In diesem Fall kam ihr abruptes Ende des Friedens durch die schweren, unüberhörbaren Schritte zweier Drachenjäger und deren lautes Gespräch, welches nicht nur die Qualmdrachen, sondern auch Runna aufscheuchte. Für einen kurzen Moment fand sich Lova in einem Wirbel aus Rauch und roten Schuppen wieder, ehe die Qualmdrachen sich als graue Wolken in den Himmel erhoben und ihr Wechselflügler nur noch durch ihre leuchtend grünen Augen erkennbar war. Hektisch zog die Wikingerin sich ihre Kapuze über das Gesicht und erhob sich so leise wie möglich, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben.
Reflexartig wollte sie die Hand nach ihrem Bogen ausstrecken, aber sie konnte sich noch zurückhalten. Das Geräusch ihrer sich spannenden Bogensehne, die Pfeile, die sie durcheinanderbringen würde, wenn sie einen hinauszog... Zu riskant, wenn sie nicht wusste, ob diese beiden Männer nur zufällig hier waren oder möglicherweise von Ryker geschickt wurden.
Lova machte sich so schmal wie möglich, als sie ihren Rücken gegen die Wand eines leeren Käfigs presste. Zu ihren Füßen spürte sie Runnas warmen Körper, als der Drache sich um ihre Beine schlängelte und es dort für den sichersten Ort der Welt zu halten schien. Die Wikingerin legte ihre Hand auf die Schnauze ihres Wechselflüglers und betete zu den Göttern, dass sie sie somit gleichzeitig beruhigen, aber auch ruhig halten konnte. Sie wusste nicht, wie Runna nach ihrer wochenlangen Gefangenschaft auf die Jäger reagieren würde, denn obwohl sie Viggo nicht unbedingt Abneigung entgegengebracht hatte, war es doch riskant, ihren Drachen so schnell unter neue Menschen zu bringen.
„Hast du die neuen Befehle erhalten?", hörte Lova einen der Männer mit gesenkter Stimme sagen. Sie hielt angespannt die Luft an, als die Beiden näher kamen. Keine Regung, kein einziger Laut, sie durfte unter keinen Umständen auffallen. Besonders nicht, wenn sie von „neuen Befehlen" sprachen...
„Selbstverständlich", entgegnete der Andere mit diesem typisch demütig-schmeichelnden Tonfall, den sie so oft bei anderen Jägern im Gespräch mit Viggo gehört hatte. Bei dem Ersten musste es sich um einen Mann handeln, der einen höheren Posten in der Rangliste besetzte als der Zweite „Gut. Irgendwelche verdächtigen Aktivitäten auf dem Weg hierher?", fragte Nummer 1 und trat endlich in Lovas Sichtfeld. Sie senkte den Blick, damit ihr Gesicht nicht unter ihrer Kapuze sichtbar wurde, ehe sie die Männer musterte. Der Ranghöhere – gut erkennbar an der Weste aus hochwertiger Drachenhaut -, trug eine frisch geschärfte Keule an seinem Gürtel und hielt eine Schriftrolle in den Händen. Sie trug Viggos bereits aufgebrochenes Stammessiegel und schien von großer Wichtigkeit zu sein, denn der Mann hielt seine Weste darüber, um es vor neugierigen Blicken zu schützen. Nicht sonderlich effektiv gegen eine Frau, die sich unsichtbar machen konnte und direkt neben ihm stand, aber sie schätzte seine Bemühungen.
Der Zweite war nun deutlich leichter als gewöhnlicher Jäger zu erkennen, er trug keine Weste aus Leder, sondern ein einfaches, an einigen Stellen notdürftig geflicktes Hemd. Auch eine geschärfte Keule konnte er nicht vorweisen, stattdessen hielt er nur eine stumpfe Axt. Er wäre im Ernstfall wohl leichter zu besiegen als sein Partner, obwohl Beide den typischen, muskulösen Körperbau eines Drachenjägers hatten. Allerdings hatte Lova einen Säure speienden Wechselflügler, die Chancen waren nicht sonderlich ausgewogen, wenn man es realistisch betrachtete. Dennoch hielt sie Runna fest im Griff, obwohl der Drache sich unter ihren Händen wand. Sie wollte nur dann angreifen, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ.
„Ich habe niemanden gesehen", antwortete der Zweite schließlich eilig. „Warst du auch aufmerksam?", hakte der Andere nach. Etwas an seinem Tonfall war so drängend, dass es Lova stutzig werden ließ. Suchten sie jemanden? „Absolut aufmerksam", gab der Jäger zurück und der Erste nickte zufrieden. „Sehr gut. Viggo hat die Vorsichtsmaßnahmen erhöhen lassen, deswegen brauche ich dich, um das hier..." Der Mann schob seine Weste beiseite und offenbarte dem anderen die Schriftrolle. „Sicher in mein Zelt zu bringen, während ich mich auf die Suche nach den Drachenreiter-Spionen begebe."
Lova fiel einerseits ein Stein vom Herzen, dass nicht sie die Gesuchte war, andererseits verschärfte sich ihre Alarmbereitschaft. Drachenreiter hatten ihr noch nie Glück gebracht, immerhin waren sie hauptverantwortlich für den Tod ihrer verbliebenen Stammesmitglieder. Wenn gleich mehrere von ihnen hier waren, musste das etwas Beunruhigendes bedeuten... Sie waren die gefährlichsten Feinde, die Ryker und Viggo jemals gehabt hatten, was bei den mächtigsten Männern des Inselreiches einiges heißen musste.
Lovas Augen weiteten sich, als ihr die Bedeutung dieser Tatsache aufging. Wenn die Schriftrolle das enthielt, was sie glaubte, dann war das hier ihre Chance, Ryker aufzuhalten. Sie konnte und wollte sich noch immer nicht ausmalen, was dieser Mann mit dem Granatenfeuer tun könnte...
Götter, wenn die Baupläne für das Schiff – sie ging davon aus, dass es sich um etwas in diese Richtung handelte, denn warum sonst sollten die beiden Jäger ein solches Aufheben um ein Stück Papier machen? - in die Hände der Drachenreiter gerieten, könnten sie ihre Widersacher möglicherweise aufhalten. Vermutlich würde sie mit ihrem Plan Hochverrat an Viggo begehen, aber-
Ein erschrockenes Keuchen direkt an ihrem Ohr riss sie aus ihren Gedanken und Lova stolperte einige Schritte zurück. Um ihre Füße konnte sie Runnas hektische Bewegungen spüren, mit welchen der Drache sich ihrem neuen Standort anpasste. Die Wikingerin presste sich und dem Wechselflügler die Hand auf den Mund, um sich nicht durch einen unbedachten Laut zu verraten.
Neben ihr, gerade einmal einige wenige Zentimeter von ihr entfernt, kauerte ein Drachenreiter.
Es war wirklich ein Wunder, dass der junge Mann vor ihr noch nicht entdeckt worden war. Mit seinem langen, blonden Haar und dem schmächtigen Körperbau fiel er unter den muskulösen Jägern mit der Einheitskleidung und den großen Eisenhelmen ähnlich schnell auf wie ein schwarzes Schaf in einer weißen Herde. Als wäre all das nicht genug, nuschelte er wirre Reden von irgendeiner Keule vor sich hin und war so auch noch kaum zu überhören. Am liebsten hätte Lova den Reiter von sich weggeschoben, denn obwohl er nicht wusste, dass er seinen Ellenbogen gerade gegen ihren Bauch presste, war ihr seine Nähe mehr als unangenehm. Es erschien ihr immer unwahrscheinlicher, dass man diesen Mann nicht schon längst geschnappt hatte. Aber er war dennoch ihre einzige verfügbare Chance, Rykers Verrat aufzuhalten oder wenigstens zu erschweren, also musste sie mit dem arbeiten, was sie hatte.
Mit ihm sprechen konnte sie nicht, da schon die kleinste Bewegung sie verraten würde. Sie war sowieso nicht sonderlich scharf darauf, nähere Bekanntschaften mit den Drachenreitern zu schließen. Viggo schien sie als angemessene Gegenspieler zu schätzen, aber für Lova blieben sie Teenager, auch wenn dieser Hicks offensichtlich ein gewisses Maß an Intelligenz vorweisen konnte, welches sie sicher nicht abstreiten würde.
Erst, als der junge Mann sich plötzlich im Laufschritt von ihr entfernte und dem zweiten Jäger mit der Schriftrolle folgte, hatte Lova wieder Bewegungs- und Handlungsfreiheit.
„Du bleibst hier, Kleine", flüsterte sie Runna zu und strich beruhigend über die erstbesten Schuppen ihres Drachens, die sie erreichen konnte. Ihr Drache knurrte unzufrieden, rollte sich aber zu einem Ball zusammen, um auf sie zu warten. Lova stieß ein erleichtertes Seufzen aus. „Ich schulde dir einen Fisch, Kleine", sagte sie noch über die Schulter, während sie dem Drachenreiter mit leisen, bedachten Schritten folgte. Dieser war vor einem kleinen Zelt zum Stehen gekommen und lehnte so lässig an einem Fass, dass selbst Lova für einen Moment glaubte, dass er hierher gehörte.
Von dem Jäger war nichts mehr zu sehen, aber als sie einen prüfenden Blick ins Innere des Zeltes warf, konnte sie ihn darin rumoren sehen. Offensichtlich verstaute er die Schriftrolle, ganz wie es ihm aufgetragen wurde. So, wie es aussah, würde Lova kaum nachhelfen müssen, um den Reitern die Pläne für das Projekt Granatenfeuer zukommen zulassen, denn der junge Mann schien abzuwarten, dass der Jäger endlich das Zelt verließ. Offensichtlich war er klüger, als sie ihm zugetraut hatte.
Exakt fünf Sekunden später stellte sich heraus, dass Lova sich geirrt hatte. Der Drachenreiter hatte keinen Moment abgewartet, um in das Zelt zu stürmen, kaum dass der Jäger es verlassen hatte. Nicht einmal für einen prüfenden Blick hatte seine Zeit gereicht, obwohl er vorher von dem anderen Mann bemerkt worden war. Es war nur eine Frage von Sekunden, bis der Jäger ein verdächtigtes Geräusch hören und sich umdrehen würde.
Und gegen einen bewaffneten, breitschultrigen Erwachsenen hatte der schlanke junge Mann ganz sicher keine Chance.
Lova widerstand dem Drang, sich die Hand gegen die Stirn zu schlagen und stürmte stattdessen mit wehendem Umhang los. Noch im Gehen zog sie einen Pfeil aus ihrem Köcher und kam gerade rechtzeitig neben dem Jäger zum Stehen, denn genau in diesem Moment drang ein erstauntes, aber vor allem verräterisches „Woah" aus dem Zeltinneren. Eilig schlang sie den freien Arm um den Hals des Jägers und hielt ihn zurück, ehe er sich umdrehen konnte. Die Spitze des Pfeils richtete sie auf seine Kehle und stellte sicher, dass er das kalte Metall an seiner Haut spüren konnte.
„Keine Bewegung", zischte sie und drückte die Spitze zur Verdeutlichung ihrer Worte noch fester gegen seinen Hals. Der Mann erstarrte, sie konnte spüren, wie seine zur Abwehr gespannten Muskeln und Sehnen erschlafften, um ihr ja keinen Anlass zum Angriff zu geben. „Wenn du genau das tust, was ich sage, lasse ich dich gehen, verstanden?", flüsterte sie in sein Ohr und betete, dass ihr Umhang sie sowohl vor neugierigen Jägeraugen, als auch vor dem Drachenreiter verschleierte, sollte dieser das Zelt verlassen. Der Mann nickte eilig, sagte aber kein Wort. Vermutlich war er klug genug, um zu ahnen, dass Lova nur dann ihr Wort halten würde, wenn er schwieg und so keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zog.
„Kein Wort zu Viggo", zischte sie drohend. „Wenn ich erfahre, dass er auf wundersame Weise von unserem Gespräch Wind bekommen hat, schneide ich dir im Schlaf die Kehle durch." Der Jäger schluckte und nickte wieder. „Und noch weniger wirst du mit Ryker sprechen. Das hier bleibt unter uns beiden." Lova konnte nur hoffen, dass der Mann sich an ihre Anweisungen hielt, denn Möglichkeiten zur Kontrolle gab es kaum. Sie wusste ja nicht einmal, wer dieser Mann war, dem sie gerade einen Pfeil gegen die Kehle hielt. So gesehen war es natürlich albern, Forderungen zu stellen, aber wenn ihr Verrat an die Ohren der Grimborns drang... Sie wollte sich nicht einmal vorstellen, was Ryker dann mit ihr anstellen würde. Andererseits hatte sie bei Viggo vermutlich ein Stein im Brett, immerhin hatte sie ihm das Leben gerettet.
Ehe sie sich in den Erinnerungen an diese schicksalshafte Nacht verlor, verwarf sie den Gedanken mit einem Kopfschütteln. Es brachte nichts, sich mit Was-wäre-wenn Gedanken aufzuhalten, das hatte Viggo ihr oft genug gesagt und... Lova hätte beinahe einen lauten Fluch ausgestoßen. Sie sollte sich auf die Tatsache konzentrieren, dass sie gerade Hochverrat beging, nicht auf den Anführer der Drachenjäger, so faszinierend er ihr auch erscheinen mochte.
Um diese Gedanken endgültig von sich abzuschütteln, verstärkte sie ihren Griff um den Hals des Jägers und lauschte gleichzeitig, ob sie den Drachenreiter noch hören konnte. Aus dem Zelt und auch aus der Umgebung darum drang kein Laut, aber Lova hielt noch einen Augenblick inne. Wenn sie den Mann zu früh gehen ließ, könnte er den Reiter mitsamt den hoffentlich entwendeten Plänen finden, aber mit jeder Sekunde verstärkte sich für sie das Risiko, von einer Patrouille oder auch nur von einem vorbeilaufenden Jäger erwischt zu werden. Letzteres erschien ihr wie die größere Gefahrenquelle, also ließ sie den Pfeil sinken und zog sich eilig die Maske aus Wechselflüglerhaut über den Mund, damit der Jäger ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Wenn sie Glück hatte, hielt er die vergangenen Ereignisse für eine Sinnestäuschung, denn als er herumfuhr und niemanden hinter sich stehen sah, stand ihm vor Verwirrung der Mund offen.
Mit schnellen Schritten eilte Lova davon, ehe sie sich durch ihren Schatten oder ein zu lautes Atmen verriet. Hinter sich konnte sie das leise Rascheln von Runnas Schuppen hören, mit welchem der Drache besonders aufmerksamen Ohren verriet, dass er ihr folgte. Obwohl sie unterwegs keine Menschenseele trafen, hielten sie sich dennoch im Schatten der Bäume und mieden das Licht der vereinzelten Fackeln. Erst nach und nach wurde der Wikingerin bewusst, was sie gerade eigentlich getan hatte.
Sie hatte Viggo verraten, um stattdessen den Drachenreitern zu helfen.
Lova blieb stehen und raufte sich die Haare. Was bei allen Göttern hatte sie sich dabei gedacht? Das war lebensmüde gewesen und ob es überhaupt etwas brachte, stand in den Sternen. Sonderlich intelligent war der blonde junge Mann ihr nämlich nicht erschienen und wenn er die verdammten Baupläne begutachtete und dann ins nächstbeste Gebüsch warf, hatte sie für nichts und wieder nichts ihr Leben riskiert. Wenn Ryker auf irgendeinem Wege herausfand, was sie getan hatte und Lova sich in seiner Reichweite befand, würde er sie umbringen. Er hasste sie, das hatte er immer, aber jetzt hatte sie ihm wirklich einen Grund dafür gegeben.
Erst Runna warme Schnauze an ihrer Wange brachte sie zurück ins Hier und Jetzt. Sie konnte das leise Atmen des Drachen auf ihrer Haut spüren und versuchte, in ihrem Rhythmus zu atmen. Ihre eigenen Atemzüge waren schnell, abgehackt und hektisch, als wäre sie einen Marathon gelaufen, während der Wechselflügler die Ruhe selbst zu sein schien. „Danke", flüsterte Lova ihrem Drachen zu, als sie sich zumindest etwas beruhigt hatte. Statt einer Antwort – die sie ja ohnehin nicht erwartet hatte – leckte Runna ihr über die Wange. Obwohl Wechselflüglerspeichel keine sonderlich angenehme Angelegenheit war, was hauptsächlich an der Säure liegt, die die Drachen normalerweise speien und die natürlich nicht ohne Spuren verschwindet, fühlte sich das leichte Prickeln auf ihrer Haut irgendwie tröstend an. Zumindest half es Lova, sich wieder zu fassen und klarer zu denken.
„Der Drachenjäger hat mich nicht einmal gesehen", sagte sie zu sich selbst, denn es auszusprechen hatte eine ähnlich beruhigende Wirkung wie Runnas Anwesenheit. „Woher soll er wissen, wer ich war?" Der Drache an ihrer Seite grollte zustimmend, obwohl sie vermutlich nicht die leiseste Ahnung von Lovas innerem Kampf hatte.
Die Wikingerin nahm einen weiteren tiefen Atemzug, ehe sie die Schultern straffte und Runna lobend den Hals kraulte. Der Wechselflügler hatte sich besser gehalten, als sie es ihr zugetraut hatte, zumal die Situation kein bisschen optimal gewesen war. Erst die beiden Drachenjäger, dann der Reiter und all das für einen jungen Drachen wie Runna... Lova spürte, wie Stolz in ihr hochstieg. Ein völlig irrationales Gefühl, besonders wenn man bedachte, dass die Beiden vor einigen Wochen noch völlig Fremde gewesen waren und Wechselflügler einen Menschen, der derartig in ihr Territorium eindrang wie Lova damals, normalerweise ohne Umschweife töten würde.
„Du warst großartig heute, Kleine", ließ sie ihren Drachen wissen und bekam dafür eine liebevolle Kopfnuss. Das sollte vermutlich „Natürlich, hast du was anderes erwartet?" heißen. Lova musste schmunzeln und schüttelte lächelnd den Kopf. „Du bist wirklich eine Idiotin." Der Wechselflügler sah auf ihre Aussage hin stolzer drein, als es vermutlich angebracht war, aber die Wikingerin ließ das fürs Erste unkommentiert. Wer war sie denn, einen Säure speienden Drachen zu belehren?
„Du kannst jagen gehen, wenn du möchtest", sagte Lova stattdessen, wurde dafür aber mit einem skeptischen Blick bedacht. Sie zuckte die Schultern. „Ich gehe ins Essenszelt der Jäger, um mir ein Alibi und ein Abendessen zu beschaffen", erklärte sie Runna, deren Aufmerksamkeit bei dem Wort „Abendessen" sofort zu 100 % auf ihrer Reiterin lag. Diese verdrehte lachend die grauen Augen und vergaß sämtliche Vorsätze über das Belehren von Wechselflüglern. „Du...", sagte sie und klopfte ihrem Drachen tadelnd gegen die Flanke. „Bist faul und verfressen." Runna sah sie verständnislos an, als wüsste sie nicht, wo diese beiden Eigenschaften etwas Schlechtes wären. Damit hatte sie vermutlich sogar Recht, denn für einen Drachen war das nicht nur überaus normal, sondern auch völlig verständlich. Das und Runnas bettelnder Blick waren es auch, was sie schließlich nachgeben ließ.
„Du kannst gern mitkommen", lenkte Lova ein. „Aber nur, wenn du unsichtbar bleibst und dich nur unter den Tischen bewegst." Der Wechselflügler blies ihr beleidigt eine kleine Rauchwolke ins Gesicht, machte sich aber ohne weiteres Murren unsichtbar. Die Wikingerin bedachte die grünen Augen ihres Drachen mit einem letzten amüsierten Blick, ehe sie den Schatten des Waldes verließ und das große, hell erleuchtete Zelt zu ihrer Linken betrat, aus welchem sie schon von weitem fröhliches Geplauder und Gelächter hören konnte.
~
Im Inneren des Zeltes roch es angenehm nach gebratenem Fleisch und flüssigem Kerzenwachs, zugleich drang durch die dünnen Leinen auch der Duft des Waldes, nach Kräutern, Moos und Harz. Die zahlreichen Tische waren kaum besetzt, lediglich vereinzelt saßen Drachenjäger in kleinen Gruppen beisammen, tranken Honigwein und spielten Karten. Einige der Männer kamen ihr sogar bekannt vor und als sie an ihnen vorbeiging, grüßten sie sie freundlich. Lova lächelte ihnen zu, wünschte dem ein oder anderen viel Glück bei ihrem Spiel, lief aber entschlossen weiter. Solange Runna bei ihr war, unsichtbar oder nicht, wäre es sicherer, sich allein an einem Tisch niederzulassen.
Sie entschied sich für einen kleinen Tisch am hinteren Ende des Zeltes, wo das Licht der Fackeln sie nicht mehr erreichte und die einzige Beleuchtung ein paar Kerzen waren, deren Wachs in stetem Fluss auf die hölzerne Tischplatte tropfte. Es war vielleicht nicht unbedingt der schönste Platz, aber falls Runna doch versehentlich oder absichtlich sichtbar wurde, würde man sie hier kaum sehen können. Lova lehnte ihren Köcher gegen eines der Tischbeine und hing ihren Bogen über den Stuhl, auch ihres Mantels entledigte sie sich. Es war warm im Zeltinneren und sie bezweifelte zudem, dass sie hier in Bedrängnis geraten würde. Sie legte ihren Umhang ordentlich zusammen und platzierte ihn kurzerhand auf dem zweiten Stuhl, denn sie ohnehin nicht brauchen würde, ehe sie zur Essensausgabe ging.
„Zweimal geräucherten Lachs bitte", sagte Lova nach einem kurzen Blick auf das Angebot mit einem höflichen Lächeln. „Noch etwas zu trinken?", fragte der Mann und erwiderte ihr Lächeln. Sie kannte ihn, er hatte schon zu ihrer Zeit bei den Jägern öfter das Essen serviert. Er war außerordentlich groß für einen Wikinger, mit langem, schwarzem Haar und einem geflochtenen Bart. Sein Name war Finn, und soweit Lova wusste, stammte er ursprünglich von den nördlichen Marktinseln. Einmal hatte sie ihn sogar über seine Familie sprechen gehört, die dort scheinbar noch immer lebte. Er war den Jägern beigetreten, um seine Frau und seine Tochter zu versorgen, hatte sich aber wie Lova immer von der tatsächlichen Drachenjagd ferngehalten.
„Ein Glas Wasser", antwortete sie schließlich und lehnte sich an die Theke, während Finn ihre Bestellung aufnahm und zubereitete. „Wie geht es deiner Familie?", fragte sie und sah zu, wie er den Fisch mit geübten Bewegungen würzte und in der Pfanne wendete. „Du erinnerst dich noch?", entgegnete der Mann und sein Lächeln wurde breiter. „Meine Tochter ist vor wenigen Tagen 12 Jahre alt geworden", erzählte er ihr mit Stolz in der Stimme. Erst jetzt bemerkte sie den blühenden Krokus an seinem Hemd, dessen sattes Lila in starkem Kontrast zu dem schlichten Leder stand. Ein Geschenk seiner Tochter, möglicherweise? „Und das Wirtshaus meiner Frau gehört zu den erfolgreichsten der Nördlichen Marktinseln." - „Das sind großartige Neuigkeiten", sagte Lova, auch wenn ihr Lächeln wehmütig wurde bei der Freude in seiner Stimme.
Fünfzehn Jahre war es her, dass sie so jung gewesen war wie Finns Tochter und seit mehr als drei Jahren hatte sie keine Familie mehr, die sich über ihr Heranwachsen freute. Ihr Stammeswappen an seiner Kleidung, der Krokus, tat sein Übriges.
Sie war geradezu dankbar, als Finn ihr das Tablett entgegenhielt und sie so aus der Situation entkommen konnte, obwohl das kurze Gespräch mit einem freundlich gesinnten Gegenüber gegen ihre Anspannung geholfen hatte. „Das macht dann zwei Taler", sagte Finn, als sie ihre Bestellung dankend entgegennahm. Lova kramte die geforderte Währung eilig aus ihrer Tasche und legte das Geld auf die Theke. „Vielen Dank, Miss Vernell", sagte er freundlich. „Und guten Appetit."
„Auf Wiedersehen, Finn", gab sie zurück und legte so unauffällig wie möglich einen weiteren Taler auf ihren kleinen Stapel. „Grüß doch deine Tochter von mir, wenn du sie wiedersiehst." Er nickte lächelnd und rief ihr noch hinterher, dass es ihm eine Ehre wäre, als sie zu ihrem Tisch zurückkehrte.
Lova dagegen schluckte mühsam die Einsamkeit herunter, die mit jedem Schritt mehr in ihr hochkroch. Würde jemals wieder jemand mit soviel Liebe in der Stimme über sie sprechen wie Finn über seine Tochter und seine Frau?
Als sie sich neben der ungeduldig wartenden Runna niederließ und dieser den zweiten Fisch unter dem Tisch reichte, wurde ihr bewusst, dass es kein Mensch mehr übrig war, der diese Rolle in ihrem Leben spielen könnte.
Jeden Gedanken an warme, braune Augen verdrängte sie sofort.
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Clematis
FanfictionWieso verriet Ryker seinen Bruder? Wie gelang es Viggo, aus dem Vulkan zu entkommen? Wie erhielt er die Narben an seinem Hals? Wer rettete ihn, als er in der Basis der Drachenjäger bereit war, sich für Hicks zu opfern? Und noch viel wichtiger; gab e...