Kälte

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Schi-So hatte mittlerweile mehrere Phasen der Ausbildung zum Schamanen durchlaufen und unzählige Gespräche mit ausgebildeten Geheimnismännern hatten ihn davon überzeugt, dass er sich für fünf der zehn Wege und Gesänge berufen fühlte. Jeder der zehn Wege stand für eine Heilungszeremonie und es gab keinen Schamanen, der für alle Gesänge ausgebildet war. Eine nicht unbedeutende Rolle spielte dabei die eigenen Erfahrungen und Neigungen sowie der Grad der Empathie. Ein Schamane war, im Gegensatz zum Medizinmann, nicht für die körperlichen oder äußerlichen Krankheiten, sondern für die inneren, seelischen zuständig.

Nach reiflicher Überlegung entschied Schi-So sich schließlich für die Wege, die sich mit Schuld und Sühne, mit dem Kontakt zu Geistern und Hexen und mit den Reinigungszeremonien nach dem Kontakt mit den Geistern der Toten beschäftigten. Es bereitete ihm keinerlei Schwierigkeiten, sich die Texte und Melodien einzuprägen, obwohl es pro Weg zwischen fünfzig und hundert verschiedene Gesänge gab. Auch das Gestalten der Sandbilder, die individuell für den Erkrankten hergestellt wurden, bereitete ihm keine Probleme. Doch erst, als er all diese Rituale erlernt hatte, wurde er in das eigentliche Geheimnis eines Schamanen eingeweiht; der Umgang mit dem Erkrankten, das Vorgespräch mit der Familie und die einfühlsamen Gespräche mit dem Patienten.

Eine weitere Aufgabe für ihn war es, Sand von den vier heiligen Bergen zu sammeln. In jedem Sandbild sollten ein paar heilige Körner verarbeitet werden. Die Reise zu den einzelnen Bergen musste er in Begleitung einiger Freunde oder Familienmitglieder unternehmen. Während der Reisen konnte er sich mit ihnen und ihrem inneren Wesen auseinandersetzen und sein Gespür für die unausgesprochenen Worte verfeinern.

Die erste Reise zum Berg Mount Taylor, der zwischen Gallup und Albuquerque lag, hatte er vor einigen Jahren schon absolviert. Für die relativ kurze Strecke von einhundertfünfzig Meilen einfachen Weges hatte er einige der Alten um Begleitung gebeten.

Auch den Hesperus Mountain im Norden hatte er besucht und im letzten Jahr war er mit Adolf, Gah und deren älteren Kindern in den Westen zum Berg Dook'o'oslííd in den San Francisco Peaks geritten.

Nun stand noch die längte und schwierigste Tour vor ihm: der Berg im Osten, der in den Blanca Peaks lag. Diese Reise umfasste rund sechshundert Meilen hin und zurück durch unwegsames Gelände und würde bestimmt mehrere Wochen in Anspruch nehmen. Hierzu hatte er seine Frau und seine Eltern um Begleitung gebeten.

Gidi freute sich sehr. Sie reiste für ihr Leben gerne und auch die bevorstehenden Gespräche mit ihrem Sohn würden ihr großes Vergnügen bereiten.

Die Tradition gebot eine Reise ohne Waffen. Jeder Indianerstamm würde die Pilgernden unbeschadet durch ihr Gebiet ziehen lassen, da sie sich auf einem heiligen Weg befanden. Zum Zeichen dessen trugen sie einfache, ungeschmückte Kleidung und ihre Pferde waren mit gelber, weißer, schwarzer und blauer Farbe bemalt. Ernähren würden sie sich ausschließlich von Pflanzen und Wurzeln und sie durften keinem Lebewesen etwas zuleide tun.

Schi-So musste während der Reise schweigen und durfte nur im Rahmen seiner Ausbildung zum Schamanen mit den einzelnen Begleitern sprechen. Den anderen war dieses Gelübde nicht auferlegt und darum tauschten sich die beiden Frauen lebhaft aus, während Nitsas-Ini schweigend an der Seite seines Sohnes ritt.

Gegen Abend suchten sie eine kleine Bucht am Rande eines trockenen Flusslaufes auf. Hier wuchs noch etwas spärliches Gras für die Pferde und einige Büsche und Sträucher würden den Rastenden Schutz vor allzu scharfem Wind bieten. Während sich Schi-So auf Nahrungssuche begab, kontrollierte Nitsas-Ini das Gebiet, um giftige Schlangen oder gar Skorpione aufzuspüren und zu vertreiben. Gidi richtete mit Hilfe der Satteldecken zwei Schlafplätze her und Anáá' befestigte an einem der Sträucher ein weißes Tuch. Dies tat sie, um umherschweifende Indianer auf sich und ihre Mission hinzuweisen.

Nitsas-IniWo Geschichten leben. Entdecke jetzt