41 - Sieben-Meter - Julian

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- Sonntag, 28.04.23 - Unendlichkeit/CRO -

Die Tribünen der Schwalbe-Arena waren circa zu einem Drittel gefüllt, als ich mit meinem Ball in der Hand aus dem kurzen Durchgang zwischen Kabinenbereich und Spielfeld lief. Um mich herum waren alle in einem ähnlichen mentalen Zustand wie ich: Fokussiert und bereit, alles zu Hause zu geben, damit wir dieses Spiel gewannen.

Wetzlar war kein einfacher Gegner und stand uns allen um nichts nach, wodurch es auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen hinauslaufen würde. Meine Augen mussten sich kurz an das helle Licht gewöhnen und so prellte ich erstmal eine Weile herum, bis ich dazu fähig war, aufzuschauen. Dann fiel mein Blick automatisch in die Tribünen und hielt unterbewusst Ausschau nach den inzwischen pastellblauen Haaren von Mia.

Nach einigen Sekunden erkannte ich sie, wie sie momentan noch allein auf den Plätzen saß, die üblicherweise für Spielerfreundinnen und -frauen freigehalten wurden. Mir fiel das blaue Gummersbach-Trikot ins Auge, das ihr unheimlich gut stand. Ich grinste sie an und sie reagierte mit ihrem hübschen Lächeln und einem kleinen Winken.

Dann schwenkte mein Blick weiter und ich beobachtete kurz die Interaktion, die sich hinter Mia zwischen den Spielerfreundinnen und -frauen abspielte. Sie unterhielten sich angeregt und ich konnte mir vorstellen, dass die Stimmung da oben auf der Tribüne jetzt ein wenig angespannt sein dürfte und das zu großen Stücken auch meine Schuld war, während Mia etwas abseits von allen alleine eine Reihe weiter vorne saß.

Innerlich biss mich das gemeine Gewissen nach wie vor wegen der Situation. Zum einen mit Tom, dem ich einfach hinterrücks den Crush ausgespannt hatte, auch wenn es nie meine Absicht war. Zum anderen war meine 'Freundschaft' beziehungsweise der Waffenstillstand, den ich mit Lou abgemacht hatte, jetzt wahrscheinlich so oder so vorüber. Gerade mit Lou musste ich mich definitiv noch aussprechen.

Also nahm ich mir vor, sie nach dem Spiel einmal anzuschreiben und nochmal von mir aus zu fragen, ob sie vielleicht Lust und Zeit hätte, mal mit mir zu reden. Sie wusste zwar schon alle relevanten Infos von Mia, aber es konnte nicht schaden, wenn wir zwei uns noch einmal direkt aussprachen und ich mal ihre Seite der Medaille hören konnte.

Die arme Mia musste da oben vermutlich gerade meinen und unseren Ruf verteidigen und das ohne Rückhalt oder Unterstützung von mir oder von anderen. Am liebsten wäre ich gerade mit Mia dort oben und könnte sie ein wenig verteidigen. Aber stattdessen musste ich mich hier auf das Jetzt und das Spiel konzentrieren. So wandte ich schließlich schweren Herzens meinen Blick wieder von meiner wunderschönen Freundin ab und konzentrierte mich auf den Ball in meiner Hand.

Als mich Miro zum Einwerfen rief, schalteten sich meine Gedanken automatisch ab und ich konnte mich wieder auf Handball fokussieren. Miro grinste seit Tagen ununterbrechlich, was dem frisch 24 Jahre alt gewordenem Mann auch zustand. Wir alle freuten uns bereits auf die gemeinsame Party heute Abend, entsprechend Miro und Tom besonders. So wechselten wir einige Pässe, bis ich merkte, wie sich meine Muskeln langsam erwärmten und ich bereit dafür war, dieses Spiel zu bestreiten. Es war ein Heimspiel und zusätzlich hatten wir unser letztes Spiel verloren, was mir einen zusätzlichen Schuss Adrenalin in die Adern gab.

Fast schon ungeduldig wartete ich darauf, dass wir die Torwarte einwerfen würden, als wir fertig mit dem Warmwerfen waren. Ich warf noch einen verstohlenen Blick auf Mias Sitzplatz, der allerdings momentan nicht besetzt war. Dann beobachtete ich, wie sich Mia an ihren Sitzplatz mit zwei Bechern in der Hand zurückschlängelte. Sie lief so an den sitzenden Personen vorbei, dass sie mit dem Rücken zum Spielfeld gewandt war, und deutlich konnte ich die große 7 unter der Beflockung "KÖSTER" lesen konnte.

Mein Herz machte einen Satz und sofort grinste ich wie ein Blöder. Sie trug mein Trikot. Das war das inoffizielle Statement an die Welt, dass sie nun mir gehörte. Innerlich freute ich mich wie ein Schneekönig über die Tatsache und diese Freude musste bis in meinen Gesichtsausdruck gestrahlt sein, denn Miro fragte mich: "Na, warum so happy?" Ich deutete mit einem Kopfnicken auf Mia und er folgte meinem Blick zu ihr.

Als er erkannte, was ich meinte, schüttelte er nur grinsend den Kopf. "Hach, to be young and in love...", schmachtete er und machte sich damit leicht über mich lustig. Ich verdrehte die Augen und erwiderte: "Nicht jeder kann seit fünf Jahren in einer Beziehung sein..." Ich warf erneut meinen Blick hoch auf die Gruppe an Spielerfreundinnen und erkannte neben Kira und Lukas, die direkt neben Mia saßen, auch Kathleen, die sich ebenfalls zu den oben sitzenden Menschen gesellt hatte. Auch Miro schaute in diese Richtung und die Liebe erkannte ich direkt aus seinen Augen. Die zwei hatten sich echt gesucht und gefunden. Innerlich schwebte ich immer noch auf Wolke 7, weil Mia mein Trikot trug. Ich war bereit, alles zu geben heute und mit dieser Energie ging ich auch rein ins Spiel.

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Das Spiel war genau so hart, wie ich es bereits erwartet hatte. Da uns im Hinspiel vor allem die mangelnde Abwehrleistung den Sieg gekostet hatte, legten wir alles daran, wichtige Duelle in der Abwehr zu gewinnen. Dies gelang uns zum Glück auch, aber auch die Wetzlarer Spieler hatten eine unglaublich starke Abwehr, was uns in der Waage hielt. So stand es auch 26:26 zur 50. Minute. Bis jetzt war es keinem Team gelungen, sich so richtig abzusetzen, weshalb jetzt jede Aktion und jedes Tor noch relevanter war.

Wir waren alle nicht ganz unbeschadet davon gekommen und auch mein Arm schmerzte leicht nach einem unabsichtlichen Kratzer, den ich von meinem Wetzlarer Gegenüber abbekommen hatte. Wir waren gerade im Angriff und ich bekam den Ball von Dominik. Im Augenwinkel sah ich, wie der Gegenspieler von Milos nicht dort stand, wo er sollte und damit eine relativ große Lücke für unseren Linksaußen, Milos Vujovic, öffnete.

So leitete ich den Pass direkt weiter an Milos, welcher direkt zum Sprungwurf ansetzte. Sein Gegenüber, Domen Novak, bemerkte dies zu spät, machte aber den Fehler, einen Schritt auf Milos zuzumachen - und erwischte ihn so im Sprung, dass beide zu Boden fielen. Direkt fiel der Pfiff und der Schiedsrichter zeigte Novak eine Zwei-Minuten-Strafe und anschließend das Zeichen für einen Sieben-Meter.

Novak wurde von seinem Teammate hochgezogen und mit gesenktem Kopf verließ er das Spielfeld. Ich beeilte mich, schnell zu Milos zu kommen, der immer noch auf dem Boden lag. Es hatte ihn anscheinend aber nicht schlimm erwischt oder er ließ es sich nicht anmerken, denn er ließ sich von mir hochziehen und stand dann wieder auf seinen Beinen, wenn auch ein wenig neben sich. Goggi rief von der Seite ein "Juli" auf das Feld. Dies war das Zeichen für uns alle, dass ich diesen Sieben-Meter ausführen würde anstatt Milos, der eigentlich der Sieben-Meter-Profi war.

Ich nahm mir den Ball, der noch an der Stelle lag, an der gerade eben noch Milos gelegen hatte. Sobald ich den Ball berührte, schalteten sich alle Gedanken und Geräusche aus, wie immer, wenn ich einen Sieben-Meter warf. Ich positionierte mich an der Linie und legte mich auf die linke untere Ecke fest, ohne mir dies anmerken zu lassen. Ich sah auf und direkt in die Augen des Wetzlarer Torhüters, der versuchte, mich zu verunsichern, was ihm allerdings nicht gelingen würde. Dann hörte ich den Pfiff und täuschte einmal leicht an, bevor ich zielsicher den Ball im geplanten Eck versenkte. Erst beim Zurücklaufen kam ich wieder in dieser Welt an und fing an zu grinsen, bevor ich mir von Milos ein High-Five abholte. Dann warf ich einen kurzen Blick auf die Tribünen und erkannte Mia. Ich warf ihr ein freches Grinsen zu und fokussierte mich dann auf den Rest des Spiels.

Wetzlar verlor das Spiel heute und mit einem Strahlen auf dem Gesicht feierte ich noch ein wenig mit den Jungs nach dem Abpfiff. Es war immer ein unglaubliches Gefühl, ein Spiel in der Heimathalle zu gewinnen. Aber noch viel mehr, wenn dir dabei dein Mädchen zuschaute. Heute würde mich nichts und niemand runterbringen können, so viel war klar. Nun waren wir alle bereit für die Party, die sich seit Monaten angebahnt hatte.


- 1373 Wörter -

Ich glaube, man kann an keinem Kapitel mehr sehen, wie sehr ich Handball doch liebe.

Kurz zur Info: Ich hab jetzt vor allen relevanten Kapiteln eine entsprechende Warnung (tw) davor gesetzt, wenn es irgendwie zum Alkoholkonsum oder zu Kraftausdrücken oder so kommt.

Bis bald und alles Liebe, eure Ella <3


111 km/h  /// Julian Köster ffWo Geschichten leben. Entdecke jetzt