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Noch versteckte sich die aufgehende Sonne hinter den Bäumen, doch sie sorgte auch dafür, dass der Himmel in orangegelben Tönen leuchtete. Ihre Strahlen zwängten sich durch jede Lücke und versuchten, selbst in die dunkelsten Ecken ihr Licht zu bringen. Nebelschwaden lagen über der Erde, verdeckten das, was hinter ihnen lag oder ließ nur dessen Konturen erkennen.

Eigentlich liebte Tonya diese morgendliche Stimmung. Häufig stand sie noch vor Sonnenaufgang auf und verließ bereits in ihrer Wolfsgestalt das Haus. Ihr Elternhaus stand direkt am Waldrand, deshalb konnte sie sich das erlauben. Sie lief dann bis zum kleinen Felsen und den Weg hinauf zum Plateau. Von dort aus konnte sie ungehindert den Sonnenaufgang beobachten.

Vergangenheit.

Als Tonya erwachte, dauerte es etwas, bis ihr klar wurde, wo sie sich befand. Schlagartig erinnerte sie sich auch an den vorherigen Tag. Aber - sie lag im Bett. Sie lag auf einer bequemen Matratze und war mit einer warmen weichen Decke zugedeckt. Sie schrak auf. Hatte sie sich tatsächlich doch noch ins Bett gelegt? Nein. Sie war auf dem Boden vor der Balkontür eingeschlafen. Warum also lag sie im Bett und warum war sie ausgezogen?

Ohne den wunderbaren Ausblick zu würdigen, sprang sie auf und blickte an sich hinunter. Sie trug noch ihre Unterwäsche, ja, aber darüber trug sie ein hellgraues T-Shirt, das so groß war, dass sie dreimal hineingepasst hätte und das ihr fast bis zu den Knien reichte. Schnell zog sie es aus und warf es in Richtung der Zimmertür. Wo waren die Scherben des Geschirrs und die Essensreste, die sie am Abend gegen die Zimmertür geworfen hatte? Wo waren die kaputten Stühle?

Und wo waren ihre Sachen? Sie hatte gestern eine schwarze Sporthose und ein grünes T-Shirt getragen. Sie suchte das ganze Zimmer ab, suchte im Bad und öffnete dann die Tür zum begehbaren Kleiderschrank. Überrascht blieb sie stehen.

Der Kleiderschrank war voll mit Markenklamotten. Gestern Abend war er doch noch leer gewesen. Oder hatte sie das nur geträumt? Jetzt waren die Schubladen voll mit Unterwäsche und feinen Dessous. An den Kleiderbügeln hingen Designerkleider in unterschiedlichen Farben und Längen. In einem kleineren Fach lagen einige wenige T-Shirts und in dem Fach daneben nur zwei Jogginghosen. Wo aber waren ihre Klamotten? Sie konnte sie nicht finden.

Wer auch immer in der Nacht dagewesen war, er hatte das Trümmerfeld vor der Zimmertür aufgeräumt, er hatte den Kleiderschrank bestückt, er hatte sie auf das Bett gelegt, sie ausgezogen und das T-Shirt angezogen und zugedeckt. Und so wie es aussah, hatte er auch ihre Klamotten mitgenommen.

Erneut flammte Wut in ihr auf und zitternd stand sie mitten im Zimmer. Man hatte ihr also nicht nur ihre Freiheit geraubt, man wollte sie jetzt auch noch zwingen, fremde Kleidung zu tragen. Man wollte ihr also auch noch ihre Persönlichkeit rauben.

Das Einzige, was wirklich noch ihr gehörte, war die Unterwäsche, die sie noch trug. Nun denn. Es war warm genug im Zimmer. Nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet setzte sie sich auf den Boden vor der Balkontür und starrte hinaus, ohne zu bemerken, dass die Sonne nun direkt in ihr Zimmer strahlte und der Bodennebel verschwunden war.

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Die Stimmung im Hause Burmann war bedrückt. Melli saß geistesabwesend am Küchentisch und schnippelte automatisch Kartoffeln und Gemüse für das Mittagessen. Selbst Vicki, die sonst immer etwas zu erzählen wusste, saß schweigend und gedankenversunken am Tisch und half Melli bei den Vorbereitungen.

David und auch Max waren arbeiten und die Jungs in der Schule. Seit Tonya vom Alpha abgeholt wurde, hatten sie kaum noch ein Wort miteinander gesprochen. Niemand hatte mehr gelacht. Nicht einmal die Jungs, die sonst zu jedem Blödsinn zu haben waren und ständig miteinander zankten. Es war still geworden.

Melli schniefte. „Wie es ihr wohl geht?", fragte sie leise.

Vicki zuckte mit den Schultern. „Nicht sonderlich gut, schätze ich."

„Ich hoffe, er behandelt sie gut", flüsterte Melli.

„Das wird er schon", entgegnete Vicki leise. „Sie ist doch seine Mate."

Melli nickte gedankenverloren und schnippelte weiter.

„Er hat sie zu früh geholt", brach Vicki schließlich das Schweigen. Melli starrte sie fragend an. „Sie ist noch nicht achtzehn. Sie kann das Band noch nicht spüren. Ist doch klar, dass sie dann so ablehnend reagiert hat."

„Aber dass sie gleich so ausrastet...", murmelte Melli nachdenklich.

„Irgendwie habe ich damit gerechnet", gestand Vicki. „Sie hatte sich in den letzten Wochen so vehement gegen einen Gefährten ausgesprochen, dass eine solche massive Ablehnung eigentlich logisch war. Außerdem hatte sie in den letzten Wochen viel trainiert."

„Das tut sie doch schon, seit in der Schule Kampftraining auf dem Stundenplan steht."

„Schon", bestätigte Vicki. „Aber wusstest du, dass sie auch mit Max trainierte?"

„Nein", unterbrach Melli ihre Arbeit und blickte ihre Schwiegertochter überrascht an. „Warum das denn?"

„Sie wollte vorbereitet sein, wenn ..."

Vicki ließ das Ende des Satzes offen und Melli verstand auch so, was sie sagen wollte. Wieder schwiegen sie. Schließlich stand Melli auf. Sie nahm das geschnippelte Gemüse, wusch es und breitete es auf dem Backblech aus. Mit einer gewürzten Marinade pinselte sie es ein und schob das Blech in den vorgeheizten Backofen. Sie mussten sich beeilen. In einer halben Stunde kamen ihre Männer und die Jungs nach Hause und wollten essen.

Gehorche, Tonya.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt