MÖRDER

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Nitsas-Ini stand hoch aufgerichtet mit verschränkten Armen an das hintere Gitter seines Gefängnisses gelehnt und beobachtete das Treiben der Soldaten. Er sah, wie der Auswanderertreck hereinfuhr und die Menschen ausstiegen.

Eine kleine braune Stute erweckte seine Aufmerksamkeit, sah diese doch wie ein Indianerpony aus. Das Tier wurde von einem jungen Mann geritten, dessen Hemd verdächtig nach einer Navajo-Arbeit aussah. Der Häuptling bemerkte, wie der Junge durch das Fort schlenderte und etwas zu suchen schien. Eine Zeitlang war er in den Ställen verschwunden. Dann kam der blonde Bursche wieder zum Vorschein, ging weiter über den Hof und kam dem Gefängnis näher.

Nitsas-Ini kämpfte um seine Beherrschung, als er Gidi erkannte. Wie konnte diese Frau es nur geschafft haben, im Fort aufzutauchen? Warum war sie überhaupt gekommen und hatte sich vielleicht dadurch in Gefahr gebracht?

Nun stand sie vor seinem Käfig und der Major kam brüllend und fuchtelnd auf sie zu.

Der Indianer gewahrte, wie die Weiße sich schwallartig erbrach und krümmte, ... und trotzdem ihr Messer in das Gefängnis warf, welches dabei genau vor seinen Füßen landete. Unauffällig stellte er seinen Fuß auf die Waffe.

Nitsas-Ini beobachtete weiter, wie Gidi in den Auswandererwagen geführt wurde und eine Frau das Erbrochene beseitigte. Möglichst gelangweilt setzte sich der Indianer auf den Boden und ergriff das Messer. Langsam verbarg er die Waffe in seinem Ärmel.

Er bekam mit, wie ein Soldat und Gidi das Fort verließen, und dann passierte nichts mehr. Der Tag ging zu Ende, die Nacht brach herein und es kehrte Ruhe ein. Nur das Rufen der Wachposten unterbrach die nächtliche Stille.

Nitsas-Ini hatte sich auf den Boden gesetzt und meditierte, doch es gelang ihm nicht, zur Ruhe zu kommen. Er hatte keine Angst vor dem nächsten Tag, selbst wenn es sein letzter sein sollte. Dass er beunruhigt war, lag an dieser weißen jungen Frau namens Gidi. Er hatte sie schützen wollen, und nun war sie es, die ihm zur Hilfe kam.

Immer wieder sah er diese grauen Augen mit den braunen Sprenkeln vor sich, deren Bild sich bei dem kurzen Blickkontakt in seine Seele gebrannt hatte.

Nitsas-Ini seufzte unhörbar auf und legte sich zum Schlafen auf den Boden.

Die ersten Sonnenstrahlen trafen das Fort und weckten den Indianer. Er stand vom Boden auf und stellte sich wieder an die hintere Gitterwand. In seinem Ärmel spürte er das Messer, welches er erst vor ein paar Tagen der Weißen überlassen hatte.

Es war noch nicht viel Zeit vergangen, als Major Barker mit einer Kompanie Soldaten auf das Gefängnis zu marschierte. Barker ließ die Abteilung anhalten und öffnete den Käfig. Er winkte drei Soldaten, die mit Handschellen auf den Navajo zugingen, um ihn zu fesseln.

Spöttisch fragte Nitsas-Ini: „Ist der Häuptling der Navajos so furchterregend, dass man ihn in Ketten legen muss?"

Die Soldaten blickten zu ihrem Vorgesetzten, der ihnen zunickte, woraufhin sie zurücktraten. Der Indianer trat mit erhobenem Haupt aus seinem Gefängnis. Vor dem Major blieb er stehen und da er die Weißen kannte, senkte er nicht den Blick, sondern fixierte mit den Augen einen Punkt hinter dem Befehlshaber.

Barker faltete ein Papier auseinander und las: „Hiermit wird der Navajo Nitsas-Ini zum Tode durch den Strang verurteilt. Ihm wird vorgeworfen, den Zug zwischen Grand Junction und Gallup überfallen, alle Passagiere getötet und die Leichen skalpiert zu haben."

Die Soldaten nahmen den Gefangenen in ihre Mitte und führten ihn zum Galgen, der in der Mitte des Forts aufgebaut worden war.

Nitsas-Ini überlegte, ob er den Major in seine Gewalt bringen und die Soldaten somit zwingen konnte, ihn laufen zu lassen. Doch Barker hielt wohlweislich ausreichend Abstand zu dem zum Tode Verurteilten.

Nitsas-IniWo Geschichten leben. Entdecke jetzt