Kapitel 58

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Alessandro

Ich höre ein piepen. Ganz weit weg. Ich sehe einen tiefen, weißen Schleier vor meinen Augen. Ich fühle mich schwer. Kalt. Alleine. Ich habe Schmerzen. Ich kann sie aber nicht zuordnen. Ich fühle mich, als hätte ich etwas genommen. Etwas krasses. Ich kann meine Augen nicht öffnen, obwohl ich diesen weißen Schleier nicht mehr sehen will.

Das piepen wird lauter. Und ich fühle mich immer schwerer. Und die Schmerzen werden immer heftiger. Mein Hals ist trocken, ich kann auch nicht schlucken. Ich brauche Wasser.
Ich spüre Wärme an meiner linken Hand. Angenehme Wärme. Wie eine Hand, welche sich um meine eigene legt. Aber meine Augen kann ich nicht öffnen.

Ich höre eine Stimme. Eine sanfte Stimme. Wie von einem Engel. Bin ich im Himmel? Oh Dio! Deswegen die weißen Schleier! Scheiße. Ich wollte noch so viel erleben. Ich wollte meine Frau heiraten. Kinder kriegen. Ganz viele, süße Kinder. Und alt werden. Zusammen mit Kamie.
Ich wollte meinen Enkel- und Urenkelkindern beim Spielen zusehen können und-

Ich höre meinen Namen. Lauter und lauter. Und dann... kann ich doch meine Augen öffnen. Schwer, aber es geht. Ich sehe hell. Sehr hell. Und verschwommen.

Und ich lebe. Ich lebe, verdammt nochmal.

Ich blinzle ein paar Mal und sehe klarer. Ich sehe meinen Engel vor mir. Oh, was für eine Schönheit sie doch ist. Ich versuche meine Hand zu heben, aber es ist zu anstrengend.
Kamie registriert meine offenen Augen und sagt meinen Namen. Ganz oft. Mit ganz vielen „oh Gott"s. Und dann fällt sie mir um den Hals. Ich hebe mit aller Kraft meinen Arm und lege ihn um sie.

Als sie sich wieder von mir löst, legt sie ihre Hände an meine Wangen und schaut mir in die Augen. „Was machst du nur für eine Scheiße?"
Ich grinse und kneife im nächsten Moment die Augen zusammen, da ein stechender Schmerz in mein Bewusstsein tritt.

Kamie hält mir ein Wasser mit einem Strohhalm hin und ich nehme einige kräftige Schlücke. Gott, es fühlt sich an, als wäre ich beinahe verdurstet.
„Du lebst.", sagt Kamie und strahlt mich erleichtert an.
Ich räuspere mich. „Klar, so schnell gebe ich nicht den Löffel ab.", sage ich, so cool es nur geht. Meine Stimme klingt rau. Und schwach.

Dass ich selber dachte, ich wäre tot, muss sie ja nicht wissen.

Sie lächelt kurz, wird dann aber wieder ernst. „Das sah wirklich übel aus. Was ist passiert?"

Ich versuche mich zu erinnern. Verschwommene Bilder tauchen nach und nach auf. „Wir wurden zu einem Einsatz gerufen. Eigentlich nichts besonderes. Dann kann jemand von hinten und hat auf mich eingestochen. Wir haben gekämpft. Ich habe um mein Leben gekämpft. Es war brutal. Irgendwann konnte ich nach meiner Waffe greifen. Ich habe auf ihn geschossen."

„Oh mein Gott.", murmelt Kamie.
„Halb so wild. Mir geht es gut."
„Dir geht es nicht gut. Spiel das nicht so runter. Ich dachte, ich hätte dich verloren."
Ich ziehe sie zu mir. „Mich verlierst du nicht, klar? Niemals."
„Alessandro, ich hatte solche Angst um dich."
„Es ist nichts passiert, amore. Alles ist gut.", ich ziehe sie zu mir ran, um sie in den Arm zu nehmen und versuche dabei so gut es geht die Schmerzen zu ignorieren.
Dass ich mich verspanne, merkt sie trotzdem und löst sich schnell wieder aus meinem Arm. „Oh Gott, habe ich dir wehgetan? Tut mir leid. Ich muss einen Arzt holen! Und ich muss deine Eltern anrufen... oder willst du nicht, dass sie etwas wissen?"

„Topolina, entspann dich. Ich bin gerade vor fünf Minuten aufgewacht. Du brauchst weder meine Eltern anrufen, noch direkt einen Arzt holen. Ich will gerade nur dich hier bei mir."
Sie nickt. Dann streicht sie mir über die Wange. „Ich liebe dich so sehr. Und die letzten 24 Stunden waren die schlimmsten meines Lebens. Ich hatte so eine riesige Angst, Sandro."

Ich greife nach ihrer Hand. „Ich liebe dich auch. Und auch, wenn es schlecht für mich aussah, hab ich doch für dich gekämpft. Und das werde ich auch immer wieder. Vergiss das nicht, okay?"

Wieder nickt sie. Dann fällt sie mir um den Hals und küsst mich.

Ein paar Stunden später sitzt meine ganze Familie im Krankenzimmer. Gia durfte sich neben mich legen und ist ganz vorsichtig, um mir nicht wehzutun.
Wir haben bereits ausführlich über meinen Unfall gesprochen. Meine Mutter hat nach wie vor Tränen in den Augen. Selbst dann noch, als ich ihr zeige, wie gut es mir geht, indem ich mich bewege. Denn in dem Moment meckert Kamie, dass ich nicht „einen auf dicke Hose" machen soll, weil wir alle wissen, dass ich Schmerzen habe.

„Sagt mal... ist da was dran? An dem Gerücht von gestern?", fragt mein Dad irgendwann. Ich habe keinen blassen Schimmer, wovon er redet. Ich schaue fragend zu Kamie.
„Nein. Natürlich nicht."
„Okay. Gut. Denn noch jemanden können wir in unserem Haus nun wirklich nicht unterbringen.", murmelt Dad.
„Halloo? Kann mich mal jemand aufklären?", bringe ich mich in das Gespräch ein.
Kamie schaut mich an. Und ich sehe Schmerz und Trauer in ihren Augen. Am liebsten würde ich sie direkt in den Arm nehmen.

„Mein Vater hat ein Interview gegeben. Es wird spekuliert, ob ich schwanger bin, weil wir doch die Kleidung für Kaydens Baby gekauft haben. Mein Dad hat gesagt, dass es ihn nicht wundern würde. Und dass ich sehen müsse, wie ich damit klarkomme, weil du mich so oder so verlassen würdest.", gibt sie den Inhalt des Interviews wider.

Ich setze mich gerade hin. Rutsche aber direkt wieder zurück, weil die Schmerzen um meine Leiste herum dann doch zu groß sind. „Das hat er gesagt?", frage ich fassungslos. Sie nickt und auch meine Eltern tun es ihr gleich.

Unfassbar. Wie kann man sich das Recht daraus nehmen, sowas zu behaupten? Kamie ist nach wie vor seine Tochter.

Wenn ich wieder fit bin, werde ich ihm sowasvon eine reinhauen.

Kamie legt ihre Hand auf meinen Oberarm. Wahrscheinlich um mich zu beruhigen. Ich nehme sie in den Arm. Denn sie ist diejenige, die gerade Trost braucht, weil ihr Vater ein riesengroßes Arschloch ist.

Meine Eltern verabschieden sich im gleichen Moment. Kamie legt ihren Kopf auf meine Brust.
„Zum Glück sind die Stiche nicht höher", murmelt sie, „sonst hätte das schlimm ausgehen können mit den ganzen Organen."
Ich grinse. „Zum Glück sind die Stiche nicht noch tiefer, sonst wäre es das gewesen mit dem guten Sex. Du hättest dein Leben lang nurnoch Spielzeug nutzen müssen."
Sie hebt ihren Kopf und schlägt mir spielerisch auf die Brust. „Typisch Mann.", murmelt sie lachend. Dann küsst sie mich kurz.
„Und weißt du, was noch schlimmer wäre?", flüstere ich.
Sie schüttelt den Kopf.

„Ich könnte dir keine 10 Kinder in deine Gebärmutter pumpen und deinem Vater zeigen, dass ich meinen Job zu tausend Prozent besser machen werde als er."

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