Viggo gelangen genau vier Schritte, ehe er atemlos gegen die hölzerne Wand sank und die Augen schloss. Die Luft im Flur war deutlich kühler als in dem kleinen, abgedunkelten Schlafzimmer und reichte, um ihm zumindest ein wenig seiner verlorenen Beherrschung zurückzugeben. Er stieß ein kurzes, entgeistertes Lachen aus, welches mehr für Unglauben statt Belustigung stand und lehnte den Kopf gegen das Holz in seinem Rücken. „Bei den Göttern...", murmelte er und nahm einen weiteren, tiefen Atemzug. Bisher hatte er sich immer für überaus beherrscht und kühl gehalten, vielleicht etwas zu versessen auf einen guten Wettstreit mit einem Gleichgesinnten, doch wenigstens Herr seiner Gefühle war er immer gewesen. Gerade jedoch hatte er nichts mehr gewollt, als Lovas Wunsch Folge zu leisten, so irrational dieses Begehren auch gewesen sein mochte.
War sie sich überhaupt bewusst, was für eine Wirkung sie auf ihn hatte, wenn sie ihn förmlich anflehte, ihr einen Kuss zu schenken? Offensichtlich nicht, denn nur ihre verschreckte Reaktion auf seinen festen Griff um ihre Schultern hatte ihn abgehalten, ihre – und seine – Hoffnung zu erfüllen. Lova hatte ihrerseits nur die Erinnerungen an Ryker abschütteln wollen, während er... Was war er überhaupt? Ihr voll und ganz verfallen, vermutlich, doch Viggo war sich sicher, dass er diese Erkenntnis solange wie möglich von sich fernhalten wollte.
Es war nicht so, dass er keine Erfahrungen auf diesem Gebiet vorweisen konnte, schließlich kam man als Geschäftsmann wie er in allen möglichen Bereichen viel herum, doch er war sich nicht sicher, ob er im Umgang mit Louvisa weiterhin von bloßem Verlangen sprechen konnte. Er hatte sich bewusst dagegen entschieden, ihre Verfassung für seine Zwecke auszunutzen, obwohl sie es ihm verdammt einfach gemacht hatte.
Allerdings würde Viggo von sich durchaus behaupten, ein Mann mit Ehre und Anstand zu sein, also hatte seine Ablehnung vielleicht lediglich etwas mit seinem tiefgehenden Respekt vor der Wikingerin zu tun. Er vertraute Lova, hatte nach ihrem wahnsinnigen Rettungsmanöver auch jeden triftigen Grund dazu, doch mehr steckte sicher nicht dahinter. Eine andere logischer Erklärung gab es nicht. Sobald sie sich erholt hatte, könnte er möglicherweise seine eigenen Wünsche erneut vorn anstellen, immerhin würde Lova dann auf sich selbst aufpassen können. Falls sie bis dahin nicht längst verstanden hatte, wen sie um diese Intimität gebeten und es schon längst zutiefst bereut hatte.
Ganz sicher würde es so sein. Sie würde erkennen, wer er war und ihren unbedachten Wunsch so schnell wie möglich vergessen und dann entweder mit ihrem Drachen die Insel verlassen oder ihm weiterhin als Beraterin und überaus angenehme, intellektuelle Gesellschaft zur Seite stehen. Wie immer sie sich entschied, es gab für Viggo keinen Anlass, sich weiter mit dem stummen Sehnen seines Herzens nach ihr auseinanderzusetzen. Er würde es einfach als kurzzeitiges Begehren nach etwas Entspannung abstempeln, bis jegliche Spannung zwischen ihnen zu einer vergessenen Erinnerung geworden war.
„Wie lange willst du noch in meinem Flur rumstehen?"
Eine barsche Stimme riss ihn unsanft aus seinen Gedanken und er schlug eilig die Augen auf, korrigierte seine Haltung, ehe er sein übliches Lächeln aufsetzte und die Frau vor ihm musterte.
Am auffälligsten war wohl ihre Ähnlichkeit zu Nehemia; der gleiche, dunkle Hautton, dunkle Augen und ein prachtvoller, schwarzer Haarschopf, den sie zu dutzenden kleinen Zöpfen geflochten hatte. Statt klassischer Handelstracht trug sie allerdings einen bodenlangen, sandfarbenen Rock samt weißer Schürze und ein elegant geschnittenes Hemd aus dunklem Stoff. Wie eine Wikingerin sah sie nicht aus, auch wenn der verkniffene Zug um ihrem Mund ein wenig an eine aufgebrachte Walküre erinnerte. Es würde ihn nicht wundern, wenn sie gleich mit dem Tablett, welches sie sich unter den Arm geklemmt hatte, auf ihn losgehen würde. Doch sie schien lediglich ungeduldig seine Antwort abzuwarten, dass rastlose Tippen ihrer Stiefel auf dem hölzernen Boden verriet sie.
„Ich bitte um Verzeihung, falls ich deine Missgunst auf mich gezogen habe", sagte Viggo höflich und neigte zur Begrüßung den Kopf vor ihr. Er war sich nicht sicher, ob sie ihm nicht die Hand abreißen würde, wenn er sie ihr hinhielt. „Ich musste einen Augenblick frische Luft schnappen und suche außerdem nach der Mutter einer gewissen Nehemia."
Die unbekannte Frau stieß ein gereiztes Schnauben aus und bedeutete ihm mit einer abrupten Handbewegung, zu schweigen. „Du bist der Mann, der gestern Abend bei mir Zuflucht gesucht hat, nicht?", fragte sie und als er nickte, wurde ihr Gesichtsausdruck ein wenig milder. „Ich verstehe", sagte sie. „Meine Tochter hat mir gerade von dir erzählt, Viggo Grimborn."
Er war sich nicht sicher, ob er dieser Frau wirklich trauen konnte, doch offensichtlich hatte seine Identität bei ihr keine feindlichen Gefühle hervorgerufen, als brachte er ein weiteres Nicken zustande. „Ich nehme an, dass es sich bei deiner Tochter um Nehemia handelt?"
Für den Bruchteil einer Sekunde erhellte ein Lächeln ihre finsteren Züge. „Durchaus", gab sie zurück und neigte nun ebenfalls den Kopf vor ihm. Was eine Geste der Höflichkeit sein sollte, wirkte mit ihren abgehackten Bewegungen eher wie eine Aufforderung zum Angriff, doch mittlerweile war Viggo sich sicher, dass es sich hierbei einfach um ihre nicht sonderlich herzliche, aber wenigstens ehrliche Persönlichkeit handelte.
„Nenn mich Adaja", erklärte sie ihm dann knapp und verschränkte die Arme vor der Brust, dass Tablett wie einen Schild vor ihrem Körper. „Worüber wolltest du mit mir sprechen?" Obwohl ihre Bewegungen abweisend wirkten, schien sie an seinem Anliegen interessiert zu sein. Und auch in Nehemias Erwähnungen hatte sie wie eine recht hilfsbereite Frau geklungen, also würde er es wohl darauf ankommen lassen müssen.
„Meine Begleitung ist bedauerlicherweise verwundet", antwortete Viggo und erntete ein Nicken seitens Adaja. „Sie sah schon gestern Nacht mehr tot als lebendig aus", gab sie zurück und schüttelte den Kopf. „Es ist ein Wunder, dass sie noch lebt. Hab mein Bestes getan." - „Und dafür bin ich überaus dankbar", sagte er und unwillkürlich glitt seine Hand zu den Brandnarben, die nun sein Gesicht zierten. Nicht auszudenken, wie entstellt er ohne medizinische Versorgung gewesen wäre, von Lovas dann vermutlich unvermeidlichen Todes einmal abgesehen.
Adaja schien die Symbolik hinter seiner unbedachten Geste zu verstehen, denn ihr klarer Blick brannte sich förmlich in seine Narben, als sie darauf sah. Sie nickte ihm knapp zu und sagte ihm damit, dass sie auch bei ihm ihr Bestes getan hatte und seinen Dank ohne jeden Hohn hinnahm. „Und wie geht es ihr jetzt?", fragte sie dann und zum ersten Mal sah er ehrliches Interesse und einen Hauch von Sorge in ihren Augen. Viggo fragte sich, ob da etwas in seinem Blick lag, was auch seinerseits seine Besorgnis verriet und hoffte ihm selben Moment, dass dem nicht so war. Es wäre eine Schande, wenn er sein Pokerface nicht einmal mehr einer hilfsbereiten Fremden an einem ungefährlichen Ort aufrecht erhalten konnte.
„Die Wunde ist erneut aufgerissen, der Verband schon längst voller Blut", gab Viggo zurück und bemühte sich redlich, seine Antwort kurzzuhalten. Adaja erschien ihm nicht wie eine Frau vieler Worte und gerade waren er und Lova auf ihre Hilfe angewiesen. Er konnte es nicht riskieren, sie gegen sich aufzubringen. Feinde hatte er ohnehin mehr als genug.
„Was braucht sie?", fragte Adaja drängend, doch schon der kurze Zeitraum, den er zum Antworten benötigte, schien ihr zu lange anzuhalten. Grob packte sie ihn mit der freien Hand am Arm und zerrte ihn den Flur entlang zur Treppe. „In ihrem Zustand sollten wir keine weitere Zeit verschwenden", erklärte sie ihm und raffte ihren bodenlangen Rock, um auf dem Weg nach unten nicht darüberzustolpern. Verwirrt von ihrer plötzlichen Eile ließ Viggo sich mitziehen, ohne wirklich Widerstand gegen ihren festen Griff einzulegen, der ihm sicher blaue Flecken bescheren würde.
„Ihr Zustand?", hakte er nach und stolperte beinahe über die Treppenstufen. Adaja warf ihm lediglich einen drängenden Blick zu und verstärkte den Griff um seinen Arm, ohne Rücksicht auf seinen völlig uneleganten Abgang zu nehmen. „Jemand hat ihr ein Schwert in den Rücken gestoßen", erklärte sie und obwohl es beiläufig klang, sah Viggo die Anspannung in ihrem Blick. „Kein gewöhnliches, vermutlich mit Widerhaken versehen."
Obwohl er nicht viel von Medizin verstand, erkannte selbst er, dass das sicher alles andere als ungefährlich war. Außerdem konnte Viggo sich denken, wer diesen beinahe tödlichen Angriff ausgeführt hatte, denn eine solche Waffe war selbst unter den gewalttätigsten Wikingern nicht sonderlich häufig. Sein Bruder konnte sich glücklich schätzen, ertrunken zu sein, statt sich der Rache der Lebenden auszusetzen. Wie es schien, hatte er ein Talent dafür, das Leben der Menschen voll und ganz zu ruinieren.
„Du hast keine Zeit für Träumereien", fuhr Adaja ihn an und riss ihn so ein weiteres Mal grob aus seinen Gedanken. Sie war vor einer recht unscheinbaren Tür aus ungehobelten Kiefernholz stehengeblieben und durchsuchte den Bund aus rostigen Schlüsseln, welchen sie bis dahin in ihrer Rocktasche verstaut hatte. „Was braucht sie?"
Viggo zuckte – zugegebenermaßen etwas hilflos – die Schultern. „Neue Verbände", war alles, was er beitragen konnte. Adaja schien das nicht zu genügen, denn sie stieß ein abschätziges Schnauben aus und drehte den rostigsten der Schlüssel ungeduldig im Schloss. „Muss die Wunde genäht werden?", fragte sie nach und schob die Tür mit dem Ellenbogen auf. Eine kleine Kammer kam zum Vorschein, gefüllt mit Fässern voller Met und einigen Leinen für Bettlaken und medizinische Zwecke. Von der Decke herab hingen Bündel aller möglichen Kräuter, von Minze für Tee, Weidenblätter – für welchen Zweck auch immer – und allerhand Gewürze für den täglichen Bedarf. Die schiefen Regale waren zum Bersten gefüllt mit erlesenem Honig, dessen Farbe Viggo unwillkürlich an Lovas Locken erinnerten, wenn die Sonne zur goldenen Stunde daraufschien.
„Ich weiß es nicht", antwortete er ehrlich, während die Bilder von Louvisas dunklem, weichen Haar durch ihren blutbefleckten Rücken ersetzt wurden, die er nur mühsam abschütteln konnte.
Adaja stieß ein entrüstetes Schnauben aus, während sie Lage für Lage frische Verbände von den Leinen abtrennte. „Hast du nicht nachgesehen, ehe du völlig kopflos hinausgestürmt bist?", fragte sie ungehalten, sprach jedoch so bald schon weiter, dass ihm eine Antwort verwehrt wurde. „Bring mir Honig und Weidenrinde."
Viggo folgte ihrer Anweisung, obwohl ihre bestimmten Befehle ihm ziemlich gegen den Strich gingen. Er war der Anführer der Drachenjäger, bis vor kurzem einer der vermögendsten Männer des Inselreiches und noch immer einer der klügsten Köpfe dieser Zeit, wenn man die Revolution gegen ihn außer Acht ließ, denn diese hatte er nicht verhindern können. Wäre er nicht auf ihre Gnade angewiesen, hätte er seiner Empörung ziemlich deutlich Luft gemacht. Entweder hatte Adaja keinerlei Verständnis für Anstand oder es stand schlechter um Lova, als er bisher angenommen hatte. Die Vorstellung letzteren reichte, um ihn eilig ein Glas goldenen Honigs und ein Bündel Weidenrinde aus dem Regal ziehen zu lassen, ehe er sich wieder an Adaja wandte.
„Ich habe, was du brauchst", sagte Viggo und hielt Honig und Weide zur Verdeutlichung in die Höhe. Adaja nickte zufrieden und wickelte die Leinen auf, damit sie beim Gehen nicht hinter ihnen herschleifen und staubig werden würden. „Gut", sagte sie knapp. „War sie ansprechbar, bewusstlos oder desillusioniert?" - „Sie war ansprechbar", gab er zurück, stockte für einen Moment und sprach dann weiter. „Allerdings wirkte sie etwas aufgewühlt." Es fühlte sich ein wenig wie Verrat an, Lova ihren Verstand abzusprechen, doch zeitgleich hatte er nicht das Gefühl, dass Adaja es gegen sie verwenden würde. Sie war die Einzige, die der Wikingerin auf medizinischer Ebene wirklich helfen konnte, also musste sie wohl die Wahrheit wissen.
Sie nickte verstehend und reichte ihm das Bündel Leinen. „Kennt ihr euch gut?", fragte Adaja, doch im Gegensatz zu dem unermüdlichen Nachhaken ihrer Tochter war ihre Frage offensichtlich rein praktischen Zwecken gewidmet, also nickte Viggo. „Das könnte man so ausdrücken, ja." Jegliche Erinnerungen an die Wärme ihres Körpers an seinem, ihre Hand in seinem Haar und ihre unergründlichen, grauen Augen verdrängte er dabei eilig. Er musste seine abschweifenden Gedanken eindeutig unter Kontrolle bekommen, ehe er neue Pläne schmiedete und wieder ins Geschäft einstieg. Es war eine zu große Ablenkung, sich nach etwas zu sehnen, was man nicht haben konnte.
„Dann solltest du sie versorgen", sagte Adaja und griff nach dem Bündel Weidenrinde in seinen Händen. „Mit einem der Leinen kannst du die Wunde säubern, ich gebe dir eine Schüssel lauwarmes Wasser mit. Dann den Honig vorsichtig auftragen und die Verletzung verbinden." Während sie sprach, durchsuchten ihre unruhigen Hände eine Kiste voll hölzernem Geschirr. Genau wie ihre Tochter schien auch Adaja nicht stillhalten zu können, ganz gleich, wie verschieden ihre Charaktere ansonsten sein mochten. „Ich komme in einigen Minuten nach und bringe ihr einen Weidenrindentee gegen die Schmerzen." Triumphierend hielt sie die gerade gefundene Schüssel in die Höhe und machte sich daran, sie mit Wasser zu füllen. „Der Drache, auf dem ihr hergekommen seid..." Adaja balancierte die übervolle Schüssel zu ihm und ignorierte dabei seinen entgeisterten Gesichtsausdruck. Viggo erinnerte sich nur zu gut an Runna, wie könnte er auch einen zahmen Wechselflügler vergessen, doch das der Drache sich ausgerechnet hier aufhalten sollte, im Haus eines Jägers, war doch recht unwahrscheinlich.
„Deine Begleitung hat mich gebeten, auf ihn Acht zu geben, ehe sie bewusstlos geworden ist. Ich weiß nicht, ob er materiellen oder emotionalen Wert für sie hat, doch ich werde ihn mitbringen, wenn ich euch gleich aufsuche. Er zerstört mir in seiner Rastlosigkeit beinahe mein Wirtshaus." Der verkniffene Zug kehrte in ihr Gesicht zurück, doch Adaja hatte ihm gerade mehr oder weniger absichtlich verraten, dass sie eine hilfsbereite Persönlichkeit war. Auf den Nördlichen Marktinseln gab es nicht viele Drachen, das Misstrauen gegen sie war hoch, sodass es einem Wunder glich, dass sie Runna nicht kurzerhand an den nächstbesten Drachenjäger verscherbelt hatte.
„Ich danke dir", sagte Viggo förmlich. Adaja nickte ihm nur knapp zu und geleitete ihn dann hinaus. Erst vor der Treppe nach oben blieb sie stehen und sah ihn eindringlich an.
„Du wirst sie korrekt versorgen, richtig?", fragte sie und dieses Mal war unleugbar Misstrauen in ihren Augen. Viggo nickte und entgegnete ihren Blick so offen, wie es ihm möglich war. „So gut es mir mit meinen zugegebenermaßen recht mangelhaften Kenntnissen möglich ist", gab er zurück. Ein wenig Ehrlichkeit konnte nicht schaden, wenn es die Skepsis aus Adajas dunklen Augen verbannte. „Gut", sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. Ein weiteres Mal verriet ihr auf und ab wippender Fuß ihre Unruhe. Das regelmäßige Tappen ihrer Stiefel hallte unangenehm laut in dem offenen Flur wieder. Es war ihr anzusehen, dass da noch etwas unausgesprochen auf ihren Lippen lag.
„Gibt es noch etwas, was du mir sagen möchtest?", fragte Viggo und konnte eine gewisse Neugierde nicht verhehlen. Eigentlich hätte er befürchten sollen, die Gunst seiner Gastgeberin zu verlieren, doch er hatte Risiken schon immer genossen. Vielleicht ein wenig mehr, als ihm gut tat, und so war es auch in diesem Moment. Adaja presste die Lippen aufeinander, wich seinem Blick aber nicht aus. Stattdessen schlich sich ein kampfbereites Funkeln in ihre Augen. Viggo zweifelte ganz und gar nicht daran, dass sie ihm das Tablett in ihren Händen um die Ohren schlagen würde, wenn er gleich die falsche Reaktion zeigte.
„Die Verletzungen auf ihren Lippen", sagte Adaja langsam. „Die stammen nicht von einer Waffe oder von einem Sturz. Sie wurden nicht von Fäusten verursacht und auch nicht von Trockenheit. Das habe ich alles bereits oft genug gesehen." Ihre Knöchel färbten sich weiß bei dem festen Griff um das Tablett, als wäre es tatsächlich eine Waffe. „Jemand muss sie bedrängt, geküsst und anschließend aus irgendeinem Grund gebissen haben. Ich nehme an, dass sie Gegenwehr geleistet hat." In ihren Augen lag ein unbestreitbarer Zorn. „Weißt du, wer es war, Viggo Grimborn?"
Als sie dieses Mal seinen Namen sagte, spuckte sie ihn förmlich aus. Er verstand erst jetzt wirklich, woher ihre plötzliche Abneigung kam und hob abwehrend die Hände. „Ich war nicht dabei, als es geschah", entgegnete er zu seiner Verteidigung. „Doch ich weiß, dass es sich um meinen Bruder handelte." Das Misstrauen in ihren Augen verstärkte sich und sie hielt das Tablett mittlerweile wie ein Schild auf eine Handbreit von sich weg. „Und woher weißt du das?", fragte Adaja skeptisch und schien nicht bereit, ihm so schnell ihr Vertrauen zu schenken.
„Ich habe vollstes Verständnis für dein Misstrauen", sagte Viggo und die diplomatischen Worte kamen ihm leicht über die Lippen. Wie oft hatte er sie schon gesprochen und wie selten hatte er sie tatsächlich gemeint? „Doch in diesem Fall ist es nicht angebracht. Ich schwöre auf meinen Status als Geschäftsmann in diesem Inselreich, dass ich Louvisa nichts getan habe. Sie hat mir selbst berichtet, dass es sich um eine Schandtat meines Bruders handelte."
Adaja ließ langsam das Tablett sinken und hob die Brauen. „Und wo ist dein Bruder?", fragte sie argwöhnisch. „Bedauerlicherweise kann er nicht hier sein, um meine Unschuld zu bestätigen", gab Viggo zurück und zuckte mit den Schultern. „Das beantwortet meine Frage nicht", zischte Adaja und bedachte seine theatralische Geste mit einem Schnauben.
„Nun", Er ahmte ihre Geste von vorhin nach und verschränkte die Arme vor der Brust. „Mein Bruder ist tot. Sein Schiff ist gesunken, mit ihm sein Ruf und seine zweifelhafte Ehre." Es verwunderte Viggo selbst, wie er so kalt über Rykers Ableben sprechen konnte. Doch andererseits hatte sein Bruder ihm alles nehmen wollen, wofür er hart gearbeitet hatte, nur wegen einigen Jugendlichen und einer Frau, die Viggo nicht hatte töten können. Es war wohl verständlich, dass er Ryker keine Tränen nachweinen würde, so bitter der Verrat doch schmerzen mochte.
„Wenn du mich angelogen hast, solltest du deine Götter um Gnade anflehen", sagte Adaja und wandte sich ab, nicht ohne ihm über die Schulter einen letzten warnenden Blick zuzuwerfen. „Ich verabscheue nichts mehr als Männer, die kein Nein akzeptieren können." Damit war sie fort, nur das Knarzen der Dielen verriet, dass es sich nicht um einen Trug seiner Augen gehandelt hatte.
Mit einem fassungslosen Kopfschütteln ging er die Treppe hinauf, ein Glas Honig und eine Schlüssel Wasser in den Händen, während seine Gedanken sich ein weiteres Mal unaufhaltsam um Lovas grauen Augen drehten, die so unerbittlich waren wie Sturmwolken, doch ihn zeitgleich herauszufordern schien, mal zu einem Schlagabtausch voller großer Worte, mal zu einem weiteren Schwertkampf. Doch dann sah er wieder die vergangenen Schrecken in ihrem Blick und wünschte sich beinahe, dass sein Bruder noch lebte, damit er Ryker für seine Taten eigenhändig bestrafen könnte. Doch dann erinnerte er sich mühsam daran, dass er kein gewalttätiger Mensch war, während die Wut in seinen Adern eine andere Sprache sprach.
Viggo redete sich ein, dass es lediglich die Verbindung aus Verstand und Schönheit war, die er an Louvisa begehrte, nicht ihr Herz, doch zugleich fragte er sich, ob es ihm jemals so schwer gefallen war, sich selbst zu belügen.
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Clematis
FanfictionWieso verriet Ryker seinen Bruder? Wie gelang es Viggo, aus dem Vulkan zu entkommen? Wie erhielt er die Narben an seinem Hals? Wer rettete ihn, als er in der Basis der Drachenjäger bereit war, sich für Hicks zu opfern? Und noch viel wichtiger; gab e...