Naaki

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Karl May saß an seinem Schreibtisch in der Villa Agnes und überlegte, wie er den Roman, an dem er gerade arbeitete, zum Abschluss bringen sollte. Seine Gedanken weilten bei dem blonden Indianerknaben Schi-So, der just zu der Zeit, in der diese Geschichte spielte, sein Studium in Deutschland beendet und mit seinem Freund Adolf Wolf nach Amerika zurückgekehrt war.

May lächelte. Schi-So war ein braver Junge gewesen und hatte sein Herz mit Freude erfüllt. Als langjähriger Freund der Eltern des Jungen, der deutschen Gitti Bauer und ihres Mannes, des Navajo-Häuptling Nitsas-Ini, war er selbst es gewesen, der dem damals Elfjährigen die Schule in Deutschland ermöglicht hatte.

Was der Häuptlingssohn wohl im Moment machte? Er musste jetzt Mitte Vierzig sein.

May selbst hatte nichts mehr von ihm gehört, seit er Amerika und damit auch den Indianern den Rücken gekehrt hatte.

Seine noch immer trainierten Sinne vernahmen im Hausflur das Läuten der Hausglocke und er spitzte die Ohren. Wer würde ihn oder Emma um diese Uhrzeit noch besuchen wollen?

May hörte, wie das Mädchen die Tür öffnete. Im Hausflur schien sich nun eine lebhafte Diskussion zu entwickeln und der Dresdener Schriftsteller begab sich an seine Zimmertür, um herauszufinden, mit wem seine Angestellte so heftig sprach.

„Ich möchte Old Shatterhand sprechen", hörte er die dünne Stimme eines Kindes.

„Mädchen, ich sage dir doch, der Herr ist nicht zu sprechen! Er wird schon schlafen, es ist mitten in der Nacht!"

„Ich habe Licht am oberen Fenster erblickt. Es muss noch jemand wach sein. Ich muss sofort in dieses Haus. Ich brauche den Schutz Old Shatterhands!"

May öffnete nun die Tür seiner Stube weit und rief:

„Magda, wer hat da geläutet?"

„Ach, gnädiger Herr, Sie sind noch wach. Hier steht ein Mädchen. Es ist etwas – unreinlich – und möchte Sie sprechen."

„Old Shatterhand?" Die Kinderstimme klang nun weitaus kräftiger und gar nicht mehr verzagt. Auch glaubte May, einen ihm bekannten Akzent herauszuhören.

Nach kurzem Überlegen befahl er:

„Magda, bring das Kind in die Küche! Ich werde hinabkommen und mit ihm sprechen."

Magda senkte den Kopf und ließ dann dieses seltsame Mädchen eintreten, um es in die Küche zu führen.

Im trüben Licht des Hausflures hatte sie den späten Gast nicht genau betrachten können, doch in der Küche brannten mehrere Lampen und Magda musterte das Kind nun von oben bis unten.

Die Kleine mochte zwölf oder dreizehn Jahre alt sein. Ihr dunkelblondes lange Haar hatte sie in zwei straffe Zöpfe geflochten und die grauen Augen schauten herausfordernd in die grünen Magdas. Ihr Gesicht war schmutzigbraun und ein schneller Blick auf die Hände des Kindes ließen den Verdacht in der Bediensteten aufkommen, dass es sich um die natürliche Hautfarbe des Kindes handeln musste. Wahrscheinlich war es eins von diesen Zigeunermädchen, die hoffte, vom Herrn ein paar Pfennige zu bekommen, um dabei auszuspionieren, ob sich ein Einbruch in die Villa lohnte.

Zu ihrer Vermutung passte auch die Kleidung des Kindes: Eine einstmals weiße Bluse, die nun aussah, als sei sie mit Schafskot in Berührung gekommen; ein langer, viel zu weiter Rock, der mittels einer Schnur zusammengehalten wurde und dazu braune Hausschuhe mit einem Perlenmuster.

Magda schüttelte den Kopf. Diese Göre würde sie keinen Augenblick aus den Augen lassen!

Kurze Zeit später betrat Karl May die Küche, die eigentlich Magdas Reich war. Auch er betrachtete das Mädchen genau und auch ihm fiel die außergewöhnliche Hautfarbe auf. Einer Eingebung folgend begrüßte er seinen Gast:

Nitsas-IniWo Geschichten leben. Entdecke jetzt