Beginnende Dunkelheit

12 3 10
                                    

Nitsas-Ini hatte das Gefühl, dass die Welt sich um ihn herum veränderte. Er nahm alles immer verschwommener wahr und fühlte sich unwohl, wenn er auf dem Felsen über dem See saß. Seine sonst stets scharfen Augen hatten sich getrübt und die Konturen der Menschen wurden nach und nach undeutlicher. Schweren Herzens suchte er den Medizinmann der Diné auf. Seit die Freundin, die sich früher um die Krankheiten der Diné gekümmert hatte, zu den Ahnen aufgebrochen war, hatte ihr Gehilfe und Lehrling Azee'ííłʼíní (Medikus) ihre Stelle eingenommen.

Azee'ííłʼíní hatte sich seine Augen angeschaut.

„Nitsas-Ini hat den grauen Schleier. Seine Augen werden sich verdunkeln, bis er nichts mehr sehen wird. Azee'ííłʼíní könnte ihm in das Auge stechen, um den Schleier zu entfernen. Doch hat er dies noch nie gemacht und er weiß, dass der Häuptling damit ein großes Risiko eingeht."

„Was könnte passieren?"

„Ich kann das Auge so verletzen, dass es ausläuft und Nitsas-Ini eine leere Augenhöhle zurückbehält. Das Risiko einer Infektion ist noch größer. Dann frisst sich der Wundbrand durch sein Gesicht."

„Ich danke dir, dass du so ehrlich zu mir bist. Wie lange werde ich noch sehen können?"

„Das weiß ich nicht. Du wirst immer schlechter sehen können, irgendwann nur noch hell und dunkel unterscheiden, bis du nur noch die Schwärze wahrnimmst."

Am Abend saß Nitsas-Ini mit seiner Frau vor ihrem Hogan. Wie gewohnt erzählten sie sich ihre Erlebnisse des Tages. Irgendwann fragte Gidi:

„Geliebter, was bedrückt dich? Du bist in letzter Zeit so verändert."

„Geliebte, es fällt mir schwer, darüber zu reden. Doch du musst es erfahren. Ich leide am grauen Schleier und werde erblinden."

Gidi umarmte ihren Mann.

„Ich habe es schon länger in deinen Augen gesehen. Doch wollte ich warten, bis du selbst davon sprichst."

„Ich habe Azee'ííłʼíní aufgesucht und er hat nur wenig Hoffnung. Er kann versuchen, meine Augen zu heilen, doch er hat nicht viel Hoffnung."

„Soll ich einen weißen Arzt um Rat fragen? Ich wollte sowieso in der nächsten Zeit noch einmal nach Santa Fé reisen, um mit unseren Handelspartnern zu sprechen."

Nitsas-Ini nickte.

Für Gidi war es mittlerweile Routine, nach Santa Fé zu fahren. Wie gewohnt ritt sie in Begleitung der Handelskarawane zum Fort Defiance, bestieg dort die Postkutsche und nutzte den Aufenthalt in der Poststation New Lake, um sich umzukleiden. In Gallup bestieg sie den Zug bis Santa Fé, nahm sich dort ein Hotelzimmer und traf sich mit ihrem Anwalt und den Handelspartnern.

Dann suchte sie einen bekannten Arzt auf. Dieser bestätigte ihr die Diagnose des Medizinmanns und auch er riet von einer Operation ab. Zwar hatte er mehr Routine darin, die trübe Linse zu verschieben, doch auch er wusste, dass es keine Garantie auf Erfolg gab. Das Risiko einer Infektion war groß.

Mit dieser Information kam Gidi zurück ins Dorf.

Nitsas-Ini ließ sich Zeit mit einer Entscheidung. Er beriet sich auch mit seinem Sohn, der den Vorschlag machte, mit ihm nach Deutschland zu reisen, um dort eine Augenklinik aufzusuchen.

Lange überlegte der Häuptling, welche Entscheidung er treffen sollte. Um sich weitere Klarheit zu beschaffen, bat er darum, einen Sänger herzuholen.

Gidi hatte einen Schamanen bestellt und die ganze Familie und alle Freunde Nitsas-Inis waren gekommen, um ihn bei seiner Heilung zu unterstützen. Doch bevor der Mann sein Werk begann, setzte er sich mit dem Häuptling zu einem Gespräch zusammen.

Nitsas-IniWo Geschichten leben. Entdecke jetzt