Anáá'

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Gidi beschloss, dass es Zeit war, die junge Frau kennen zu lernen. Sie suchte den Hogan der Freundin auf und fand diese vor demselben sitzen.

„Káalógii, was macht dein Schützling?", fragte sie die Medizinfrau.

„Sie ist körperlich in einer guten Verfassung, muss aber noch fleißig essen und trinken, damit ihr Körper sich ganz erholt."

„Kann ich mit ihr sprechen?"

„Natürlich. Sie ist in der Hütte und beschäftigt sich mit einer Handarbeit. Noch möchte ich sie nicht hinauslassen, denn sie ist es nicht gewohnt, eigene Entscheidungen zu treffen."

„Gut. Dann werde ich ihr erzählen, wie ihr zukünftiges Leben aussieht. Ich bin gespannt, wie sie reagieren wird."

„Sei gnädig mit ihr!"

„Ich versuche es."

Gidi betrat nun den Hogan, in dem ein nur dämmeriges Licht herrschte. Sobald sich ihre Augen daran gewöhnt hatten, sah sie das Mädchen auf dem Boden sitzen, eine Näharbeit in der Hand. Sie schaute nicht hoch, auch nicht, als die Weiße sie begrüßte,

„Ya'at'eeh, ich bin Gidi, die Mutter Schi-Sos, der dich gefunden und hergebracht hat."

„Ya'at'eeh", flüsterte die Namenlose.

„Du kommst jetzt mit mir, denn mein Sohn hat dich mir geschenkt."

Sofort legte die junge Frau ihre Arbeit nieder, stand auf und folgte Gidi mit gesenktem Kopf. Die Fremde blieb genau drei Schritte hinter Gidi, die nun zurück zu ihrem Hogan ging. Dort angekommen, befahl sie der Namenlosen näherzutreten.

„Wie heißt du?"

„Ich bin ein Niemand, ich trage keinen Namen. Nenne mich, wie du willst!"

Gidi fasste die Frau unter ihr Kinn und hob deren Kopf. Zum ersten Mal konnte sie nun in das vernarbte Gesicht blicken, sah die vom nutzlosen Lid zusammengeklebte Augenhöhle und blickte ihr dann fest in das verbliebene hellbraune Auge.

„Ich werde dich Anáá' - Auge nennen."

Befriedigt sah Gidi, wie es in Anáá's Auge kurz wütend aufblitzte. Sie hatte die junge Frau absichtlich gereizt, um zu prüfen, ob noch eigenes Leben in ihr war und war mit dem Ergebnis zufrieden.

„Anáá' dankt ihrer Herrin für den Namen."

„Das glaube ich dir ja nicht wirklich", murmelte Gidi auf Deutsch. Diesmal zuckte das Mädchen leicht zusammen. Was war das? Hatte sie sie verstanden? Nachdenklich schaute Gidi auf die Fremde, die noch immer ihr Leinenhemd trug.

„Zuerst wirst du nun baden, dann kannst du deine Wunden versorgen. Du wirst dein Haar kämmen und die Kleidung anziehen, die ich dir gebe."

Gidi nahm ein Bündel, welches sie vorbereitet hatte, und führte Anáá' zum See.

Gidi beobachtete die junge Frau, als diese ins Wasser stieg, um sich zu reinigen. Der Körper war übersät von kleinen und großen Narben, einigen frischen Wunden und Striemen. Sie erinnerte sich, wie sie einst selbst in diesem See stand, hilflos und geschändet. Doch was sie selbst erlebt hatte, war wahrscheinlich eine Wohltat im Gegensatz zu dem, was Anáá's Körper erzählte.

Die junge Frau war eindeutig eine Indianerin, vielleicht eine Ute oder Cherokee. Sie hatte langes verfilztes Haar, welches sie jetzt versuchte zu entwirren.

Anáá' schien keinerlei Scham zu empfinden, wusch sich völlig emotionslos vor der Weißen und kam dann nackt auf diese zu. Gidi reichte ihr Handtücher und einen Topf mit Salbe, damit sie sich abtrocknen und ihre Wunden versorgen konnte.

Nitsas-IniWo Geschichten leben. Entdecke jetzt