Der Weg der Diné

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Gidi war verzweifelt. Sie tat natürlich alles dafür, dass es ihrem Mann besser ging, doch sie konnte seine Seele nicht erreichen. Leblos, wie tot, lag er vor ihr und reagierte auf keine ihrer Berührungen oder Worte. Sie vermisste auch ihre Freundinnen, niemand hatte sie bis jetzt aufgesucht oder ihre Unterstützung zugesagt. Das verwirrte sie. Warum nur kam niemand zu ihr?  War das wieder eine Eigenart der Diné? Waren diese der Meinung, sie müsse allein mit allem zurecht kommen? Als die Medizinfrau einige Stunden später wieder nach ihrem Patienten schaute, sprach sie diese an.

„Káalógii, ich habe mir Gedanken gemacht. Ich würde gern einen Sänger für Nitsas-Ini in unseren Hogan einladen. Aber ich habe keine Ahnung, wie ich das anstellen soll und vor allem, welche Art von Gesang mein Mann braucht. Ich brauche eure Hilfe und verstehe nicht, dass keiner meiner Freunde zu mir kommt."

„Endlich! Gidi, das ganze Dorf wartet darauf, dass du dich öffnest und Hilfe annimmst."

„Du verwirrst mich."

„Die Tür eures Hogans ist verschlossen."

„Ich möchte meinem Mann Privatsphäre bieten."

„Es ist für alle das Zeichen, dass du allein mit der Situation fertig werden möchtest und keine Hilfe brauchst."

„Ach nein, das wollte ich damit nicht ausdrücken. Ich brauche euch, meine Freunde, meine Familie."

„Dann öffne die Tür!"

„So gern! Doch erst möchte ich wissen, ob und welcher Gesang helfen könnte."

„Du bist nur wenig vertraut mit unseren Heilmethoden. Nitsas-Ini braucht einen Sänger, der den Weg der Heilung kennt und ihn besingen kann. Ich werde mich um alles kümmern, sei unbesorgt!"

Káalógii hielt Wort. Ein Heiler, der für die vorherrschende Situation geschult war, kam ins Dorf. Er setzte sich mit der Familie von Nitsas-Ini zusammen in dessen Hogan und besprach mit ihnen die Umstände, die zu dem Zustand des Häuptlings geführt hatten. Danach wählte er die Materialien aus, die er für seine Heilungszeremonie brauchte.

Dann kamen alle Beteiligten zusammen und setzten sich an die Wände des Hogans, sodass sie einen Kreis um Heiler und Kranken bildeten. Sie wurden gebeten, das Fördern der Harmonie durch rechte Gedanken (hózhó ntséskees - Denken in Schönheit) zu unterstützen. Auch Gidi durfte an der Zeremonie teilnehmen, denn sie konnte versprechen, ihre Gedanken auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Auf die vorgeschriebene Weise begann der Heiler mit seinem Gesang, erzählte zuerst die Entstehungsgeschichte der Diné und nahm dann Bezug auf die aktuelle Situation. Während er in Metaphern den Kern der Sache traf, nämlich das Verantwortlichsein für das Ableben mehrerer Menschen, die Schuld, die Nitsas-Ini auf sich geladen hatte, bildete er mit den vorgeschriebenen Materialien das dazugehörige Sandbild.

Während der Erstellung des Sandgemäldes erzählte der Sänger den Teilnehmern, woher das Bild stammte und mit welchen mythischen Geschichten es verbunden war. Der Kranke wurde auf das Bild gelegt.

Dann sprach der Sänger von Mythen und Ereignissen, die dem Nitsas-Inis ähnelten, brachte das Verständnis zum Ausdruck, welches dem Menschen zuteilwurde, der einen Fehler begangen hatte. Er bestreute den Häuptling mit Maispollen, Sand und Cerealien. Anschließend wurde er wieder gesäubert und aus den Hogan getragen, der aufgehenden Sonne entgegen, die den Anfang alles Neuen symbolisierte. Unterdessen zerstörte der Heiler das Sandbild, welches bei der Zeremonie von Nitsas-Ini alles Böse genommen hatte.

*

Nitsas-Ini war von dem Überfall völlig überrascht worden. Schnell gebot er vier seiner Krieger, den Wachen am östlichen Ausgang zu Hilfe zu eilen. Die ihm unterstehenden Häuptlinge schickte er in das Tal und Khasti-tine musste sich um die Frauen und Kinder kümmern, die in den schmalen Hohlweg geleitet wurden.

Nitsas-IniWo Geschichten leben. Entdecke jetzt