Nitsas-Ini

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Nitsas-Ini (Großer Donner) stand am Rande eines Waldes und breitete die Arme aus, um die Sonne zu begrüßen, die den Beginn eines neuen Tages ankündigte.

Der junge Navajo führte eine Gruppe von Jägern an, die ausgezogen waren, um die Bewohner ihres Dorfes am Wheatfield Lake mit Nahrung zu versorgen. Zwar lebte der Stamm schon seit langem von der Ernte ihrer Felder und der Zucht von Schafen, doch reichten diese Nahrungsmittel oft nicht aus, alle Bewohner des Dorfes zu ernähren, sodass auch immer wieder kleine Jägertrupps durch die Wälder streiften, um Wild zu erlegen.

Wie gewohnt hatte man ein Lager in den Wäldern aufgeschlagen, in dem das erlegte Wild zusammengetragen und von Boten mit Hilfe einiger Packpferde zum Dorf gebracht wurde. Dort konnte das Wild von den Frauen aufgebrochen und zum Verzehr zubereitet werden, bevor es verdarb.

In den letzten Tagen waren die Navajos sehr erfolgreich gewesen und hatten beschlossen, nur noch den heutigen Tag zur Jagd zu nutzen und am nächsten Tag das Lager abzubrechen, um nach Hause zurückzukehren.

Nach dem Frühstück zogen sie alle noch ein letztes Mal los, jeder für sich und auf der Suche nach Kleinwild wie Kaninchen oder Wildgänse.

Nitsas-Ini war zufrieden mit sich und seinen Männern. Daher gönnte er sich diesen letzten Tag der Jagd, um ohne seine Begleiter loszuziehen.

Mit Pfeil und Bogen bewaffnet, um das Kleinwild nicht mit Kugeln zu verderben, hatte er seinen Mustang bestiegen und sich nach Osten aufgemacht, während sich seine Leute nach Süden und Norden orientierten. Aufmerksam nach rechts und links schauend hatte er sich eine Bodensenke als Ziel ausgesucht, in der erfahrungsgemäß eine Kolonie Präriehunde hauste.

Ein grausamer Schrei hallte über die Ebene und ließ den Navajo erstaunt sein Pferd zügeln. Noch einmal ertönte der Ruf, der weder menschlich noch nach einem Tier klang, dann herrschte Stille. Der Indianer suchte den Horizont mit den Augen ab, konnte aber nichts erblicken, welches ihm einen Fingerzeig darauf geben konnte, wer den Schrei ausgestoßen hatte. Darum setzte er seinen Mustang mit einem kurzen Schenkeldruck wieder in Bewegung, verdoppelte aber seine Aufmerksamkeit.

Langsam näherte er sich der von ihm angesteuerten Bodensenke, als er die Gestalt, die an deren Rand lag, erblickte. Misstrauisch nahm er seinen Revolver zur Hand, lenkte sein Pferd nach rechts und wagte einen Blick hinunter in das kleine Tal. Sorgfältig musterte er jeden Baum, jeden Strauch und jeden Felsen, bis er sich sicher war, in keine Falle zu geraten. Er umkreiste die Senke und fand die Spuren der Männer, die Gitti mit sich geschleppt hatten. Nach gründlicher Untersuchung der Fährte kam er zu dem Schluss, dass drei Reiter hier die Senke betreten und auch wieder verlassen hatten. Eines der Pferde schien zuerst eine große Last getragen zu haben, denn die Spuren desselben waren viel tiefer als die der anderen Mustangs. Beim Verlassen aber trugen alle Pferde nur noch die normale Last des Reiters. Die Spur führte nach Osten, entgegengesetzt zu der Richtung, in dem das Dorf der Navajos lag.

Erst dann stieg er ab und näherte sich der am Boden liegenden Person.

„Oh!", entfuhr es ihm leise und er kniete sich rasch neben Gitti. Erschrocken sah er auf die Wunden, Kratzer und blauen Flecke, von denen ihr Körper übersät war. Leicht berührte er ihren Arm, musste aber feststellen, dass das Mädchen inzwischen bewusstlos war. Er tastete nach ihrem Puls, der zwar flach, aber regelmäßig schlug und ihm mitteilte, dass die junge Frau vor ihm noch lebte. Schnell trat er zu seinem Pferd und löste den Wasserbeutel vom Sattel. Dann ging er wieder zu der Weißen und benetzte deren Gesicht mit dem kühlen Nass. Doch sie reagierte nicht auf diese Wohltat.

Vorsichtig hob der Indianer die Weiße auf und trug sie zu seinem Pferd. Er legte die leblose Frau quer über den Pferderücken und stapfte zu Fuß zurück zu seinem Lagerplatz.

Gitti erwachte kurz und war entsetzt. Wieder befand sie sich in den Händen von Indianern, wieder lag sie quer auf einem Pferderücken. Konnte das nicht endlich zu Ende sein? Sie versank wieder in ihre Bewusstlosigkeit, wurde nur selten für ein paar Sekunden wach, träumte wirres Zeug und wollte nur noch sterben.

Als Nitsas-Ini mit der Bewusstlosen das Lager erreichte, empfing ihn nur der Wächter. Kurz berichtete er diesem, was passiert war und bedeutete dem jungen Krieger, die Weiße in das Navajo-Dorf zu bringen. Dort sollte sich die Medizinfrau um das Mädchen kümmern.

Nachdem auch die anderen Krieger mit ihrer Jagdbeute zum Lagerplatz zurückgekommen waren, beschloss der junge Unterhäuptling, das Lager abzubrechen und trotz der Mittagshitze zurück zum Dorf zu reiten.

*

Es war nach Mitternacht, als die Krieger ihr Dorf erreichten. Sie versorgten die Pferde und verstauten die Jagdbeute in der dafür vorgesehenen Hütte und begaben sich dann zur Ruhe.

Nur Nitsas-Ini suchte nicht sofort den Hogan auf, den er mit seinem Vater, dem Häuptling Łizhinii Bik'á' (Schwarzer Pfeil) bewohnte, sondern schaute noch kurz bei der Medizinfrau vorbei, um sich nach der verletzten Weißen zu erkundigen.

Er kratzte an der Tür des Medizinhogans und wartete darauf, hineingelassen zu werden. Eine ältere Frau bat ihn herein und forderte ihn zum Sprechen auf.

„Wie geht es ihr, Káalógii (Schmetterling)?"

„Sie ist noch nicht zu sich gekommen. Ich habe ihre Wunden versorgt und die von der Sonne verbrannte Haut mit einer kühlenden Salbe eingerieben. Mehr kann ich nicht tun. Sie muss erwachen und dann viel trinken. Wer weiß, wie lange sie schon in der Sonne gelegen hat."

Der Indianer nickte und suchte nun endlich seine eigene Lagerstatt auf.

*

Langsam kam Gitti wieder zu sich und diesmal war ihr Verstand wach und klar. Ihre Augen waren noch geschlossen und sie versuchte, ihre derzeitige Lage zu erfassen. Sie lag anscheinend auf einer weichen Unterlage, war zugedeckt und ihre Gliederschmerzen waren nicht mehr ganz so schlimm.

Sie öffnete die Augen und bemerkte, dass sie sich in einer aus Lehm erbauten festen Unterkunft befand. Licht fiel durch die Tür, die nicht verschlossen war. Sie neigte ihren Kopf nach links und bemerkte eine Indianerin, die - mit einer Handarbeit beschäftigt - auf einer Decke saß. Die Frau musste die Bewegung ihres Kopfes bemerkt haben, denn sie legte ihre Arbeit nieder, stand auf und kam auf sie zu.

Gidi wollte schreien, doch sie brachte nur ein heiseres Krächzen zustande. Ängstlich kroch sie in die äußerste Ecke ihrer Schlafstatt und beobachtete die Wilde, die aus einer Nische eine Schale mit kühlem Wasser holte und ihr diese reichte. Gierig trank Gitti die Schale leer und behielt dabei die Frau im Auge, deren ruhige Bewegungen ihr Vertrauen einflößte.

„Danke!", seufzte sie, um anschließend ihre Fragen zu stellen. „Wo bin ich? Wer seid Ihr? Was ist geschehen?"

Sie hatte unwillkürlich deutsch gesprochen, nicht beachtend, dass sie sich in Amerika befand.

Hilflos zuckte die Indianerin mit den Schultern. Dann machte sie die Bewegung von Essen und Trinken. Gitti schüttelte den Kopf, setzte sich auf und machte die Bewegung von Waschen und Schwimmen. Die Indianerin lächelte, nahm das Mädchen bei der Hand und führte es an die Tür.

Gitti bemerkte, dass sie immer noch ihre zerfetzte Kleidung trug und dass sie nach Urin und Erbrochenem stank. Erschrocken schaute sie zurück in den Raum, ließ die Hand der Fremden los, griff nach einer der Decken und hüllte sich darin ein. Erst dann traute sie sich ganz aus der Hütte hinaus. Langsam schaute sie sich um, als sie der Indianerin zu einem See folgte. Überall standen diese Lehmhütten in großen Abständen zueinander. Das Dorf schien recht groß zu sein, aber es waren keine Menschen zu sehen. Die Sonne brannte erbarmungslos auf sie nieder und sie vermutete, dass die Bewohner der Hütten Siesta machten.

Am See angekommen, stieg sie mit Kleidung in denselben. Wie wohltuend war das Wasser auf ihrer Haut! Ohne lange zu überlegen, rubbelte sie mit dem losen Ufersand ihren gesamten Körper kräftig ab. Jede Bewegung schmerzte, jedes Sandkorn brannte auf ihrer Haut, doch sie hatte das Gefühl die gesamten letzten Tage und damit auch das, was ihr passiert war, von sich abwaschen zu müssen.

Nitsas-IniWo Geschichten leben. Entdecke jetzt