Verschwunden

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Gidi suchte den Zimmerschlüssel aus ihrer Tasche, um das gemeinsame Zimmer aufzuschließen. Den zweiten Schlüssel hatten sie bei Níyol gelassen, damit diese zur Not das Zimmer verlassen konnte. Zufällig berührte Anáá' die Türklinke und musste feststellen, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Verwundert betraten sie ihr Zimmer und schauten sich um. Níyol war nicht da, und auch ihre Tasche und die Becher mit dem Sand waren verschwunden. Das Bett war zerwühlt, die Türen der Schränke standen offen und Gidis Satteltaschen lagen ausgeleert auf dem Boden.

„Ach du meine Güte, was ist denn hier passiert?"

Gidi klang besorgt. Anáá' durchsuchte hastig das ganze Zimmer und rief dabei immer wieder den Namen ihrer Tochter. Sie schaute aus dem Fenster auf die Terrasse und rannte dann zurück zum Hotelausgang. Gidi folgte ihr. Hektisch erkundigte sie sich beim Portier nach der Enkelin, doch der zuckte nur mit den Schultern.

Unterdessen hatte Anáá' das Hotel umrundet, dabei aber von Níyol keine Spur gefunden. Gidi beschloss zu den Händlern zu laufen, während ihre Schwiegertochter den Store aufsuchen wollte. Vielleicht war Níyol auf die Idee gekommen, von dem Waschgold Süßigkeiten zu kaufen? Doch niemand hatte das Kind bemerkt. Völlig aufgelöst trafen die Frauen vor ihrem Hotel wieder zusammen.

„Anáá', ich werde jetzt den hiesigen Sheriff aufsuchen. Vielleicht kann er uns bei der Suche helfen. Und du gehst zu unseren Brüdern und Schwestern vor der Stadt. Sie sollen ausschwärmen und das Umland durchsuchen. Ich habe ein ganz ungutes Gefühl. Ich glaube nicht, dass Níyol unser Zimmer freiwillig verlassen hat."

Schon rannte Gidi zum Sheriffbüro. Leider war der Mann dort nicht bereit, ihre Sorge ernst zu nehmen und vertröstete sie. Es käme immer mal wieder vor, dass Kinder verschwinden und spätestens zur Nacht wieder auftauchen würden. Wenn Níyol am nächsten Tag noch immer vermisst würde, könne er eine Suche veranlassen.

Zornig verließ Gidi das Büro und suchte den Kommandanten der Soldaten auf. Doch dieser war nicht einmal für sie zu sprechen. Eilig verließ sie das Städtchen und suchte ihre Schwiegertochter. Diese stand noch bei den Diné, die gerade ihre Pferde bestiegen, um die Umgebung nach dem Kind abzusuchen.

„Anáá', wir sind auf uns selbst gestellt. Niemand im Fort scheint es zu beunruhigen, dass Níyol verschwunden ist."

Die junge Frau schrie verzweifelt auf und Gidi nahm sie in den Arm. Dann wandte sie sich den Diné zu. Keiner der Männer war ein ausgebildeter Krieger. Zwar hatten alle die indianische Schule durchlaufen, doch nun waren sie Bauern und Händler und nicht mehr darin geübt, Entscheidungen außerhalb ihres Wirkungsbereichs zu treffen. Sie durchsuchten das Umland, konnten aber nichts entdecken.

Gidi überlegte. Sie hatte schon zu viel erlebt, wusste um die Gefahren des Lebens und ihr war klar, dass die Diné kein Volk mehr waren, welche sich in Krisensituationen behaupten konnten. Doch durfte sie es wagen, das Kommando zu übernehmen? Konnte sie das überhaupt?

Sie sah Anáá' an, die sich wieder beruhigt hatte, und fasste einen Entschluss.

„Weiß einer von meinen Brüdern und Schwestern, wo der Schamane „eine Feder" seinen Hogan hat?"

Einer der älteren Männer meldete sich.

„Würdest du dorthin reiten und Schi-So informieren, was hier passiert ist? Wenn du dich beeilst, kannst du morgen Abend dort sein. Mein Sohn wird dann wissen, was weiter zu tun ist. Nimm noch jemanden mit, du solltest nicht allein reiten."

Der Mann nickte und verschwand sofort, um den Auftrag auszuführen.

„Wer von euch spricht am besten Englisch? Der reitet bitte zur Umspannstation New Lake und fragt dort Jack Ecklestone, ob ihm etwas aufgefallen ist."

Nitsas-IniWo Geschichten leben. Entdecke jetzt