Noch lange hatte Tonya auf dem Boden im Badezimmer gesessen, bis sie sich sicher war, dass Hendrik gegangen war. Sie stellte sich unter die Dusche, wusch sich die Haare und wickelte sich dann in ein großes Handtuch. Es war eine gute Idee gewesen, die Lasagne zu essen und den Rest mit auf das Zimmer zu nehmen. So konnte sie nun ihren Hunger stillen, ohne nochmals das Zimmer verlassen zu müssen.
Gerade erst berührte die Sonne den Horizont. Ihre Strahlen färbten den Himmel in gelb, orange und rot und weckten den Anschein, als würde der Himmel brennen. Tonya liebte Sonnenuntergänge, aber heute hatte sie keinen Blick für die Schönheit dieses Naturschauspiels. Sie lag zwar auf dem Bett mit Blick hinaus auf den Himmel, aber ihre Gedanken waren weit weg.
Jetzt erst erinnerte sie sich an Hendriks Angebot, sie am nächsten Morgen zu ihrer Mutter zu begleiten. Er hatte ihr also nicht verboten, ihre Familie zu sehen, nur eben nicht zu diesem Zeitpunkt. War sie wirklich gefährdet? Sie glaubte nicht so wirklich an die Rudellosen. Die Grenze zum Niemandsland war durchgängig geschützt. Wächter des Rudels waren entlang der Grenze immer unterwegs und das auch im Bereich der Unterstadt.
Warum also sorgte sich Hendrik um ihre Sicherheit? Klar, sie war seine Mate. Er hatte sie diesbezüglich also nicht angelogen. Seit ihrem Geburtstag konnte sie dieses Band leider viel zu deutlich spüren. Ebenfalls klar, dass er für seine Mate die höchst mögliche Sicherheit wünschte. Aber sie war kein kleines schwaches Mädchen, und sie wollte auch nicht so behandelt werden.
Warum also hatte er ein Problem damit, sie zu ihrer Mutter zu lassen. Schließlich war sie nicht alleine unterwegs, sondern brav in Begleitung ihrer Bodyguards Ben und Bodo. Zu dritt hätten sie durchaus eine Zeitlang gegen Rudellosen kämpfen können, bis Verstärkung da gewesen wäre. Tonya seufzte. Es konnte doch wohl nicht sein, dass Hendrik aus dem Rudel selbst, also von den Rudelmitglieder aus der Unterstadt Gefahr für sie vermutete, oder doch?
Sie hatte in der Vergangenheit einigen Klassenkameraden empfindlich eine auf Maul gegeben, wenn diese sich ungebührlich und frech Schwächeren gegenüber verhalten hatten, aber keiner dieser Jungs hegte jetzt noch Groll auf sie. Oder täuschte sie sich da?
Tonyas Gedanken drehten sich. Sie versuchte sich an alle Situationen zu erinnern, die vielleicht dazu geeignet gewesen wären, sich dauerhaft Feinde zu machen. Ihr wollte keine solche Situation einfallen. Komischerweise war sie genau mit den Jungs, denen sie eine verpasst hatte, im Nachhinein am besten klargekommen.
Sie war nicht nachtragen, das war sie noch nie gewesen und die Jungs kannten nun ihre Grenzen. Natürlich hatten sie sich weiterhin gefetzt, verbal im Unterricht. Natürlich hatten sie weiterhin heftige Trainingskämpfe. Tonya war nie zimperlich und auch nicht wehleidig und die Jungs mussten ihr gegenüber keine Samthandschuhe anziehen. Aber danach saß Tonya zwischen ihnen und hatte mit ihnen diskutiert, gleichberechtigt.
Über all diesen Gedanken war Tonya schließlich eingeschlafen.
Tonya brauchte einige Zeit, um richtig wach zu werden. Sie hatte tief und fest geschlafen. Sie hatte sich so herrlich geborgen gefühlt. Irgendwie wurde es plötzlich kühl in ihrem Rücken und genau das war es, was sie schließlich aufweckte. Sie drehte sich, drückte ihr Gesicht schlaftrunken in das Kissen und wickelte die Bettdecke fest um ihren Oberkörper. Irgendetwas fehlte. Irritiert schlug Tonya die Augen auf und setzt sich auf.
Moment mal. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie hatte sich am Abend doch nur mit einem Handtuch begleitet auf das Bett gelegt. Und jetzt hatte sie einen Slip an und ein T-Shirt und lag unter der Bettdecke. War sie nochmals aufgestanden, hatte sich angezogen und dann ins Bett gelegt? Warum konnte sie sich dann nicht mehr daran erinnern?
Sie schnüffelte. Hendrik. Sie roch Hendrik. Sie roch seinen Duft auf dem Kissen. Sie roch seinen Duft an ihrem T-Shirt. Sie roch seinen Duft an der Bettdecke. Er war in ihrem Zimmer gewesen, gestern, aber da war sie noch im Badezimmer eingeschlossen gewesen. Wie aber kam sein Duft in ihr Bett? Hatte er ...?
Auf einen Schlag war Tonya hellwach. Er war hier gewesen. Die ganze Nacht? Hatte er sie angezogen? Warum war sie nicht aufgewacht? Hatte sie in seinen Armen geschlafen? Warum hatte sie das nicht bemerkt? Sie hatte schon lange nicht mehr so tief und fest geschlafen, und so entspannt und sich so wohl im Schlaf gefühlt wie vergangene Nacht.
‚Yani', rief sie wütend.
‚Was denn', fragte Yani treuherzig und gähnte.
‚War er hier?', fragte sie knurrend.
‚Ja, und das könntest du jede Nacht so haben', murmelte Yani glücklich und entspannt.
‚Klappe', fauchte Tonya.
‚Entspann dich', maulte Yani nun. ‚Du kannst nicht leugnen, dass du noch nie so gut geschlafen hast. Das hast du ihm zu verdanken.'
‚Halte dich zurück, Yani, wenn du nicht willst, dass ich dich ...', knurrte Tonya.
‚Ja, ja, wenn ich nicht will, dass du mich aussperrst', unterbrach Yani spöttisch. ‚Du bist doch so für die Wahrheit? Wann fängst du an, ehrlich zu dir selbst zu sein? Und Tschüss.'
Schnell hatte sich Yani zurückgezogen. Tonya atmete schwer. Verflixt. Yani hatte ja Recht. Ja, sie hatte wunderbar geschlafen. Ja, sie hatte sich wohl gefühlt. Ja, er beschäftigte ihre Gedanken und ihre Gefühle mehr als ihr lieb war. Ja, ja, ja. Aber er war auch derjenige, der sie entführt hatte, der zugelassen hatte, dass man sie wie ein Paket verschnürte und der sie wie eine Gefangene eingesperrt hatte und sie immer noch wie eine Gefangene behandelte.
Sie würde es ihm nicht leichtmachen. Auch wenn sie dieses dämliche Mateband viel zu deutlich spürte und sich immer und immer wieder bei den Gedanken ertappte, wie es wohl wäre, wenn ihre Hände über seine starken Muskeln.... Stopp. Nicht schon wieder.
Tonya schüttelte heftig den Kopf und floh ins Badezimmer.
Als Hendrik Tonyas Zimmer betrat, war es leer. Aber er hörte im Badezimmer Wasser laufen. Abwartend setzte er sich in einen der beiden Stühle neben dem kleinen Tischchen und wartete.
Tonya bemerkte ihn nicht sofort, als sie das Badezimmer verließ. Doch als sie ihn entdeckte, blieb sie wie erstarrt stehen. Sie atmete erleichtert auf, dass sie ihre Kleidung gleich mit ins Bad genommen und sich dort auch angezogen hatte. Der Gedanke, sie könnte jetzt splitternackt vor ihm stehen, ließ sie erröten. Sie hatte den Kopf gesenkt, deswegen konnte sie das leichte Lächeln um Hendriks Mund nicht sehen.
„Bist du fertig?", fragte er jetzt und Tonya starrte ihn fragend an.
Er betrachtete sie vom Scheidel bis zur Sohle und man sah ihm an, dass ihm das, was er sah, außerordentlich gut gefiel.
„Schuhe fehlen noch", grinste er.
Da Tonya immer noch unbeweglich dastand, ging Hendrik zu ihrem Kleiderschrank, suchte ein paar bequeme Sneakers heraus und reichte sie ihr. Widerspruchslos zog sie die Schuhe an.
„Schön", freute sich Hendrik. „Dann können wir los."
Er griff Tonyas Hand und zog sie hinter sich her, die Treppe hinunter in die Küche.
„Hast du alles hergerichtet?", fragte er Mara freundlich.
„Ja, Alpha", nickte sie. „Milo hat die beiden Boxen bereits in dein Auto gebracht."
„Sehr gut. Danke. Dann bis heute Abend."
Ohne Tonyas Hand loszulassen, verließ er das Haus und ging zu seinem Geländewagen, den Milo abfahrbereit vor dem Haus geparkt hatte. Milo hatte sogar bereits die Beifahrertür einladend geöffnet. Sanft schob Hendrik Tonya zum Auto, wartete bis sie saß und sich angeschnallt hatte, dann ging er ums Auto herum.
„Ihr habt frei bis nach der Mittagspause." Er nickte kurz Milo zu, stieg ein und fuhr los.
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Gehorche, Tonya.
مستذئبTonya wächst nur mit Brüdern auf und verbringt auch sonst ihre Zeit fast nur mit Jungs. Sie wird bald volljährig, aber einen Mate lehnt sie grundsätzlich ab. Ausgerechnet für sie hatte die Mondgöttin den jungen Alpha des Rudels vorgesehen, der si...