Winni

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Nitsas-Ini erwachte. Seinem Gefühl nach musste es kurz nach Mitternacht sein. Sehen konnte er nichts, denn sein Augenlicht war seit kurzem ganz erloschen. Vor wenigen Wochen noch hatte er mit dem linken Auge wenigstens eine klein wenig hell und dunkel erkennen können, doch dann hatte sich auch diese Lücke geschlossen.

Er lauschte in die Dunkelheit und vernahm das Knacken des Holzes, aus dem ein Großteil seines Hogans bestand. Seine Hand tastete vorsichtig auf den Platz neben sich, doch dort fühlte er nur eine Unzahl von Kissen und Fellen. Wahrscheinlich lag seine Frau zusammengerollt unter all dem und würde gegen Morgen nassgeschwitzt erwachen. Meist nahm sie dann alle Decken, warf sie auf ihn und stöhnte was von: „Mir ist warm."

Er versuchte ihren Atem zu erlauschen doch Gidi hatte einen sehr ruhigen Schlaf, bewegte sich kaum und atmete nur leise wenn sie nicht gerade auf dem Rücken lag und schnarchte. Wenn sie sich unter die Decken gerollt hatte, war es für ihn, als wäre sie gar nicht vorhanden.

Leise stand er auf, nahm den Weg im Uhrzeigersinn durch den Hogan, wie es seit Jahrhunderten das Ritual der Diné war, und trat aus der Tür hinaus in die kühle Nacht. Er überlegte, wie praktisch es doch war, mit einer Weißen verheiratet zu sein. Sie brauchte sich nicht an die Traditionen zu halten, musste keine Angst haben, das Unheil auf sich zu ziehen, wenn sie sich falsch verhielt, und darum lagen sie so zusammen auf ihren Fellen, dass er nicht über sie steigen musste, wenn er die Hütte verlassen wollte. Denn auch das Übersteigen eines anderen war eine Herausforderung für die bösen Geister. Gidi nahm stets den kürzesten Weg, wenigstens in ihrem eigenen Hogan.

Nun lauschte Nitsas-Ini in die Dunkelheit. Für ihn hatte die Nacht etwas ganz Besonderes:

keine störenden Geräusche von herumlaufenden Menschen, kein Klopfen oder Hämmern des Silberschmiedes und keine Gespräche der webenden Frauen. Nur die Natur: das Rauschen der Bäume im Wind, der Ruf der Käuzchen und das Rascheln einer Maus im Gras. Langsam atmete er die würzige Luft ein. Sie schmeckte nach Tannennadeln, Schafwolle und kalter Asche.

Mit sicherem Schritt begab er sich zum See. Er kannte die Wege im Dorf, jeden einzigen Stein, jede Sandkuhle und jede Unebenheit und bewegte sich so sicher, als könne er sehen.

*

Gidi saß am See. Der Vollmond spiegelte sich auf der glatten Wasserfläche und es war fast so hell wie am Tage. Sie hatte nicht schlafen können und sich aus ihrem Hogan geschlichen, um hier am See zur Ruhe zu kommen. Sie machte sich Sorgen.

Ihr Mann war eigentlich ein sehr ausgeglichener Mensch. Selbst die Erblindung und die damit verbundenen Konsequenzen hatte er mit Gleichmut hingenommen. Doch seit einiger Zeit spürte sie die Unruhe, die Nitsas-Ini ergriffen hatte. Nun überlegte sie, ob sie ihn darauf ansprechen sollte oder nicht.

Plötzlich hörte sie das leise Geräusch eines rollenden Steinchens. Jemand kam den Pfad zum See entlang. Schon wollte Gidi sich bemerkbar machen, als sie ihren Mann im Mondlicht erkannte.

*

Nitsas-Ini stand nun am Ufer, breitete die Arme weit aus und murmelte etwas vor sich hin. Dann stieg er langsam ins Wasser und begann mit kräftigen Zügen zu schwimmen.

Gidi lächelte versonnen. Ihr Mann zählte über achtzig Jahre, doch sein Körper war weiterhin kräftig und durchtrainiert. Auch wenn seine Haut schon lange nicht mehr die Elastizität der Jugend aufwies, bewunderte sie diesen Körper ungemein. Ihre eigene Haut war schlaff geworden und die Sonne Arizonas hatte ihre Arme und das Gesicht nicht nur gebräunt, sondern auch besonders faltig werden lassen. Etwas, was den Diné nicht passierte, da ihre dunkle Hautfarbe die Sonnenstrahlen filterten.

Nitsas-Ini hatte mittlerweile die Mitte des Sees erreicht und sich auf den Rücken gelegt. Die leichte Strömung trieb ihn langsam auf das andere Ufer zu. Dann drehte sich sein Körper, als er einen kleinen Strudel passierte und er rollte sich wieder auf den Bauch.

Nitsas-IniWo Geschichten leben. Entdecke jetzt