilen auch einige dieser Exemplare zu ihrem Köcher hinzuzufügen, obwohl sie deswegen auf einen Langbogen hatte umsteigen müssen. Lova konnte nur hoffen, dass ihre Fähigkeiten sie nicht in diesem bedeutenden Moment im Stich ließen – sie wagte es kaum, der Flugbahn ihres Geschosses mit den Augen zu folgen.
Natürlich tat sie es dennoch.
Louvisa hätte nie mit der Wirkung gerechnet, die der Pfeil erzielen würde, robust oder nicht. Er glitt wie geplant nur knapp an dem Sandspucker vorbei und verwirrte den Drachen somit ein weiteres Mal, was Viggo kostbare Sekunden verschaffte. In diesen Sekunden fand auch ihr Pfeil sein Ziel, bohrte sich in die goldene Statue und entließ eine Wolke weißen Staubes aus dem Inneren. Er steckte nur einen halben Meter unter Viggos Stiefeln und würde dem Mann erlauben, auf dem Holzschaft sicheren Halt zu finden.
„Viggo!", rief sie ihm zu und spannte bereits den nächsten Pfeil in ihren Bogen. Ihre Blicke trafen sich, er sah sie fragend an. Selbst aus dieser Entfernung erkannte sie die mühsam unterdrückte Angst in seinen Augen. „Unter dir!"
Er ließ die Statue endgültig los, ohne wirklich hinzuschauen und kam auf dem Schaft zum Stehen, als Lova gerade den zweiten Pfeil direkt unter seine Füße in den Bauch der Statue schoss. Erneut stieg weißer Nebel auf und sprenkelte auch Viggos schwarze Tunika, doch die Wikingerin erkannte nichts als Erleichterung in seinen Augen. Sie wusste nicht, ob er gerade in diesem Augenblick endgültig abgerutscht war oder ihr tatsächlich blind vertraut hatte, doch lange würde sie nicht darüber nachdenken können, denn der Sandspucker war noch immer ihr größtes Problem. Mit einem grimmigen Lächeln spannte Louvisa erneut ihren Bogen und hoffte, dass Freyjas Segen noch einen Augenblick länger anhalten würde.
„Hat dieses Biest irgendwelche Schwachstellen?", schrie sie fragend zu Viggo hoch, ohne zu wissen, ob er auch dieses Mal über irgendeine geniale, lebensrettende Information verfügte. Falls nicht, wäre die entblößte Haut des Drachen womöglich ein ausreichendes Ziel, um ihn zu vertreiben. Doch ob es ausreichen würde, stand in den Sternen. „Der Sandspucker verabscheut nichts mehr als Sonnenlicht", entgegnete Viggo angespannt, während seine Hände an der glatten Statue nach Halt suchten. „Außerdem horten sie genau wie Qualmdrachen gigantische Schätze, doch ich weiß nicht, zu welchem Zweck."
Der grüne Drache entschied sich, ihnen eine Kostprobe seiner Feuerkraft zu geben; er legte den Kopf in den schlangenähnlichen Nacken und überzog die Löcher, die Runnas Säure in die Höhlendecke geätzt hatte, mit der erhitzten Form des blauen Gesteins, welches man hier überall vorfand. Dann stieß er ein tiefes Knurren aus und starrte mit rauchenden Nüstern direkt in Lovas Augen, die Zähne gefletscht und die Krallen tief in den Fels unter seinen Füßen gegraben. Sein blutiger Rücken bebte unter seinen schweren Atemzügen und nun, wo er die Außenwelt von ihnen abgeschnitten hatte, erfüllte der Gestank von verbranntem Fleisch die Luft. Doch all das reichte kaum an die Gänsehaut heran, die über Lovas Rücken lief, als sie die Wut und den Hunger in seinem Blick sah.
Mit zitternden Händen spannte die Wikingerin ihren Bogen, doch die Aufregung machte ihr jede Chance darauf zunichte, ihr Ziel zu treffen. „Götter", murmelte sie und spürte, wie kalter Schweiß über ihren Rücken rann, während ihre bebenden Glieder sie kaum zu tragen vermochten. „Ich könnte wirklich einige Infos mehr gebrauchen, Viggo."
Sie konnte ihren Satz kaum beenden, da spie der Sandspucker einen erneuten Schwall Feuer hervor und hätte sie bei lebendigem Leibe verbrannt, wenn Lova sich nicht mit einem Hechtsprung hinter einen Berg Münzen gerettet hatte. Unsanft kam sie auf dem harten Boden zum Liegen und schürfte sich die Wange auf. Der plötzliche Schmerz schaffte es, ihre Sinne zu schärfen und jagte erneut Adrenalin durch ihren Körper. Lova wurde jetzt erst bewusst, wie erschöpft sie vorher gewesen war, und wie sehr die Ereignisse an ihren Nerven zerrten. Mühsam zwang sie sich wieder auf die Füße und tastete vorsichtig über ihr geschundenes Gesicht. Ein dünner Film Blut, Dreck und Schweiß blieb an ihren Händen kleben, doch sie hatte keine Zeit, sich wegen kleiner Wunden den Kopf zu zerbrechen.
Eilig hob die Wikingerin ihren Bogen vom Boden auf und angelte einen weiteren Pfeil aus ihrem Köcher, der mittlerweile beunruhigend leer erschien. Zwei ihrer besten Geschosse steckten in dieser elendigen Statue, eins zierte den Gaumen des Sandspuckers und einige musste sie bei ihrem Sprung in Sicherheit verloren haben. Ein leises Fluchen entkam ihren Lippen, ehe Lova frustriert den Kopf schüttelnd ihre Deckung aufgab und damit den toten Winkel des Drachen ausnutzte. Sie sah, wie seine Nasenflügel bebten, um ihren Geruch wiederzufinden, doch für einen Augenblick könnte sie seine Verwirrung gegen ihn einsetzen.
Mit dem Hauch eines Grinsens spannte sie ihren Bogen erneut und visierte ihr Ziel an – das wild umherirrende Auge des Drachens, welches verzweifelt nach ihr suchte, sie aber nicht fand. Lova dagegen legte alle Konzentration, die sie aufbringen konnte, auf den Sandspucker. Ihr Körper war ebenso gespannt wie die Sehne ihres Bogens, als sie den Pfeil noch ein wenig weiter nach hinten zog und die Position seiner Spitze um wenige Millimeter korrigierte. Dann lockerte sie langsam, Finger für Finger und machte sich, so aufmerksam wie noch nie, bereit zum Schuss.
„Ziel auf die Höhlendecke, Lova!", Viggos Schrei ließ sie erschrocken zusammenzucken und ruinierte ihren Schuss. Nutzlos landete der Pfeil im Dreck und verriet zusätzlich dem Sandspucker ihren Standort.
„Bist du wahnsinnig?", schrie die Wikingerin zurück und rannte los, um noch rechtzeitig hinter einem der hunderten Schätze in Deckung zu gehen, ehe der Drache erneut gläsernes Feuer auf sie schoss. Scherben und Splitter verfingen sich in ihrem Haar und bohrten sich in ihre Handflächen, als sie das Gleichgewicht verlor und atemlos zu Boden sank. Ihr wurde schwindelig, als sie das Blut sah und das Knirschen des Glases unter ihrer Haut vernahm. Wäre sie auch nur einen halben Meter näher an dem todbringenden Maul des Drachen gewesen, hätten die scharfen Felskanten ihren Körper durchstoßen.
„Das Glas", entgegnete Viggo und deutete nach oben. „Die Decke besteht lediglich aus Glas. Es wird brechen, wenn wir Glück haben." - „Wenn wir Glück haben", wiederholte Lova und stemmte sich schwer atmend wieder auf die Füße. Ihre Handballen schmerzten von den Scherben, die darin steckten, doch sie nahm dennoch den letzten Pfeil aus ihrem Köcher. „Eine bessere Motivationsrede hast du nicht im Angebot?"
Sein Lachen brach ihre Anspannung. „Meine hochverehrte Louvisa, ich bin der vollsten Überzeugung, dass du zu den wenigen Kriegern gehörst, die in diesem Fall tatsächlich noch eine Chance haben", gab er zurück. „Doch du verspielst diese mit jeder Sekunde ein wenig mehr, meine Liebe."
Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte Lova ihn einen Idioten geschimpft, doch so spannte sie lediglich hastig ihren Bogen und wich einem erneuten Schuss des Sandspuckers aus, indem sie sich mit einer geschickten halben Drehung aus der Gefahrenzone brachte. Dann holte sie allen Schwung aus ihrem Langbogen heraus, der ihr eben möglich war, visierte mit ihrer Pfeilspitze den Mittelpunkt der Höhlendecke an und betete, dass das Glas dort wie gedacht am zerbrechlichsten sein würde. Ohne eine funktionierende Kettenreaktion würde sie niemals genügend Licht in die Höhle bringen, um dem Drachen ernsthaft zu schaden.
„Freyja, Göttin des Glücks, lenke ein weiteres Mal meinen Weg und schenke mir Kraft", murmelte Lova lautlos zu sich selbst und hob stolz das Kinn. Wenn sie nicht traf, würde sie wenigstens wissen, dass ihr Tod dem Willen der Götter unterlegen hatte und somit unvermeidlich war. Mit angehaltenem Atem und unüberhörbar laut gegen ihre Rippen schlagendem Herzen ließ sie den Pfeil los, während sie Stoßgebet um Stoßgebet an jeden Gott richtete, der ihr einfallen wollte.
Doch trotz allem stummen Flehens und ihres Vertrauens in die Götter wagte Lova es nicht, hinzusehen. Ihre Zukunft, Viggos und auch Runnas hingen an einem dünnen Stück Holz mit einer metallenen Spitze, dessen Erfolg nicht einmal garantiert war. Wenn die Wikingerin statt Glas Fels oder einen der milchig-blauen Stalaktiten getroffen hätte, wäre ihr Leben verwirkt.
Gleißend helles Licht flutete die Höhle, als in der Sonne funkelnde Scherben auf Louvisa herabregneten und ihr dunkles Haar weiß aufleuchten ließen. All das Gold um sie herum schimmerte und strahlte, reflektierte das Licht und ließ die Höhle noch ein wenig heller erscheinen. Wasserfälle aus Sand brachen an den felsigen Rändern von oben über sie herein und vervollständigten das Bild. Es war so wunderschön, dass ihre Sorgen kurz in den Hintergrund traten und ihre Augen diesen Moment auskosteten, gierig nach dem Gefühl der Euphorie und des Glücks, die ihr Erfolg in Lova auslösten.
Einzig der gequälte Schmerzensschrei des Sandspuckers trübte das Bild der reinen Schönheit, doch wenn die Wikingerin ehrlich war, empfand sie nichts als Erleichterung darüber, diesen Drachen endlich geschlagen zu haben. Auch wenn er wieder und wieder versuchte, sein Dach aus Glas wiederherzustellen, scheiterte er doch an dem schieren Ausmaß der Zerstörung, den Lovas Pfeil angerichtet hatte. Sie sah, wie er ein dunkles Grollen ausstieß und schließlich den Kopf senkte, dessen grüne Schuppen bereits verbrannt waren und seine empfindliche Haut offenbarten. Dann tauchte er im Sand unter, verschwand und ließ lediglich einige übrig geblieben Stalagmiten aus Glas zurück.
Wäre es nach Lova gegangen, hätte sie sich jetzt einfach in eine der Sanddünen fallen gelassen und geschlafen, bis der Schmerz in ihrem Körper abgeklungen wäre, doch das konnte sie nicht. Einmal könnte natürlich der Sandspucker zurückkehren, Viggo würde sich nicht mehr lange an der Statue halten können und Runna war schwer verletzt, ihr Überleben lag in den Händen der Götter.
Erschöpft humpelte die Wikingerin zu Viggo herüber und sah zu ihm hoch. Ihre Pfeile bogen sich bereits unter seinem Gewicht, es würde nicht mehr lange dauern, bis sie brachen. Dort zu verharren war für ihn also keine Option. Dennoch nickte er ihr anerkennend zu, als er sie entdeckte.
„Meine Liebe, du hast all meine Erwartungen ein weiteres Mal übertroffen", sagte Viggo und schenkte ihr ein Lächeln, welches ihr Herz ein wenig höherschlagen ließ. „Ich bin überaus beeindruckt." Lova schimpfte sich eine Idiotin, weil seine Worte einen solchen Einfluss auf sie hatten. „Spring", entgegnete sie knapp, ohne auf sein Kompliment einzugehen. „Es sei denn, du willst aus fünf Meter Höhe fallen und auf dem Steinboden aufkommen, wenn die Pfeile zerbrechen." Seine Augen weiteten sich. „Daran habe ich keinerlei Interesse", entgegnete er und warf ihr einen zweifelnden Blick zu. „Aber was ändert sich an der lebensbedrohlichen Situation, wenn ich jetzt freiwillig in meinen Tod springe?" - „Ich fange dich auf", antwortete Lova und streckte zur Verdeutlichung die Arme aus. „Du bist dir bewusst, dass ich größer und vor allem schwerer bin als du, meine Teure?", fragte Viggo belustigt und schüttelte dann den Kopf. „Es muss einen anderen Weg geben."
„Mir sind die fliegenden Drachen ausgegangen", sagte sie trocken und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, sich zu beeilen. „Und Pfeile habe ich auch nicht zur Verfügung."
Mit einem Knacken brach der erste Schaft in zwei Teile und ließ Viggo auf einem Stück Holz zurück, welches kaum breiter war als zwei seiner Finger. Dass auch der zweite Pfeil nicht mehr lange halten würde, war erschreckend logisch und seinem geschockten Blick nach zu urteilen, war es auch ihm voll und ganz bewusst.
„Spring einfach", forderte Lova ihn auf und betete, dass man die Angst in ihrer Stimme nicht hören konnte. „Das ist die einzige Chance, die du gerade hast."
Sie sah, wie er mit sich rang, das Für und Wider abwägte und sich schließlich entschied, ihr zu vertrauen. Als er tief Luft holte, um sich für den Sprung bereitzumachen, schallte ein erneutes, hölzernes Knacken durch die Höhle und kaum verließen seine Stiefel den Pfeil, zerbrach auch dieser. Eine Sekunde später und Viggos Tod wäre besiegelt gewesen.
Ein erleichtertes Seufzen schlich sich über ihre Lippen, als sie seinen geplanten und ausbalancierten Fall beobachtete. Wäre er gestürzt, hätte er aus dieser Höhe nicht beeinflussen können, ob er auf den Füßen (schmerzhaft, aber nicht lebensbedrohlich) oder auf dem Rücken, Bauch oder Kopf (alles ziemlich sicher mit tödlichem Ausgang) gelandet wäre. So musste Louvisa nur einige Schritte nach hinten eilen, um ihn schließlich an der Hüfte abzufangen und seinen Aufprall zu verhindern, ehe seine Füße auch nur den Boden berührten. Womit sie allerdings nicht gerechnet hatte, war der Schwung, der sie unvermeidbar stolpern und unsanft auf dem Rücken landen ließ, dicht gefolgt von Viggo, der mit ihrem unerwarteten Sturz ebenfalls das Gleichgewicht verlor. Im Gegensatz zu ihr konnte er sich mit seinen Händen gerade noch rechtzeitig rechts und links neben ihren Schultern abfangen und somit verhindern, mit seinem vollen Gewicht auf ihr zu landen. Dennoch war sein Gesicht nur eine Armlänge von ihrem entfernt und sie spürte seine Taille dicht an ihrer Hüfte, auch wenn er sich bemühte, seinen Körper von ihrem fernzuhalten.
Lova räusperte sich. „Das war nicht mein Plan", sagte sie verlegen, während ihr Hitze in die Wangen stieg. Sie konnte sein Herz hören, wie es wegen des Sprungs vor Aufregung ein wenig lauter und schneller schlug, während er zu ihr heruntersah, ohne eine andere verräterische Regung zu zeigen. „Zu schade", entgegnete Viggo amüsiert. „Ich dagegen hätte beinahe darauf gehofft."
Ehe sie etwas erwidern konnte, schob er sich von ihr herunter und erhob sich, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. Mit einem nichtssagenden Lächeln klopfte er sich Staub und Gips von seiner Tunika, während Lova sich mit unverkennbar geröteten Wangen erhob und um ihre Fassung kämpfte. „Wir müssen hier weg", sagte sie schließlich, als sie ihr wirres Haar zu einem einfachen Zopf flocht, um ihren aufgewühlten Geist zu beruhigen. „Wenn der Sandspucker zurückkehrt, werden wir uns kein zweites Mal verteidigen können." Sie versuchte, sich mit einem neutralen Gesprächsthema aus ihrer Verlegenheit zu retten, und glücklicherweise ging Viggo darauf ein.
„Ist dein Drache flugfähig?", fragte er und Lova warf der noch immer reglos am Boden liegenden Runna einen besorgten Blick zu. „Ich weiß es nicht", gab sie zu. „Sie sah schlecht aus, als ich sie vorhin gesehen habe." Sie wagte es kaum, zu ihrem Drachen zu treten und sich ihren Gesundheitszustand genauer anzusehen. Was, wenn sie bereits tot war? Sie würde es nicht ertragen, Runnas leere, grüne Augen sehen zu müssen, die dann nie wieder den Himmel erblicken könnten, den der Wechselflügler so sehr liebte. Was, wenn sie nie wieder ihr belustigtes Glucksen hören konnte oder ihr Schnurren, wenn man den Drachen an ihrer Lieblingsstelle kraulte?
Die Wikingerin trat unsicher von einem Bein auf das andere, weder fähig, zu Runna zu gehen, noch in der Lage, stillzuhalten. Sie spürte Viggos fragenden Blick auf sich, konnte jedoch auch nicht den Mut aufbringen, ihn zu erwidern. „Du musst zu ihr, wenn du sie nicht hier zurücklassen willst, Lova", hörte sie ihn sagen. Seine Worte verstärkten nur den Griff der eisigen Krallen um ihr Herz. Es war keine Option, den Wechselflügler zurückzulassen, war es nie gewesen, doch auch ihren Tod bestätigt zu sehen, würde sie nicht ertragen.
„Was, wenn sie tot ist?" Lova brachte die Frage kaum über die Lippen, doch sie wusste auch, dass jede Sekunde, die sie gerade verschwendete, ein Spiel um ihr eigenes Leben war.
Viggos Hand fand ihren Weg an ihre Wange und brachte sie sanft dazu, den Kopf zu heben und zu ihn anzusehen. Die Wärme seiner Haut an ihrer gab ihr ein wenig Sicherheit zurück, auch wenn ein Blick in seine Augen all ihre Gefühle wieder durcheinander warf. Seine vernarbte Gesichtshälfte mit dem erblindeten, grauen Auge erinnerte sie daran, dass sie ihn beinahe verloren hätte, wenn Runna nicht gewesen wäre. War sie jetzt im Gegenzug dazu verdammt, ihren Drachen zu verlieren?
„Lova", sagte Viggo eindringlich und zwang sie so, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. „Dem Drachen..." Er unterbrach sich und Louvisa sah, wie er mit sich rang. „Runna wird es gut gehen. Drachen sind robuster als Menschen, das solltest du doch mittlerweile wissen." Seine kleine Stichelei und seine aufmunternden Worte schafften es, ein hoffnungsvolles Lächeln auf ihre Lippen zu bringen. „Ich weiß", entgegnete sie leise und wischte sich mit dem Handrücken Blut, Dreck und unbewusst vergossene Tränen von der Wange. „Aber danke für die Erinnerung."
Viggo lächelte schief, ehe er seine Hand von ihrer Wange zurückzog und die Arme hinter dem Rücken verschränkte. „Dann geh zu ihr, meine Liebe", gab er zurück und räusperte sich, als wollte er seine Gedanken klären. Lova bemerkte es nur zu deutlich, sagte aber nichts. Möglicherweise bereute er es, ihr ein weiteres Mal so nahe gekommen zu sein, obwohl das nicht mit seinem Verhalten vor wenigen Augenblicken übereinstimmte. Sie schüttelte entschieden den Kopf, ehe sie sich in haltlosen Vermutungen verlor, und ging mit festen Schritten auf Runna zu.
Ihr Drache lag noch immer am Boden, doch ihr hellrot-geschuppter Bauch hob und senkte sich in einem regelmäßigen Rhythmus. Lova sank neben ihr auf die Knie und besah sich die Wunde am Hinterkopf des Wechselflüglers. Geronnenes Blut klebte daran, doch es trat kein frisches mehr aus. Was ihr vorhin noch wie ein dunkelroter See erschienen war, war mittlerweile zu einigen getrockneten, violett-roten Flecken zusammengeschrumpft. Als sie prüfend die Wundränder abtastete, bemerkte sie ebenfalls nichts Beunruhigendes.
„Ihr Zustand scheint stabil zu sein", sagte Lova und war dankbar dafür, dass sie Viggo gerade den Rücken zuwandte, denn Tränen der Erleichterung fanden ihren Weg über ihre Wangen. „Bei den Göttern...", murmelte sie. „Ich habe genug von allen Abenteuern, für den Rest meines Lebens." Mit diesen Worten schlang sie die Arme um Runnas Hals und ließ den Kopf gegen ihre warme Stirn sinken. „Wenn Viggo das nächste Mal unbedingt einen Schatz suchen will, verzichte ich dankend", versprach die Wikingerin ihrem Drachen mit gesenkter Stimme.
„Wie schade", erklang Viggos Stimme direkt hinter ihr, und beinahe hätte sie eine neckische Antwort gegeben, wenn Runna nicht in ebenjenem Moment mit ihrer feuchten Zunge über ihre Wange gefahren wäre und sie somit endgültig von ihrem guten Zustand überzeugt hätte. Lova stieß einen spitzen Freudenschrei aus, ehe sie von ihrem Drachen in eine Umarmung gezogen wurde und nur noch Runnas Zunge spürte, die ihr begeistert über Haar und Gesicht leckte, als könnte auch der Drache kaum glauben, ihre Reiterin endlich wiederzuhaben.
„Das ist meine Kleine", sagte die Wikingerin, als sie ihrerseits die Arme um den Wechselflügler schlang und befreit auflachte. „Ich bin so unglaublich froh, dich zu sehen, Runna."
Der Drache schob ihre Reiterin vorsichtig von sich weg, um sie zu begutachten, ehe sie Lovas Unversehrtheit bemerkte und zufrieden gurrte. Die Wikingerin tippte ihr im Scherz gegen die Schnauze, als sie sich wieder erhob. „Ich hab' dich auch vermisst", murmelte sie leise, damit Viggo sie nicht hören konnte. „Mach nie wieder solche Alleingänge." Der Wechselflügler nickte und schmiegte ihren Kopf vertrauensvoll an Lovas Halsbeuge. Die Vibration ihres Schnurrens drang durch den Körper der Wikingerin und hatte eine nahezu magisch beruhigende Wirkung auf sie.
„Irre Aktionen gibt's nur noch im Team, verstanden?", flüsterte Lova ihrem Drachen ins Ohr, ehe sie sich sanft von ihr löste und Viggo ein Lächeln schenkte. „Bereit zum Aufbruch, Grimborn?", fragte sie und deutete einladend auf Runna.
Viggo verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. „Ich werde nie verstehen, was du an einem Ritt auf ihrem Rücken findest", erklärte er, ließ sich aber dennoch von Lova auf den Wechselflügler helfen, ehe die Wikingerin sich elegant auf ihren Drachen schwang und ihm bedeutete, sich an ihrer Hüfte festzuhalten. „Es geht um Freiheit", erklärte sie freimütig und hoffte, dass er nicht bemerkte, wie seine Berührung ihr Herz einen Takt aussetzen ließ, bis sie sich an die Wärme seiner Haut gewöhnt hatte.
„Freiheit?", fragte Viggo, als Runna sich mit kräftigen Flügelschlägen in die Lüfte erhob und auf das Sonnenlicht zuflog, welches noch immer durch das Loch in der Höhlendecke drang und all die Schätze beleuchtete, welche die Beiden notgedrungen hier zurückließen. Die Gefahr, dass der Sandspucker zurückkehren könnte, sobald sie sich über sein Gold hermachten, war zu groß, um dafür erneut ihr aller Leben zu riskieren.
Lova nickte bestätigend. „Die Freiheit, zu gehen wohin ich will, auf niemanden angewiesen zu sein und zu wissen, dass niemand mich in Ketten legen kann, solange ich auf ihrem Rücken bin."
„Freiheit bedeutet dir mehr als alles andere, nicht?", hakte er mit unverhohlener Neugier in der Stimme nach. Sie würde behaupten, noch etwas anderes heraushören zu können, doch allein der Gedanke daran war so absurd, dass sie ihn sofort verwarf. Ihre eigenen Gefühle mussten wirklich erbärmlich sein, dass sie ihr so etwas vorspielten.
„Nahezu", gab sie kurz angebunden zurück.
„Nahezu?", fragte Viggo und sie konnte seine hochgezogenen Brauen beinahe vor sich sehen, gemeinsam mit seinem typischen Lächeln. „Was könnte bedeutender sein als die Freiheit?"
Lova konnte nicht ganz beurteilen, ob er sie lediglich necken wollte oder aus echtem Interesse fragte, denn beides wäre möglich und würde sie kaum verwundern. „Einiges", entgegnete sie deshalb ausweichend und strich Runna lobend über den Hals, um ihren unruhigen Händen eine Beschäftigung zu geben. Wenn sie ehrlich war, brachten Viggos Nachfragen und die Tatsache, dass sie seinen Körper dicht an ihrem spüren konnte, ein wenig aus dem Konzept. Beinahe war sie versucht, ihre Bitte von jenem Tag zu wiederholen, der ihr nur zu gut in Erinnerung geblieben war, doch Lova wusste selbst, dass das völlig idiotisch wäre. Sie war immerhin keine Teenagerin mehr und er hatte ihr deutlich gezeigt, dass er kein Interesse an ihr hatte. Natürlich konnte man seine Reaktion auf verschiedene Arten interpretieren, doch im Grunde war seine Antwort mehr als eindeutig gewesen.
„Einiges?", wiederholte Viggo nach einiger Zeit fragend.
„Du stellst ungewöhnliche viele Fragen", gab Lova nur zurück, während sie Runna gekonnt eine scharfe Kurve fliegen ließ und ihn damit zumindest für einen Augenblick zum Schweigen brachte, damit sie sich sammeln konnte.
„Ich zeige mich lediglich interessiert an deinen Ansichten, meine Liebe", sagte er dann, doch als Lova sich zu ihm umdrehte, war er ungewöhnlich blass um die Nase. „Mach lieber den Mund zu", riet sie ihm und wich damit ein weiteres Mal seiner Frage aus.
„Ich würde es schätzen, deine Antwort zu hören, Louvisa", meinte Viggo und zuckte die Schultern. „Außerdem habe ich schon schlimmere Flüge auf diesem Drachen erlebt." Sie holte tief Luft und schloss ergeben die Augen, ehe sie antwortete: „Unter gewissen Umständen bin ich bereit, meine Freiheit für diejenigen zu riskieren, die mir etwas bedeuten."
Sie hob abwehrend die Hand, ehe er etwas erwidern konnte. „Sag nichts", bat die Wikingerin ihn und lehnte sich nach vorn, um Abstand zwischen sie zu bringen. Viggo folgte ihrer Aufforderung, während Lova ihren Drachen waghalsige Wendemanöver durch Berge, Täler und Bäume vollführen ließ, um ihn nicht doch auf die Idee zu bringen, etwas zu entgegnen. Sie wollte nicht hören, was er zu dieser unbedacht ausgesprochenen Wahrheit zu sagen hatte. Falls Ablehnung in Viggos Worten steckte, war sie sich auch nicht sicher, ob sie es ertragen könnte, diese zu hören.
Dennoch fragte Lova sich, ob er wusste, dass sie damit mehr als deutlich auf ihn angespielt hatte.
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Clematis
FanfictionWieso verriet Ryker seinen Bruder? Wie gelang es Viggo, aus dem Vulkan zu entkommen? Wie erhielt er die Narben an seinem Hals? Wer rettete ihn, als er in der Basis der Drachenjäger bereit war, sich für Hicks zu opfern? Und noch viel wichtiger; gab e...