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"Emily" keuchte Joachim schon förmlich. Er hörte mir aufmerksam zu und konnte nicht glauben was ich von mir gab. Jedoch sprach ich weiter, ich war noch nicht fertig. "Ich hatte den Kampf fast verloren, fast" ich hauchte das letzte Wort als ich meinen Kopf zu ihm drehte und ihn dabei ansah. Ja, ich hatte fast den Kampf um das Leben verloren, ich wollte, nein ich konnte nicht mehr leben. Niemand wusste von meinen Gedanken, niemand. All das was passiert war, war zu viel für mich gewesen. Joachim brach mich, mein Job kostete mich enorme Kraft, kein Schlaf und dazu noch ein kleines Kind, welches versorgt werden musste. All dies kostete mich zu viel weswegen ich an meine Grenzen gestoßen bin. Ich bekam keine Luft mehr, meine Kehle war wie zugeschnürt und meine Seele war wie ausgelaugt.

Als ich jedoch das erste Mal das Lächeln meiner Tochter gesehen hatte und es auch richtig wahrgenommen hatte, sie meinen Finger als Säugling so fest hielt, dass ich mich nicht mehr von ihr befreien konnte. Erst da realisierte ich, dass ich es diesem Wesen nicht antun könnte. Ich konnte sie nicht alleine zurücklassen, sie brauchte eine Mama, sie brauchte mich. Dieser pure Blick ihrer blauen Augen, die meine Seele so tief berührt haben und mich aus meiner Hülle herausgeholt hatten. Ab diesem Zeitpunkt habe ich versucht mein Leben in den Griff zu bekommen, mit Unterstützung, mit therapeutischer Hilfe, mit Liebe. Meine Anastasia..

Joachim sah mich einfach an, er fand keine Worte. Er hat nach all den Jahren nie gewusst wie es mir wirklich erging, nichts. Nie hätte er erahnen können wie schlimm diese Zeit damals war nach unserer Trennung. "Der schlimmste Moment war als ich Anastasia völlig alleine zur Welt brachte" obwohl ich mir eigentlich Joachim an meiner Seite gewünscht hätte, der mir zusprach, meine Hand hielt und mir zuflüsterte, dass ich das schaffen würde. Ich sprach einfach meine Gedanken aus, all das was ich für mich behielt erzählte ich ihm. Joachim hörte zu, er war ein guter Zuhörer, doch ich kannte ihn gut. Als ich ihm dies erzählte brach seine Seele. Wie sehr hatte er sich gewünscht bei der Geburt seiner Tochter anwesend zu sein, sie das erste Mal zu halten. Das erste Mal sie lachen zu sehen. Das erste Mal sie laufen zu sehen. Das erste Mal sie spielen zu sehen. Die ersten Male, die so bedeutend waren flossen wie Sand aus seinen Händen. Schon so oft dachte er an solche Momente, wenn er allein war. Wenn er allein im Bett nachts lag und sich vorstellte was sie heute erlebt hatte. Ob sie heute Lehrerin war und Kinder unterrichtete, oder ob sie heute die Welt vor einem bösen Wissenschaftler gerettet hatte, oder ob sie Teekränzchen mit ihren Puppen gespielt hatte. In seinem Herzen verblieb ein tiefes Loch voller Schmerz, den nur Anastasia füllen konnte. Sie war seine Tochter, sein ein und alles und doch war sie nie da. Das Haus war still gewesen. All die Frauen, die er kennengelernt und lieben gelernt hatten konnten seine Leere nicht füllen, er fühlte sich unvollkommen.

Er sah runter, er konnte mich nicht ansehen. All dies musste er einmal verdauen. Nie hätte er diese Worte aus meinem Mund erwartet, er sah immer nur die eine Seite. "E-es... tut mir so unfassbar leid.... du kannst dir wirklich nicht vorstellen wie unendlich leid es mir tut, dass du all das wegen mir durchmachen musstest, und das allein" Joachim seufzte. "Ich-" fing er an weiterzusprechen, doch er brach wieder ab. Er wusste nicht was er sagen sollte. All das was Joachim durchgemacht hatte, sagte er jedoch nicht. Er wagte es nicht es mir zu sagen, wie denn auch? Sollte er Salz in die Wunde streuen? All das was er von mir gehört hatte brach seine Seele, doch würde auch ich hören was er all die Sechzehn Jahre durchgemacht hatte, würde auch ein Teil meiner Seele brechen und das wollte er mir keineswegs antun. Er wollte nicht weiter in der so schon tiefen Wunde herumstochern. Joachim fühlte sich so unfassbar schlecht.

"Ich konnte damals nachvollziehen, dass du kein Kontakt zu mir wolltest, aber jetzt zu hören was du durchmachen musstest meinetwegen,.. wie kannst du trotzdem weiterhin mit mir reden? Mit mir hier sein und mir ins Gesicht sehen?" Joachim hob den Blick nicht. "Ich habe dich gehasst, Joachim. Ich habe dich so sehr gehasst, ich wollte nie wieder ein Wort mit dir sprechen, geschweige denn dich je wiedersehen..." ich dachte nach bevor ich weitersprach. "Doch... ich weiß nicht, ich hab so viel durchgemacht, dass ich nichts mehr zu verlieren habe" lächelte ich kurz auf. "Ich habe dir nicht vollkommen verziehen, dafür sind die Wunden zu tief, aber ich schaffe es ein normales Gespräch mit dir zu führen und das ist schon mal ein Fortschritt" lächelte ich wieder, doch er sah mich nicht an.

Kein einziges Mal hat er den Kopf gehoben und mich angesehen. "Ich hätte dich nicht auf einen Kaffee einladen sollen. Ich hätte dich in Ruhe lassen sollen. Ich hätte auf deine Worte hören sollen und einfach verschwinden sollen. Ich hätte als ich dich gesehen habe umdrehen sollen und dich dein jetziges Leben leben lassen sollen." hauchte Joachim leise vor sich hin. Ich sah ihn stattdessen nur an. "Joachim" sagte ich seinen Namen, doch er sah mich immer noch nicht an.

"Sieh mich an".

Nichts, er sah mich immer noch nicht an. "Bitte" fügte ich hinzu. Kurz dachte er darüber nach. Und dann geschah es, er hob langsam den Kopf und sah mich mit einem traurigen und gleichzeitig schuldigem Blick an. "Das alles ist Vergangenheit. Ich möchte nach vorne schauen und ich möchte, dass du nach all dem hier unsere Tochter kennenlernst. Sie braucht dich in ihrem Leben" mit einem leichten Lächeln sah ich ihn an. Doch er konnte es immer noch nicht nachvollziehen. "Emily, das kann ich nicht. Ich kann dich nicht mal ansehen, nach all dem was du durchgemacht hast, hab ich kein Recht dich anzusehen" wieder sah er weg. Doch ich rutschte etwas näher zu ihm. "Ana braucht ihren Vater, Joachim. Und ich weiß du möchtest sie auch kennenlernen... das sehe ich in deinen Augen." Joachim's Herz setzte einen Moment aus. Er liebte Anastasia so unfassbar sehr. Diese kurze Zeit, welche sie miteinander hatten ließ Joachim aufblühen.
"Das was war gehört zur Vergangenheit und soll nicht mehr über uns hängen. Ich möchte, dass du lernst dir selber zu vergeben so wie ich es bis hierhin getan habe. Das kostet Zeit, das weiß ich, aber du schaffst das" erneut lächelte ich ihn an. Joachim sah mich immer noch nicht an. Ich drehte sein Gesicht mit meinem Zeigefinger zu mir bis er mich ansehen musste. "Versprich mir das". Er sah mir in die Augen und sah mich für einige Augenblick einfach nur an. Er schien immer noch nicht von meinen Worten überzeugt zu sein, er kämpfte mit sich selbst, das sah ich ihm genau an. "Bitte" hauchte ich ihm entgegen. Joachim konnte meinen Atem spüren wie er seine Lippen streifte, so nah waren wir uns. Ich sah ihn bittend an, ich wollte, dass er sich selbst vergab. Ich wusste, dass auch Joachim in sich Dunkelheit trägt, die ihn auch zu verschlingen droht. Umso mehr war es mir wichtig, dass er sich vergeben würde.

"Ich verspreche dir das" hauchte er schließlich mir zu. Erneut lächelte ich ihn an und sah dann schließlich wieder zum Sonnenuntergang. Joachim hingegen sah mich noch einen Augenblick an und konnte immer noch nicht fassen was ich gerade gesagt habe, was ich getan habe. Sein Herz schlug zum ersten Mal wieder so vertraut wie er es schon lange nicht mehr fühlen konnte. Er wollte dies nicht mehr missen müssen. Seine Augen blieben an meinem Gesicht hängen und sahen sich jeden Zentimeter an. Ich bemerkte dies jedoch nicht, da ich mir den Sonnenuntergang ansah und in Zufriedenheit versank.

Ich hatte an Stärke gewonnen im Vergleich zu früher dachte er sich. Ich war erwachsener geworden und lernte zu vergeben.

Irgendwo zwischen unserem Kennenlernen und unserem Abschied liebten wir uns, so bedingungslos und frei wie sich zwei Menschen noch nie gefühlt hatten. Wir waren wie zwei wunderschöne Vögel, die zum ersten Mal frei waren und das Leben genossen.

So wie die Ruhe vor dem Sturm.

Her pale fire | Band 3Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt