Fieber

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„Opa, Opa!!!!"

Drei Kinder kamen auf Nitsas-Ini zugestürmt, als dieser den Hogan seines Sohnes aufsuchen wollte. Allen voran die zehnjährige Níyol (Wind), die begeistert ihrem Großvater in die Arme sprang. Dicht darauf folgten Łáa'ii (eins) und Naaki (zwei), die sechsjährigen Zwillinge. Auch sie wollten den Großvater begrüßen, besannen sich aber gerade noch rechtzeitig auf ihre Erziehung, blieben knapp vor dem Häuptling stehen und senkten den Kopf.

Nitsas-Ini lächelte. Er liebte seine Enkel und tolerierte auch das stürmische Verhalten seiner Enkelin denn ihm war durchaus bewusst, wessen Erbe Níyol in sich trug.

Obwohl ihr Haar pechschwarz, die dunkelbraunen Augen leicht schräg standen und ihre Haut den dunklen Bronzeton der Diné hatte, war ihr inneres Wesen ein genaues Abbild seiner Frau Gidi.

Er setzte Níyol ab und begrüßte die Zwillinge zurückhaltend. Beide hatten hellbraune Haare, graue Augen und die etwas hellere Haut ihres Vaters.

Anáá', Nitsas-Inis Schwiegertochter, kam aus dem Hogan, ihre jüngste Tochter Másí (Kätzchen) auf dem Arm.

„Wie schön, dass du vorbei kommst, Nitsas-Ini. Ist Gidi auch mitgekommen?"

„Nein, ich wollte mit Schi-So sprechen."

„Er befindet sich im Schulhaus und ergänzt die Bücher des Sägewerks. Sollen Łáa'ii und Naaki ihn holen?"

„Nein, ich werde ihn dort aufsuchen."

Schi-So blickte erstaunt auf, als sein Vater den Schulhogan betrat. Hier befand sich der einzige Tisch im ganzen Dorf, an dem man Schreibarbeiten erledigen konnte. Vor über zehn Jahren hatte der blonde Diné den Schreibtisch nebst Stuhl aus seinem Hogan verbannt und in die Schulhütte gestellt. Wann immer er Schreibarbeiten zu erledigen hatte, setzte er sich an diesen. Er hätte auch auf den Knien oder dem Boden schreiben können, doch die Schuljahre in Deutschland hatten ihn geprägt.

„Papa, was kann ich für dich tun?", begrüßte er seinen Vater.

Genau wie seine Kinder benutzte er für die Worte Papa, Mama, Opa und Oma die deutsche Sprache. Er fand diese Bezeichnungen intimer als die Verwandtschaftsbezeichnungen der Diné. Ansonsten sprach er mit seinem Vater in der Sprache der Diné.

„Ich möchte mit dir reden. Magst du mit mir ausreiten?"

„Natürlich."

Schi-So klappte seine Hefte zu, verstaute diese in einer Schublade im Schreibtisch und folgte Nitsas-Ini zu den Pferdeherden. Dort fing sich jeder einen ihrer Mustangs und sie verließen das Dorf.

Nach einer Weile des Schweigens lenkte Nitsas-Ini sein Pferd zum Wheatfield Creek und stieg an dessen Ufer ab. Schi-So tat es ihm nach und band die Pferde an einen Baum. Gemeinsam setzten sie sich an den Rand des kleinen Flusslaufes.

„Schi-So, ich mache mir Sorgen um Gidi."

„Was ist passiert?"

„Ich glaube, sie ist krank. Sie spricht nicht mit mir darüber und ich mag nicht fragen. Aber ich bemerke Veränderungen an ihr. Mal hat sie sehr gute Laune, dann wirkt sie grundlos traurig. Des Nachts hat sie Fieberschübe, die sie vor mir verbirgt. Aber häufig ist ihr Fell morgens nass vor Schweiß, sodass sie dieses zum Trocknen aufhängen muss. Sie träumt viel lebhafter als früher und hat sogar an Gewicht zugenommen. Ich mache mir echte Sorgen."

„Warum fragst du sie nicht, was los ist?"

Nitsas-Ini schaute seinen Sohn lange an. Dann seufzte er.

„Schi-So, ich habe Angst vor der Antwort. Sie ist mein Leben. Wenn sie wirklich krank ist, warum verheimlicht sie mir das? Es kann nur einen Grund haben: Sie möchte mir nicht wehtun, und das kann nur bedeuten, dass es keine Heilung gibt. Wenn ich sie verliere, bin ich nicht mehr komplett."

Er griff nach der Hand seines Sohnes. Hier, in der Einsamkeit der Natur, konnte er seinen Gefühlen freien Lauf lassen.

„Soll ich mit ihr sprechen?", fragte Schi-So.

„Nein, wenn sie nichts sagen möchte, dann müssen wir dieses akzeptieren. Aber ich bin froh, dass ich meine Sorge mit dir teilen darf."

Sie saßen noch längere Zeit beisammen, bevor sie sich auf den Rückweg zum Dorf machten.

*

Gidi verfluchte ihren Körper. Immer wieder fühlte sie diese Hitze in sich, die aus heiterem Himmel ihren Körper überfiel. Oft wachte sie des Nachts schweißgebadet auf und fröstelte dann, wenn ein Luftzug über ihre nackte Haut strich. Sie hatte ihre Gefühle noch weniger im Griff als früher, wurde grundlos wütend oder hatte das Bedürfnis zu weinen. Dabei führte sie ein glückliches Leben an der Seite ihres geliebten Mannes und hatte keinerlei Sorgen. Trotzdem spürte sie oft eine innere Unruhe. Sie kannte diese Unruhe von früher, als die Dämonen sie regelmäßig überfielen, doch es war lange her, seit diese sie das letzte Mal in ihren Fängen hatten.

*

Nitsas-Ini lag auf seinem Lager, den Kopf auf seine Hand gestützt, und beobachtete seine schlafende Frau. Er bemerkte, dass sie heftig zu träumen schien, denn ihre Augäpfel wanderten unruhig unter den geschlossenen Lidern. Ihre Decke hatte sie beiseitegelegt und er konnte den Schweißfilm auf ihrem Körper im diffusen Licht glänzen sehen. Plötzlich schreckte sie hoch und schaute direkt in seine Augen.

„Gidi, was ist los mit dir?"

„Es ist alles in Ordnung."

Der Häuptling holte tief Luft.

„Geliebte, ich merke doch, dass es dir nicht gutgeht. Sprich mit mir! Wie krank bist du? Wie lange hast du noch zu leben? Verlass mich nicht!"

Verzweifelt griff er nach der Hand seiner Geliebten. Diese schaute ihn groß an.

Und plötzlich lachte sie, lachte laut und herzlich, so, wie nur sie lachen konnte.

Dann küsste sie den Hals ihres Mannes, rieb die Nase an der seinen und fiel kichernd auf ihr Lager.

„Gidi, rede mit mir!"

Gidi lachte immer noch. Dann riss sie sich zusammen, wandte sich ihrem Mann zu und sagte:

„Du musst dir keine Sorgen machen. Ich bin nicht krank. Ich werde alt! Ich befinde mich in der Phase, in der eine Frau keine Mutter mehr werden kann. Die Symptome sind die Stimmungsschwankungen, Gewichtszunahme und Hitzewellen. Diese Phase kann ein Jahr oder länger dauern. Ich werde dich nicht verlassen."

Nitsas-IniWo Geschichten leben. Entdecke jetzt