Hallo Jacob,
wie geht es dir? Was macht deine Forschungsreise zu den Wurzeln der Entfremdung? Gibt es neue Erkenntnisse?
Ich muss gestehen, als wir zum ersten Mal über dieses Thema sprachen, das dich so sehr beschäftigt, war alles in mir Unglaube und Abwehr. Doch inzwischen lässt das Thema mich nicht mehr los. Immer wieder muss ich an dich und unsere Gespräche denken. Dein Thema, das Thema deines Lebens, begegnet mir überall. Es scheint mir, es ist das Thema unserer Gesellschaft, das Thema unserer Zeit.
Ich schreibe diese Zeilen mit Trauer. Denn meine Haltung hat sich nicht verändert. Wenn ich versuche, mit dem Thema der Entfremdung in Resonanz zu treten, entstehen in mir unangenehme Körpergefühle und innere Bilder: Das Bild einer undurchdringlich abweisenden Nebelwand, das Gefühl von Verwirrung und Verlorenheit oder die Vorstellung vom freien Fall in ein Tränen erfülltes Vakuum. Das ist beängstigend und abstoßend.
Dennoch begegnet mir das Thema überall in unserer Welt, wo immer ich mich frage, warum die Dinge so sind, wie sie sind.
Warum bewegen sich Menschen häufig, als gäbe es keine Naturgesetze, denen Aufbau, Funktion und Biomechanik ihres Körpers folgen oder als wären diese Naturgesetze ein Buch mit 7 Siegeln, Körper und Nervensystem nicht von Natur aus befähigt, diese Naturgesetze zu verstehen und zu nutzen? - Entfremdung vom eigenen Körper. (Feldenkrais, Emmy Pikler, Jeane Ayres, und viele andere)
Warum verhalten sie sich, als hätten sie Gefühle, die sie nicht haben, und als existierten bestimmte Gefühle nicht, die sehr wohl vorhanden sind? Entfremdung von den eigenen Gefühlen. (Freud, Daniel Siegel: 'Wie wir werden, die wir sind' - und viele andere)
Warum essen sie bevorzugt Dinge, die ihnen schaden und füttern Tiere, die ihnen anvertraut sind, mit Dingen, die diese von Natur aus nicht wählen würden, weil sie ihnen nicht gut tun? (Montgomery /Biklé: 'What your Food ate' und andere)
Warum quälen wir Pflanzen mit Lebensgrundlagen, die ihnen nicht bekommen, betreiben Landwirtschaft in einer Form, die die Fruchtbarkeit der Böden ruiniert, bauen Häuser und Städte in einer Weise, die uns auf die Dauer ins Verderben stürzt? Warum nutzen wir Wasser und Nahrung in einer Weise, die unsere Lebensgrundlagen zerstört? Warum gehen wir mit allem, was uns existentiell angeht, so achtlos und respektlos um und betrachten Nebensächlichkeiten, auf die es im Ernstfall nicht ankommt, als Kern unserer Identität? - Entfremdung von den Lebensgrundlagen. (David R Montgomery/ Anne Biklé: 'The hidden Half of Nature' & 'What your Food ate'; Christine Jones, Walter Jehne; Christoph Then: 'Biologische Intelligenz' und viele andere)
Warum verbauen uns überkommene Vorstellungen davon, wie die Welt auszusehen hat, die Fähigkeit, die effizientesten Wege zur Befriedigung unserer Bedürfnisse zu erkennen und zu wählen? Entfremdung von den Fakten und den Grundlagen der Selbstorganisation. (Hier habe ich viel gelesen, kann aber keine spezifischen Quellen nennen. Vielleicht eine: Das Umwelt-Bundesamt. Vielleicht eine zweite: Die Schwammstadt-Strategie Berlins. Oder Eckhardt von Hirschhausen: 'Mensch Erde, was könnten wir es gut haben')
Warum organisieren wir gesellschaftliche und politische Prozesse so kompliziert, dass kaum einer sie versteht, geschweige denn beherrscht und nur die Hartnäckigen, die ausdauernd nach Macht streben, übrig bleiben? Entfremdung von den gesellschaftlichen Grundlagen. (Gegenmittel sind etwa Bürgerräte - Beispiel Irland; Sozialunternehmen - Beispiel Grameen Bank in Bangladesh & Muhammad Yunus, community based solutions - Beispiele in den Filmen 'Die 4. Revolution', '2040' und 'Tomorrow')
Doch was ist überhaupt das Gegenteil von Entfremdung? Eigentlichkeit? Lebendigkeit? Fürsorge? Ehrfurcht? Liebe? Authentizität? Awareness? Presence? Resonanzfähigkeit?
Ich möchte dieses Andere, nicht Entfremdete erkunden. Denn das ist das Thema meines Lebens. Es ist das, was mich leben lässt, was mich immer wieder vorantreibt.
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Die Fülle des Lebens
Non-FictionEigentlich wollte ich nur eine Mail schreiben. Doch die wurde zu lang und niemals abgeschickt. Ich wollte einem Bekannten, mit dem ich vor Monaten über Nachhaltigkeit und Entfremdung gesprochen hatte, berichten, welcher stetige Strom an Gedanken aus...