Kapitel 46 (1)

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„Wie kann es sein, dass die Essensrationen schon wieder knapp sind?" Krogans Stimme bebte vor unterdrückter Wut, er tigerte mit wehendem Mantel im Haupthaus umher und warf den Jägern, die den Eingang bewachten, gelegentlich finstere Blicke zu. „Es sind deine Männer, die an unseren Vorräten zerren!" Bei diesen Worten deutete der Drachenflieger anklagend auf Viggo. „Wissen sie nicht, was „sparsam sein" bedeutet?"

Viggo lehnte sich in seinem Stuhl zurück und gähnte gelangweilt. „Krogan", sagte er langsam, als ob er mit einem Kind sprechen würde. „Dir entgeht wie immer etwas höchst Bedeutendes."

„Und was", fragte der Mann mit einem Zischen. „Soll das sein?"

„Es ist erschreckend einfach", erwiderte Viggo und konnte sich nur mit Mühe verkneifen, seine Augen zu verdrehen. „Meine Jäger sind kräftiger, stärker als deine Drachenflieger. Es ist allgemein bekannt, dass Muskeln viel Energie verbrauchen, weswegen eine ausgewogene und reichhaltige Ernährung zwingend notwendig ist. Du kannst dich entscheiden, ob du über viele mittelmäßige oder eine geringere Anzahl erstklassiger Kämpfer verfügen möchtest, doch wenn du mich fragst, ich ziehe die Qualität der Quantität vor."

„Meine Männer kommen auch mit kleineren Rationen aus. Wieder bist du es, der mit seinen Sonderwünschen unsere Mission gefährdet!" Krogans Stimme wurde lauter, überschlug sich beinahe in seinem Zorn. „Und trotzdem machst du keine Fortschritte!"

„Wenn es um das Drachenauge geht...", wollte Viggo ihn beschwichtigen, doch Krogan fiel ihm ins Wort. „Worum sollte es sonst gehen?! Dafür habe ich dich hergebracht, doch alles, was du tust, ist kluge Reden schwingen und den großen Anführer heraushängen lassen. Du vergisst, dass das hier mein Auftrag ist, und du bist nichts weiter als einer meiner Arbeiter mit ein wenig mehr Bezahlung als der Durchschnitt!"

„Wenn ich mich recht entsinne, bist nicht du es, der mich für meine Dienste bezahlt", gab Viggo mit seidenweicher Stimme zurück. „Und deswegen frage ich mich, aus welchem Grund du so erpicht darauf bist, meine Selbstbeherrschung an ihre Grenzen zu bringen."

Ein Grinsen breitete sich auf Krogans Gesicht aus, tauschte seine von Wut zerfressenen Züge durch eine viel grausamere Maske; es war pure Belustigung, kaltes Gelächter, schadenfrohes Amüsement. Das Schlimmste war, dass Viggo diesen Blick kannte, denn der Mann vor ihm trug ihn stets, wenn er einen seiner Männer für die kleinsten Fehltritte mit dem Tod bestrafte. Er kam zum Vorschein, wenn der Gestank von verbranntem Fleisch die Luft erfüllte, wenn tapfere Kämpfer auf Knien um ihr Leben flehten.

Viggo wurde leichenblass, das provokante Grinsen auf seinen Lippen erlosch. „Du wolltest mich in Rage bringen", stellte er fest und seine Knöchel wurden weiß bei dem festen Griff um die Lehnen seines Stuhls. „Und für welchen Zweck?"

Krogan lachte, und der Klang trieb eiskalte Schauder über Viggos Rücken, sorgte dafür, dass sich seine Nackenhaare aufstellten.

„Bringt sie rein", sagte er zu den Wachen am Eingang und lächelte selbstzufrieden, ehe er sich an Viggo wandte. „Meine Männer haben sie gefunden, kaum dass du die Hütte verlassen hast. Ich wusste, dass sie da ist, ich brauchte nur einen Vorwand, damit du von ihrer Seite weichst."

Viggo musste nicht hinsehen, um zu wissen, wen seine eigenen Männer in das Haupthaus schleppten. Er wusste es, noch bevor Krogan seinen Satz beendet hatte, noch bevor er den wütenden Schrei der Frau hörte, die in Fesseln in den Raum geschleift wurde. Er wusste es, doch er drehte sich trotzdem um, zu den Göttern flehend, dass er sich irrte.

Doch er war Viggo Grimborn. Er irrte nicht.

~

Lova hatte von Anfang ein ungutes Gefühl gehabt. Erst war es nur ein leises Ziehen in ihrem Brustkorb, kaum zu spüren und leicht mit einem Lächeln beiseitezuschieben. Dann wurde es zu einem hartnäckigen Stechen, kaum, dass die Tür hinter Viggo ins Schloss gefallen war, doch auch dieses konnte sie verdrängen. Sie hatte ja Runna, sie hatte einen hochgefährlichen Drachen, was könnte ihr hier geschehen? Als der Wechselflügler sich durch die Tür nach draußen schlich, um sich nach ihrem langen Aufenthalt in einem kleinen Käfig die Beine zu vertreten, wurde ein schmerzhaftes Pochen daraus. Lova schob dieses als unbegründete Paranoia weit fort von sich. Als dann zwei Jäger in die Hütte stürmten und sie sich gerade rechtzeitig in den Schrank retten konnte, verwandelte sich das Pochen in ein Eisberg, dessen Spitze sich genau in ihr Herz bohrte und ihr das Atmen unmöglich machte. Als die Männer sie schließlich fanden, wurde aus dem kalten Schmerz, der jede Emotion in einen Gletscher verwandelte, ein Brand. Und dieser Brand war nichts anderes als lichterloh brennendes Holz, Flammen aus Wut und ein Feuer, welches alles verschlang. Nur die Angst in ihrem Bauch blieb zurück. Die Angst, vor dem, was geschehen würde, wenn Krogan vor ihr nicht nur stumm lächeln, sondern sprechen würde.

ClematisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt