#16 Trauer

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Logan

„War das Jordan?", fragte Marek nach. Obwohl Jordan schon längst die Treppe herunter gerannt war, stand ich noch immer reglos im Türrahmen. Mit einem Nicken drehte ich mich zu dem Jüngeren um, wobei ich die Tür schloss. „Er denkt bestimmt, dass wir etwas miteinander haben", vermutete er.

Erneut nickte ich nur und ging an ihm vorbei. Im Wohnzimmer ließ ich mich aufs Sofa plumpsen und nahm einen Schluck von meinem Cuba Libre. Wortlos setzte Marek sich zu mir und ließ sich in die weichen Kissen sinken. Seine Augen und Wangen waren noch immer vom Weinen rot. Als er verzweifelt vor meiner Tür gestanden hatte, hatte ich ihn direkt in den Arm genommen und mit reingezogen. Aufgeregt und unter vielen Tränen hatte er mir erzählt, dass er in einer Beziehung war. Erst dachte ich, dass er betrogen wurde und deswegen so verzweifelt war, aber dem war leider nicht so. Sein Freund war wenige Stunden zuvor bei einem Feuerwehreinsatz ums Leben gekommen. Ich hatte Marek angeboten bei mir zu schlafen, damit er nicht so alleine war, was er zögernd bejaht hatte.

Als ich nach meinem Handy griff, um uns etwas zu Essen bestellen, schrieb ich direkt in einem eine Nachricht an Jordan. Er las sie sofort, aber antwortete nicht. Wahrscheinlich war er sauer, dachte ich mir. Einerseit könnte ich das verstehen, da wir uns geküsst hatten, aber andererseits waren wir nicht in einer Beziehung. Unwillkürlich musste ich bei der Erinnerung an den Kuss lächeln, da er schön gewesen war. Es war aus heiterem Himmel geschehen, aber hatte sich so gut angefühlt. Bei unseren Dates hatte ich vermutet, dass ich diesen Schritt als Erster gehen würde, wodurch ich überrascht gewesen war.

„Bist du sauer auf mich?", fragte Marek auf einmal. Verwundert schaute ich ihn an, aber dann verstand ich, warum er das dachte. „Nein, keine Sorge. Ich werde mit Jordan reden und hoffen, dass er mir glaubt. Wenn nicht, muss ich mir etwas einfallen lassen", sagte ich. Grübelnd presste er seine zerbissenen Lippen aufeinander. „Wenn du möchtest, kann ich mit dir kommen. Vielleicht glaubt er dir dann eher", bot er mir an. Abwehrend schüttelte ich meinen Kopf. „Entweder glaubt er mir oder nicht."

Wenn Marek mitkommen würde, würde sich die Wahrheit noch eher wie eine Ausrede anhören. Bevor ich zu Jordan ging, wollte ich ihm ein wenig Zeit zum nachdenken geben. Vielleicht hatte ich Glück und er würde sich von selber bei mir melden. Trotzdem würde ich spätestens am Samstag, wenn unser Date im Kino anstand, zu ihm fahren, beschloss ich. Federleicht legte Marek eine Hand auf meine Schulter und lächelte mich sanft an. Für mich war es nicht verständlich, wie er ein Lächeln auf seine Lippen zaubern konnte, wenn sein Partner vor wenigen Stunden ums Leben gekommen war. Es schien mir, als ob ich eine Ablenkung für ihn wäre, was mir tatsächlich nichts ausmachte, wenn es ihm dadurch besser ging.

„Können wir eventuell in eine Bar gehen?", fragte Marek vorsichtig nach. Ich wollte ihm den Wunsch ungerne ablehnen. „Wenn wir gegessen haben, apropos ich habe etwas beim Griechen bestellt", erzählte ich.

***

Zusammen setzte ich mich mit Marek in eine der hinteren Nischen von der Schwulenbar. Erst wollte ich ihn überreden, woanders hinzugehen, aber hatte es schließlich unterlassen. Zudem war die Bar nicht weit von meiner Wohnung entfernt. Wir hatten uns hier kennengelernt. Als wir unsere Nummern ausgetauscht hatten, hatte ich gedacht, dass ich nie wieder etwas von ihm hören würde. Mittlerweile waren wir gute Freunde.

„Danke, dass du dir heute Zeit für mich genommen hast", bedankte Marek sich. Mit einer Handbewegung winkte ich ab. „Das habe ich liebend gerne gemacht. Ich hätte dich niemals in deinem Zustand weggeschickt", versicherte ich ihm.

Das war die Wahrheit, aber ich hätte bei jedem so reagiert, sogar bei meinem Bruder. Wenn ich mit jemanden verstritten gewesen wäre, hätte ich auch so gehandelt. Trauer war etwas, was keiner alleine durchstehen musste. Ich fühlte mich ein klein wenig geehrt, wenn man dann zu mir kam. So eine Reaktion spiegelte mir das Vertrauen wieder, denn man trauerte nicht bei jemanden, den man nicht vertraute. Bei Marek hatte ich das tatsächlich nicht erwartet, dass er dann mit mir sprach, sondern erst mit Freunde oder Familie. Erst nach ein paar Tagen oder Wochen hatte ich damit gerecht, aber nicht wenige Stunden nach dem Verlust.

Zeit ist GeldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt