Traditionen

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Gidi hatte einen Brief von ihrem Sohn bekommen, der nur für sie allein bestimmt war. Das hatte er extra auf dem Umschlag vermerkt.

Sie drehte diesen mehrere Male um und war sich unsicher, ob sie nicht doch ihrem Mann etwas davon erzählen sollte. Sie beschloss, den Brief erst einmal allein zu lesen und dann eine Entscheidung zu treffen.

Sie zog sich auf einen Felsen oberhalb des Sees zurück und öffnete den Umschlag vorsichtig. Sie musste ihn zweimal lesen, bis sie verstand, was ihren Sohn bewegte.

Liebe Mama,

ich sende dir einen liebevollen Kuss. Und ich bitte dich, nicht mit Papa über dieses Thema zu sprechen, er wird es nicht verstehen. Ich habe einen Schritt aus dem Diné hinausgewagt, einen Schritt aus den Traditionen. Ich weiß, dass ich die Lebensweise der Diné eigentlich verinnerlicht habe, aber ich habe auch ein Stück Europa, Deutschland, in mir. Und ich habe die Freiheit, zu wählen.

Eigentlich hat alles damit angefangen, als ich Bekanntschaft mit dem Pferd machte, welches jetzt Adolf gehört. Ich habe dir nie dessen Namen geschrieben, da ich weiß, dass der Diné den Namen eines Toten nicht mehr ausspricht. Doch du bist keine Diné und du wirst mich verstehen.

Das Pferd heißt Sternschnuppe, so wie meine kleine Schwester. Und ich habe den Rappen auch immer so gerufen. Und bis jetzt hat mich der böse Geist meiner Schwester noch nicht gestreift, und ich glaube auch nicht, dass dies noch passieren wird. Ich möchte so denken wir du. Erinnerungen an den Menschen in mir tragen, den ich geliebt habe.

Ich habe erlebt, wie die Familie Wolf immer wieder über ihre tote Tochter redete, sie lebendig hielt durch ihre Erinnerungen. Und es hat mir keine Angst gemacht, sondern gutgetan.

Und nun habe ich beschlossen, auch über So' Ndaajeehí zu sprechen oder zu schreiben. Mit dir. Ich weiß, dass du manchmal mit Onkel Martin von ihr sprichst und dass Papa dann einen großen Bogen um euch macht. Ich möchte Papa nicht verletzen, nicht das Diné leugnen, aber in dieser einen Sache möchte ich Deutscher sein. Glaubst du, mein Volk wird dies verstehen? Oder werden sie denken, dass ich sie verrate? Vielleicht kannst du Káalógii um Rat fragen? Ich bin mir so unsicher. In Liebe, dein Schi-So

Gidi hatte Tränen in den Augen und fühlte die Verzweiflung ihres Sohnes fast körperlich. Der arme Junge war zwischen den Kulturen hin- und hergerissen.

Sie selbst hatte damit nie ein Problem gehabt, aber bei ihr war es ja auch andersherum gewesen. Sie war aus Deutschland zu den Diné gekommen, hatte nicht den Druck der Familientraditionen im Hintergrund und musste auf niemanden Rücksicht nehmen. Sie beschloss, sich mit ihrer Freundin, der Medizinfrau, zu besprechen.

Sofort setzte sie ihren Entschluss in die Tat um und suchte den Hogan Káalógiis auf. Doch diese war nicht da. Dafür begegnete sie ihrer Freundin und Adoptivtante Ch'il. Auch mit ihr konnte sie solche intimen Fragen besprechen und sie bat die Nadleehé, sich mit ihr zusammenzusetzen.

Ch'il holte ihr Kalumet und sie machten es sich vor deren Hogan gemütlich. Rauchend und schweigend saßen die Frauen eine Zeitlang zusammen. Gidi konnte sich sammeln und ihr Anliegen in Gedanken formulieren.

Das Beste würde sein, der Freundin den Brief ins Englische zu übersetzen. Das tat sie dann auch.

Ch'il hörte geduldig zu. Nachdenklich zog sie an ihrem Kalumet und schwieg eine lange Zeit.

„Ich glaube, die Diné sind noch nicht so weit, die Haltung Schi-Sos zu akzeptieren", sagte sie dann.

„Er sollte seine Erkenntnisse für sich behalten und erst darüber sprechen, wenn die Zeit gekommen ist. Solange er in Deutschland weilt, wird dies kein Problem für ihn sein. Wenn er zurück zu uns kommt und seine Haltung dann noch dieselbe ist, kann er sich mit seiner Familie besprechen. Doch du solltest keine Geheimnisse vor deinem Mann haben. Sprich mit ihm!"

Nitsas-IniWo Geschichten leben. Entdecke jetzt